Z Orthop Ihre Grenzgeb 2005; 143(1): 14-15
DOI: 10.1055/s-2005-864773
Orthopädie aktuell

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Rückenschmerz und Arbeit - Weiter arbeiten

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Publication Date:
08 March 2005 (online)

 
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Anlass für diese aktuelle Aussage sind die Ergebnisse des 4. Symposiums des Bochumer Rückenschmerzzentrums, das als Veranstaltung zum Jahrzehnt der Knochen und Gelenke am 12. Februar 2005 stattfand.

Teilnehmer waren neben Orthopäden, Psychologen und Schmerztherapeuten auch Vertreter der Krankenkassen und Berufsgenossenschaften.

Zunächst wurde festgestellt, dass Rückenschmerzen entsprechend der Punkt- und Jahresprävalenz eine Volkskrankheit darstellen und somit die Kombination Rückenschmerz und Arbeit häufig ist. Aber entsteht auch Rückenschmerz durch Arbeit?

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Kein belastungstypisches Schadensbild

Diese Frage sollte die Berufskrankheitenverordnung BKV 2108-2110 regeln, die 1993 als Wiedervereinigungsgeschenk aus der DDR übertragen wurde. Schon damals warnten die meinungsbildenden Orthopäden der damaligen DGOT davor, dass man anlagebedingte Schäden an der Wirbelsäule schlecht von erworbenen, ggf. arbeitsbedingten Überlastungserscheinungen unterscheiden kann. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass sich längeres Sitzen in so genannte leichten Berufen eher negativ auf die Wirbelsäule auswirkt als sog. schwere körperliche Arbeiten. Die folgenden Jahre haben dann auch gezeigt, dass es ein belastungstypisches Schadensbild, etwa die Bauarbeiterwirbelsäule, nicht gibt.

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Belastungskonformes Schadensbild

Die in vielen Studien immer wieder herangezogenen spondylotischen Ausziehungen und Osteochondrosen im Röntgenbild sind nicht gleichbedeutend mit bandscheibenbedingter Erkrankung, die in der BKVO gefordert wird. Unstimmigkeiten gab es auch darüber, in welchem Abschnitt der Lendenwirbelsäule die Berufserkrankung Wirbelsäule nun zu erkennen sein soll und welche Rolle konkurrierende Erkrankungen, wie M. Scheuermann, Spondylolisthese und Skoliose, spielen. Weiterhin war unklar, was noch als leichte, wenig leistungseinschränkende Wirbelsäulenerkrankung gilt und wo die rentenfähige MdE mit Zwang zur Unterlassung der angeblich schädigenden Berufsarbeit anfängt. Da die meisten Rückenschmerzen unterhalb der Grenze einer rentenfähigen MdE liegen und schwer und Schwerstarbeit heute kaum noch üblich ist (< 5% aller beruflichen Tätigkeiten), kam es bei einer Flut von Anträgen zur BK 2108 nur zu einer Anerkennungsrate von 3%. Wegen der Unklarheiten in der Verordnung folgten dementsprechend zahlreiche Gutachten und Gerichtsverfahren.

Die Unstimmigkeiten sollten auf einer Konsensuskonferenz zwischen Arbeitsmedizinern, Orthopäden, Psychologen und Vertretern der Berufsgenossenschaften beseitigt werden. Von orthopädischer Seite waren beteiligt: Grasshoff (Magdeburg), Krämer (Bochum), Schmitt (Frankfurt), Schröter (Kassel), Rompe (Heidelberg), Weber (Freiburg). Man einigte sich darauf, dass es zwar kein belastungstypisches jedoch ein belastungskonformes Schadensbild gibt. Die Befunde in den bildgebenden Verfahren müssen mit klinischen Symptomen korrelieren. Eine rentenfähige MdE mit Unterlassungszwang gilt nur für Schwerarbeiter mit erheblichen bandscheibenbedingten Beschwerden in der Regel chronisch rezidivierende Nervenwurzelkompressionssyndrome. Für die meisten Arbeitnehmer kommt die BK 2108-2110 wegen der fehlenden Zugehörigkeit zu den schwer arbeitenden Berufsgruppen und wegen der Geringgradigkeit der Beschwerden nicht infrage.

