Die Bevölkerung hat mehr Angst vor E-Nummern als vor Überernährung
Der aktuelle Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. zeigt,
dass sich das Ernährungsverhalten der Bevölkerung trotz jahrzehntelanger Aufklärung
noch immer nicht nachhaltig verbessert hat. Die Alkohol- sowie Fettaufnahme ist zu
hoch und die Nahrungsfaserzufuhr ist zu gering. Die Cholesterinaufnahme der Frauen
liegt im Normalbereich, während Männer noch zu viel Cholesterin aufnehmen. Die Menschen
sind hierzulande zunehmend verwirrt wenn es um die Ernährung und das Essen geht. Anstatt
die Botschaften der wissenschaftlich agierenden Ernährungsfachkräfte aufzunehmen und
umzusetzen, dass beispielsweise Gemüse und Obst wichtig für eine gesundheitsförderliche
Ernährungsweise sind, bleibt bei ihnen vielmehr die Nachricht haften, dass Paprika
aus Spanien schadstoffbelastet ist. Die Bevölkerung hat mehr Angst vor E-Nummern als
vor der Über- und Fehlernährung. Die Kluft zwischen den von Experten und der Bevölkerung
eingeschätzten Ernährungsrisiken nimmt zu. Aber wer ist für diese Situation verantwortlich
zu machen oder ist die Bevölkerung einfach nur somnambul?
Kritisch ist insbesondere die Widersprüchlichkeit von ernährungsmedizinischen und
ernährungswissenschaftlichen Aussagen. Momentan sprechen wir zu selten mit einer Sprache
und unsere Argumentation geht viel zu oft an den Menschen vorbei. Wir müssen akzeptieren,
dass das Ernährungsverhalten vorwiegend emotional bestimmt ist. Es ist leichter, falsche
Nachrichten wie »Süßstoff macht dick« als die für die Medien langweiligen Nachricht
»Süßstoffe können bei der Gewichtsreduktion helfen« zu kommunizieren.
In der Diätetik muss in vielen Bereichen ein Paradigmenwechsel erfolgen, um die ernährungsmedizinischen
Erkenntnisse an den Patienten heranzutragen. Es ist obsolet, einen Patienten mit dekompensierter
Leberzirrhose grundsätzlich proteinarm oder einen Patienten mit Dyslipidämie fettarm
zu ernähren. Vielmehr benötigt ein Leberzirrhotiker im Rahmen seiner individuellen
Proteintoleranz eine relativ erhöhte Proteinzufuhr und gegebenenfalls zusätzlich verzweigtkettigte
Aminosäuren. Ein Dyslipidämiker benötigt eine fettmodifizierte Kostform, die Lein-,
Raps- oder Walnussöl einschließt, um zu einer optimierten Fettsäurezufuhr - insbesondere
zum Ausgleich des allgemein bestehenden Ungleichgewichtes von Omega-3- zu Omega-6-Fettsäuren
- zu gewährleisten. In der diätetischen Therapie kommt dem Perillaöl im Zusammenspiel
mit einer täglich adäquaten Zufuhr natürlicher Antioxidantien - nicht nur für Diabetiker
- eine große Bedeutung zu, um vor Endothelschäden und damit schließlich auch vor dem
Myokardinfarkt schützen zu können.
Gerade in der diätetischen Therapie ist das therapeutische Team von zunehmender Bedeutung.
Es bleibt zu hoffen, dass an der Universitätsklinik Aachen zum Wintersemester 2005
der berufsbegleitende Masterstudiengang Master of Nutrition installiert wird. Die
Mitglieder des diättherapeutischen Teams müssen durch Fortbildung gleichberechtigt
in Anordnung und Ausführung der therapeutischen Leistung Diätberatung werden. Gerade
in der Ausbildung im Bereich Diätetik sind noch zu große Unterschiede oder extreme
Lücken festzustellen.
Die Aufgabe des dritten Jahrtausends wird in der Bekämpfung der Überernährung liegen.
In der diätetischen Adipositastherapie ist ein Paradigmenwechsel zu erwarten, der
zu einer Neubewertung der Proteine führt. In jedem Falle werden Aminosäuren zur Prophylaxe
und Therapie von KHK und Depressionen sowie Proteine überhaupt in Zukunft einen Schwerpunkt
der Ernährungsmedizin einnehmen. Adipositas muss auch vermehrt als endokrinologische
Störung und entzündliche Erkrankung wahrgenommen werden. Hier fehlt es an schlüssigen
Konzepten, die neben der dauerhaften Ernährungsumstellung aus dem Dilemma des sitzenden
Lebensstils zu einem bewegten Alltag hin führen. Bei der Übergewichtsbekämpfung spielen
Nahrungsfasern eine bedeutende Rolle, denn abnehmen kann nur wer satt is(s)t. Sättigung
fängt im Magen an und endet im Hunger-Sättigungszentrum. Ungeklärt ist noch immer,
ob der richtige diätetische Weg von vielen kleinen Mahlzeiten hin zu drei sättigenden
größeren Mahlzeiten läuft. Zunehmend müssen wir Ernährungsmärchen und -mythen entzaubern
und den langen Weg von der rationalen Vermittlung hin zur partnerschaftlich emotionsorientierten
und lebenslangen Begleitung beschreiten. Sonst müssen unsere Bemühungen scheitern
und eine weitere unzureichende Veränderung des Ernährungsverhaltens im Ernährungsbericht
2008 ist schon heute vorauszusagen.
Sven-David Müller-Nothmann