Evidenzbasierung ist eine mittlerweile unbestrittene Forderung an alle Bereiche psychiatrischer Therapie. Diese geht über einzelne therapeutische Ansätze wie psychopharmakologische oder -therapeutische Verfahren hinaus, und schließt komplexe Interventionen insbesondere sozialpsychiatrischer Provenienz ein [1].
Cochrane-Reviews legen mit ihren Metaanalysen zu randomisierten kontrollierten Studien (RCTs), an deren Einbeziehung hohe Qualitätsmaßstäbe angelegt werden, die gegenwärtig höchste Stufe in Evidenzhierarchisierungen vor [2] - und zwar auch für gemeindepsychiatrische Versorgungsangebote. Dabei differiert die Anzahl von RCTs, auf die in den einzelnen Reviews zurückgegriffen werden kann, deutlich. Sie reicht von fehlenden Studien zu betreuten Wohnformen [3], drei Studien zu Tagesstätten [4], neun Studien zu akutpsychiatrischer Tagesklinikbehandlung [5], zehn Studien zu intensive (oder clinical) case management [6] bis zu 18 Studien zu supported employment [7] sowie 20 Studien zu assertive community treatment [8].
In den letzten Jahren wurden insbesondere auf europäischer Ebene mehrere, meist noch nicht abgeschlossene multizentrische RCTs zu verschiedenen dieser komplexen Interventionen durchgeführt [9], was den nächsten forschungspraktischen, aber auch methodischen Schritt in der Durchführung von RCTs markiert.
Parallel zu dieser Entwicklung ist die Debatte über den Stellenwert dieses Forschungsdesigns kontrovers. Dabei stellt die ethische Anforderung, RCTs zu klinisch bedeutsamen und bislang unbeantworteten Forschungsfragen durchzuführen, um klare Aussagen für die Einführung solcher Verfahren vorzulegen, den einen Argumentationspol dar [10]. Dem stehen Feststellungen gegenüber, dass die Durchführung solcher Studien im Gebiet der psychiatrischen Versorgungsforschung die Position der Pharmakotherapie (als einer standardisierten und gut definierten Intervention) stärkt und zu verzerrten „evidenzbasierten” Empfehlungen führt [11].
Dies bedarf dringend einer Versachlichung, die hier versucht wird. Denn nur vor dem Hintergrund allgemeiner methodischer Anforderungen an klinische Studien sowie der Limitierungen und Vorteile des RCT-Designs kann dessen methodischer Stellenwert für die psychiatrische Versorgungsforschung eingeordnet werden. Und nur ausgehend von einer solchen Analyse lassen sich Vorschläge zu alternativen oder verbesserten forschungsmethodischen Vorgehensweisen vorlegen.
Für die Erarbeitung und Bewertung eines potenziellen Designs einer klinisch vergleichenden Studie von psychiatrischen Behandlungsinterventionen ist die Rückbesinnung auf diesbezüglich etablierte Prinzipien angebracht. Diese lassen sich wie folgt stichpunktartig zusammenfassen [12]: Definition von nicht mehr als zwei Outcomekriterien, Konzentration auf die Einholung von Follow-up-Informationen über alle (randomisierten) Patienten zu wenigen Untersuchungszeitpunkten, multizentrische Studiendurchführung (wenn irgend möglich), möglichst weite Definition von Einschlusskriterien, Durchführung von Powerkalkulationen und Rekrutierung von wenigstens 100 Probanden in jede Behandlungsgruppe, Festlegung der Analysestrategie vor Entblindung der Studiendatenbank, Verwendung statistischer Modellierungstechniken, die eine Analyse aller verfügbaren Daten ermöglichen, und keine Restriktion auf Probanden vornehmen, für die zu allen Follow-up-Zeitpunkten vollständige Informationen vorliegen.
Bezogen auf RCT-Designs werden deren Limitierungen seit Jahren in der Fachliteratur detailliert diskutiert, woraus auch klar erkennbar wird, dass deren Stilisierung zu einem Goldstandard nicht aus sachlich nachvollziehbaren Gründen erfolgt ist. So sind z. B. Situationen, in denen dieses Design nicht zu verwenden ist, klar ausgewiesen und umfassen [13]:
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experimentelles Vorgehen ist unangemessen (z. B. Einschluss atypischer Patienten);
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experimentelles Vorgehen ist unmöglich (z. B. aus ethischen oder rechtlichen Gründen, ablehnende Haltung potenziell teilnehmender Kliniker);
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experimentelles Vorgehen ist nicht durchführbar (z. B. seltene und in weiter zeitlicher Entfernung liegende Outcomevariablen);
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experimentelles Vorgehen ist überflüssig (z. B. dramatisches Nutzen-Risiko-Verhältnis).
Auch zu Nachteilen von RCTs insbesondere auf dem Gebiet der psychiatrischen Versorgungsforschung ist seit Jahren umfangreich publiziert worden, wobei folgende hervorzuheben sind [14]
[15]:
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Probleme der Festlegung des Randomisierungs-„Gegenstandes” (einzelner Patient, einzelner Behandler, klinische Einrichtung, Regionen etc.);
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Probleme, die randomisierte Zuweisung zu realisieren (z. B. wegen fehlender informierter Zustimmung);
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Probleme bezüglich Einwilligung in und langfristiger Motivation zur Studienteilnahme (z. B. aufgrund anderer Behandlungspräferenzen des Patienten);
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Probleme, eine Verblindung zu etablieren und aufrechtzuerhalten;
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Probleme, die sich auf verschiedene experimentelle Bedingungen beziehen (z. B. hohe Raten an Therapieabbrechern, Interaktionen zwischen Behandlungskomponenten, Durchführung in „Rolls-Royce-Institutionen”);
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Probleme, die Wirkfaktoren eines komplexen Behandlungsangebotes zu identifizieren.
Dem stehen folgende zentrale Argumente für die Implementierung von RCTs entgegen [16]:
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Im Hinblick auf die Evaluation von Behandlungseffekten werden prognostische Variablen zu Studienbeginn zwischen den Untersuchungsgruppen in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht (womit keinesfalls Freiheit von Bias behauptet wird).
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RCTs gehören zu einer größeren Klasse von qualitativ hochwertigen Studien, in denen prospektive parallelisierte Vergleiche auf der Basis eines definierten Studienprotokolls durchgeführt werden, das wesentliche Aspekte wie z. B. Beobachtungszeiten, Analyseverfahren etc. präzisiert.
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Es gibt einen internationalen Standard, das CONSORT-statement [17]
[18], der - wenn auch nicht bezogen auf alle Implementierungsprobleme [19] - klar definiert, wie über diese Studien zu berichten ist. Dies ermöglicht eine kriteriengeleitete Beurteilung der Qualität dieser Studien, wofür verschiedene „Checklisten” und Einteilungsversuche ebenfalls seit Jahren verfügbar sind [20]
[21].
Auf der Basis bisheriger Ausführungen lässt sich daher folgern, dass RCTs - trotz besserer Reputation insbesondere im Falle positiver Studienergebnisse [16] - lediglich die am wenigsten unbefriedigende Methode zur Evaluation von Behandlungsverfahren sind [15].
Deshalb wurden auch mehrere Vorschläge gemacht, die gerade im psychiatrischen Bereich auf eine Verbesserung dieses Designs zielen [15]. Inhaltlich richten sich diese darauf, bei der Einführung neuer nichtsomatischer Behandlungsverfahren die Genauigkeit ihrer Einhaltung über speziell entwickelte Instrumente und Manuale abzubilden. Am Beispiel von care und case management wird zudem terminologische Präzision bei der Studiendurchführung und -interpretation angemahnt. Deshalb sollten Herausgeber von Fachjournalen auch Publikationen ablehnen, die Outcomedaten von nicht publizierten Skalen beinhalten. Wissenschaftliche Schlussfolgerungen sollten auf Daten beruhen, die mit validierten Instrumenten an den Endpunkten der definierten Beobachtungszeiträume erhoben wurden.
Schließlich lassen sich nach aktuellem Kenntnisstand drei Möglichkeiten identifizieren, die geeignet erscheinen, die methodische Diskussion über Studiendesigns in der psychiatrischen Versorgungsforschung voranzubringen:
Bezogen auf RCTs selbst wird die Forderung erhoben, deren externe Validität zu verbessern [22], indem - die Anforderungen und Definitionen des CONSORT-statement [17] erweiternd - standardisiert über Faktoren berichtet wird, die die Generalisierbarkeit von Ergebnissen beeinflussen. Die Rubriken einer diesbezüglich kürzlich publizierten Itemliste umfassen [22]: Informationen zum Setting der Studie und zur Patientenauswahl, detaillierte Beschreibung von Charakteristika der randomisierten Patienten, Aufzeigen der Unterschiede zwischen Studienprotokoll und klinischer Routinepraxis, Detailinformationen zu Outcomemaßen und Follow-up-Untersuchungen.
Unter den Modifikationen des RCT-Designs ragen drei heraus. Zum einen Varianten, die die Behandlungspräferenz der Patienten berücksichtigen [23]. Dies kann erfolgen, indem ein Präferenzstudienarm, in den ebenfalls randomisiert wird, in ein Standard-RCT-Design inkludiert wird. Die zweite Möglichkeit ist die Verwendung eines Comprehensive-Cohort-Designs [24]. Hierbei wird ein Vergleich zwischen den randomisierten Patienten und einer Patientengruppe, die zwar die Studieneinschlusskriterien erfüllen, aber einer randomisierten Therapiezuteilung nicht zustimmten, vorgenommen. Die dritte Modifikation bezieht sich explizit auf die Problematik, dass innovative Versorgungsangebote nur auf der institutionellen Ebene eines Krankenhauses oder einer Praxis gemacht werden können, und schlägt eine Clusterrandomisierung von Gruppen dieser klinischen „Einheiten” vor.
Zudem ist der Einsatz alternativer Designs zu erwägen [25]. Insbesondere, wenn Routine-Outcome-Daten verfügbar sind, ist die Durchführung von CBA(controlled before and after)-Studien wahrscheinlich die beste Alternative zu Cluster-RCTs, um institutionell gebundene Interventionen zu evaluieren, für die Kontrollgruppen gebildet werden können, eine Randomisierung aber unmöglich oder nicht durchführbar ist. Sollte die Bildung einer adäquaten Kontrollgruppe nicht möglich sein, sind Längsschnittstudien durchzuführen, die allerdings gegenüber Effekten von Interventionen, die gleichzeitig zu der zu untersuchenden erfolgen, nicht robust sind.
Insgesamt lässt sich für die psychiatrische Versorgungsforschung daher folgendes Fazit ziehen: Die wissenschaftliche Bedeutung und die Qualität von RCTs bedürfen einer kritischen Einschätzung, sollten aber, insbesondere vor dem Hintergrund der aufgezeigten Verbesserungsmöglichkeiten, nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen werden. Viel bedeutsamer ist die Etablierung einer Diskussionskultur über den methodischen Standard empirischer Studien und dessen Weiterentwicklung. Dabei zwingt die Heterogenität gemeindepsychiatrischer Versorgungsangebote [26] dazu, einen Schwerpunkt auf die inhaltliche Erfassung kontextgebundener, resultatsbeeinflussender Faktoren zu legen.