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Aktivität ist besser als Schonung

Im Umgang mit bandscheibenbedingten Erkrankungen der Wirbelsäule ist in den letzten Jahren ein Wandel eingetreten. Früher hieß es bei "Hexenschuss und Ischias": Schonung, Bettruhe. Heute weiß man, dass es besser ist, aktiv zu bleiben und den täglichen Verrichtungen nachgehen. Grundlage für diese Feststellung sind prospektiv randomisierte Studien mit Vergleichen von Patienten, die ruhiggestellt wurden durch Bettruhe und Schonung und solchen, die weiter aktiv blieben. Der Aktivgruppe ging es nach 6 Wochen und weiteren Kontrollterminen wesentlich besser als der Gruppe mit Schonung und Bettruhe.

Das Motto für die meisten Menschen mit Rückenschmerzen heißt also: weiter arbeiten, allerdings mit gewissen Vorbeugungsmaßnahmen, die auch in der BK vorgesehen sind, allerdings dort nur für die schwer arbeitenden Berufsgruppen. Im Prinzip gelten sie für alle Arbeitnehmer:

  • Ergonomisch optimierte Arbeitsplätze

  • Hebe- und Tragehilfen

  • Rückenschule am Arbeitsplatz

  • Bewegungspausen

  • Angebot für Sport und Gymnastik

Zu den speziellen Schutzmaßnahmen gehören individuelle Sitzvorrichtungen, Stehpulte, ambulante Physiotherapie und Rehamaßnahmen sowie fachärztliche Verordnung ggfs. Rumpforthesen.

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Sonderfall psychosoziale Faktoren - Schlussstrich

Trotz der Regelungen und Präventivmaßnahmen gibt es Arbeitnehmer sowohl in Berufsgruppen mit leichter als auch in solchen mit schwerer Arbeit, die wegen ihrer Rückenschmerzen wiederholt und langdauernd arbeitsunfähig sind. Nach entsprechenden ärztlichen Untersuchungen liegt meist für die Berufserkrankung keine rentenfähige MdE vor und für die Rentenversicherung keine Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. In der Regel sind in diesen Fällen die Rückenschmerzen durch psychosoziale Faktoren bestimmt (gelbe Flagge). Die subjektiven Beschwerden entsprechen nicht dem Organbefund, so dass die Voraussetzungen für eine AU, BU, EU oder BK mit Unterlassung nicht gegeben sind. Gemeinsamer Nenner dieser Patienten ist die Aussage: "Nichts hat bisher geholfen". Von ärztlicher Seite wird geäußert, dass alle therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen ohne Erfolg blieben. Somit ist bei diesen Rückenschmerzpatienten mit einer Wiederaufnahme einer geregelten beruflichen Tätigkeit aufgrund der Beschwerden nicht zu rechnen. Die Empfehlung in diesen Fällen lautet: Nach Fachgutachten mit regelmäßigen Kontrollen: Alle weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen für die Wirbelsäule einstellen, bis auf Schmerztherapie und Bewilligung eines vorübergehenden, ggf. dauerhaften Lebensunterhaltes aus öffentlichen Mitteln durch Zusammenschluss von Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Sozialamt.

Auf diese Weise werden dem Betroffenen und der Gemeinschaft der Versicherten weitere diagnostische, therapeutische und rehabilitative Maßnahmen erspart. Die Problematik besteht zurzeit noch darin, dass Patienten mit Rückenschmerzen auf psychosozialer Grundlage zwischen Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung mit Rente auf Zeit und anderen vorübergehenden Maßnahmen hin und hergeschoben werden, mit allen Versuchen durch ambulante und stationäre Maßnahmen ggf. weiteren Operationen eine berufliche Wiedereingliederung zu bewirken.

Die Empfehlung zur Einstellung weiterer diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen für die Wirbelsäule erfordert eine fachgerechte, individuelle Beurteilung unter Berücksichtigung der Organbefunde und der psychosozialen Faktoren.

Prof. Dr. med. Jürgen Krämer

Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik, Bochum