Z Orthop Ihre Grenzgeb 2005; 143(1): 10-11
DOI: 10.1055/s-2005-864770
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Sollen Ingenieure oder Mediziner das Schleudertrauma begutachten?

Further Information

Publication History

Publication Date:
08 March 2005 (online)

 
Table of Contents
Zoom Image

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer

Bei der Begutachtung von Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule (so genanntes Schleudertrauma) wird dem Ausmaß der Gewalteinwirkung seit einiger Zeit mehr Bedeutung beigemessen, als dem eigentlichen medizinischen Geschehen. Grundlage sind umfangreiche Untersuchungen aus Versuchen an Freiwilligen, unter anderem unter Simulationsbedingungen eines Unfalles (Castro und Mitarbeiter, 1997, 1998). Im Rahmen dieser Untersuchungen wurden u.a. Heckanstöße mit Pkw und Autoskooter verursacht. Dabei ging es in erster Linie um die Frage, ob klinische und kernspintomographische Veränderungen an der Halswirbelsäule nach einem Pkw-Heckanstoß bei einer Geschwindigkeitsänderung in der Größenordnung von 10-15 km/h nachweisbar sind. Ein Ergebnis aus dieser interdisziplinären Studie bestand darin, dass bis zu einer Geschwindigkeitsänderung von 11 km/h von keinem der Freiwilligen Beschwerden angegeben wurden. Aufgrund dieser Ergebnisse wäre zu folgern, dass ein HWS-Schleudertrauma in der Regel bis zu einer Geschwindigkeitsänderung von 10 km/h auszuschließen ist.

#

Entscheidung nach technischer Analyse

Diese Ergebnisse haben dazu geführt, dass Gutachten schon im Vorfeld entschieden wurden, wenn Ingenieure feststellten, dass der Aufprall nur gering war und somit rein rechnerisch keine Verletzungen an der Halswirbelsäule entstehen konnten. Die nachträgliche technische Analyse der Unfallfahrzeuge wurde zum Hauptgegenstand der Begutachtung. Die Folgen waren zahlreiche Klagen und Gerichtsverfahren, weil der medizinische Sachverhalt nicht berücksichtigt wurde. Die retrospektive Unfallanalyse durch Ermittlung der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung des Fahrzeugs beschreibt die Belastung der Halswirbelsäule während des Unfalls nur unvollständig (Oppel, 2004).

Änderungen der Beurteilung ergeben sich trotz geringer Aufprallgeschwindigkeit, wenn sich die Halswirbelsäule bei der Kollision nicht in Mittelstellung, wie bei den Versuchen, sondern in Rotations- oder Seitneigungsstellung befand. Auch Vorschäden der Halswirbelsäule erfordern eine differenzierte Beurteilung. Schließlich kann ein erfahrener Gutachter anhand der Schilderungen des Patienten und dem Verhalten der erstbehandelnden Ärzte ermitteln, ob ein verletzungskonformer Verlauf vorlag.

#

Kopfhaltung zum Kollisionszeitpunkt

Die Toleranzbreite der Halswirbelsäule für Beschleunigungseinwirkungen mit Pendelbewegungen des Kopfes ist bei einer Ausgangsstellung mit Seitneigung und/oder Rotation geringer als in Funktionsmittelstellung. Diese Situation ergibt sich, wenn die Betroffenen zum Kollisionszeitpunkt zur Seite geschaut haben. Bei einer Seitneigung oder Rotationsausgangsstellung sind die Weichteile, insbesondere die Wirbelgelenkkapseln vorgespannt, so dass ein Zusatzimpuls eher zu Verletzungen, d.h. Distorsionen führen kann, als in Mittelstellung.

#

Vorschäden und Unfallfolgeschäden

Wenn ein Trauma eine degenerativ veränderte Halswirbelsäule trifft, so werden in erster Linie die am meisten vorgeschädigten Segmente verletzt. Degenerativ gelockerte und somit instabile Bewegungssegmente sind äußeren Einwirkungen gegenüber äußerst empfindlich. Die schmerzempfindlichen neuralen Elemente im Wirbelkanal in den Foramina intervertebralia und in den Wirbelgelenkkapseln sind im degenerativ instabilen Bewegungssegment nicht so geschützt, wie bei normalen Bandscheiben. Reflektorische Ausgleichsbewegungen und Muskelkontraktionen, wie sie bei unvorhergesehenen traumatischen Einwirkungen ausgelöst werden, können Nervenreizungen und Schmerzen auch bei geringgradigen Einwirkungen entstehen lassen. Die Beschleunigungsverletzung hat in diesen Fällen eine vorübergehende, nicht richtunggebende, d.h. zeitlich abgrenzbare Verschlimmerung eines unfallabhängigen Leidens hervorgerufen. Die insgesamt gleich bleibende Gesamt-MdE (GdB) muss, je nach zeitlichem Abstand vom Unfall, in unterschiedlich gestaffelte, unfallabhängige und unfallunabhängige Anteile gegliedert werden. Der rein unfallbedingte Anteil nach leichten bis mittelschweren Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule (Schweregrad I und II) erreicht nach kurzem Intervall nach dem Unfall ein Beschwerdemaximum, das nach einigen Wochen, maximal nach 3 Monaten, wieder abklingt. Es handelt sich um ein Crescendo und Decrescendo der Symptomatik (Schröter, 2004). Weiter ansteigende Beschwerden mit monate- bzw. jahrelangen chronisch-rezidivierenden Schulter-/Nackenschmerzen sind eher auf den unfallunabhängigen Vorschaden zurückzuführen.

Die gesetzliche Unfallversicherung ist für den unmittelbaren Zeitraum nach der Verletzung der Unfall in vollem Umfang für die Arbeitsunfähigkeit verantwortlich zu machen (Alles-oder-Nichts-Gesetz), bis nach maximal drei Monaten die unfallunabhängige Komponente des Vorschadens überwiegt. In der privaten Unfallversicherung ist von vorneherein ein Mitwirkungsanteil unfallfremder Faktoren zu berücksichtigen.

#

Verletzungskonformer Verlauf

Der Verlauf beim posttraumatischen Zervikalsyndrom entspricht dem eines akuten Zervikalsyndroms auf rein degenerativer Basis. Es treten Nacken-/ Hinterkopfschmerzen mit schmerzhafter Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule und, je nach Ausmaß der Gewalteinwirkung, Ausstrahlungen in die Arme oder den Hinterkopf auf. Die klinische Untersuchung erfolgt durch vorsichtige Bewegungsprüfung mit segmentaler, manueller Diagnostik. Für den verletzungskonformen Verlauf ist bei späterer Begutachtung der ärztliche Erstbefund unmittelbar nach dem Unfallereignis und die Verhaltensweise von Arzt und Patient von Bedeutung. Da die Aufzeichnungen der erstbehandelnden Ärzte oft äußerst dürftig sind, kann man nur aufgrund der tatsächlich verordneten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen auf ein vorhanden gewesenes Beschwerdebild schließen. Dazu zählen u.a. Anfertigungen von Röntgenaufnahmen (Strahlenbelastung), Verordnung schmerzstillender und entzündungshemmender Medikamente mit den bekannten Nebenwirkungen und ggf. lokale Infiltrationen und manuelle Therapie, ebenfalls mit den bekannten Risiken. Ein Arzt wird in der Regel diese Maßnahmen nicht veranlassen, wenn Anamnese und Untersuchungsbefund nicht adäquat sind.

Für die Kausalitätsbetrachtung sind Vorschäden, Unfallmechanismus, Unfallschwere, subjektive Beschwerden und objektivierbare klinische Untersuchungsbefunde mit nachfolgender Symptomatik und ärztlichem Verhalten in Einklang zu bringen. Ein verletzungskonformer Verlauf muss nachvollziehbar sein.

#

Posttraumatische Belastungsstörung

Unabhängig vom verletzungskonformen Verlauf auf rein somatischer Basis ist ein eventueller psychischer Schaden durch das Unfallereignis als so genannte posttraumatische Belastungsstörung (Thomann und Rauschmann, 2004). Diese Bezeichnung wurde erst innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte in die internationalen diagnostischen Manuale aufgenommen. Die Untersuchungen zeigen, dass es sich bei den verschiedenen Störungen nicht um eine einheitliche Krankheitsentität handelt. Psychische Reaktionen nach Unfällen werden nur zu einem geringeren Teil durch das Ereignis an sich verständlich. So zu werten sind auch die Ergebnisse der im Jahr 2001 von Castro und Mitarbeitern veröffentlichen Studie, in der 51 Probanden eine Heckkollision vorgegaukelt wurde. 20% der gesunden Probanden hatten nach 3 Tagen Beschwerden in der Kopf-/ Nackenregion, die bei 10% der Probanden auch nach 4 Wochen noch persistierten. Bei diesem Personenkreis handelte es sich um freiwillige Probanden, die versicherungsrechtliche Ansprüche nicht geltend machen konnten.

Von Anfang an rein psychische Beschwerden lassen sich jedoch durch eine professionelle Befragung und Untersuchung mit manueller Untersuchungstechnik von somatischen Unfallfolgen unterscheiden.

#

Schlussfolgerungen

Die retrospektive Unfallanalyse durch Ermittlung der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung des Fahrzeugs (Delta-V) anhand der Schäden an den beteiligten Fahrzeugen ist für die Begutachtung bei der Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule allein nicht maßgebend. Die Kopfhaltung im Moment des Aufpralls, degenerative Vorschäden und verletzungskonformer Verlauf stellen wesentliche Begutachtungskriterien dar.

Beschleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule haben einen gutartigen Verlauf. Charakteristisch ist eine Zunahme von Nackenschmerzen bis zu einem Beschwerdemaximum mit anschließender allmählicher Abnahme der Beschwerden über mehrere Wochen, maximal bis zu 3 Monaten. Offen bleibt die Frage, ob andauernde psychisch bedingte posttraumatische Belastungsstörungen bei sonst fehlenden unfallbedingten somatischen Befunden entschädigt werden sollten.

Literatur beim Verfasser

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer

Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik, Bochum

 
Zoom Image

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer