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DOI: 10.1055/s-2005-866982
„Das Bessere ist immer der Feind des Guten”
Publication History
Publication Date:
08 September 2005 (online)

PiD: Herr Dr. Dahm, vielen Dank, dass Sie zu diesem Gespräch bereit waren. Wie bewerten Sie, aus der Sicht der vertragsärztlichen Versorgung, die Entwicklung der psychotherapeutischen Versorgung in den letzen zehn Jahren, vor allem seit dem Psychotherapeutengesetz und der Etablierung des Fachgebietes Psychotherapeutische Medizin?
Andreas Dahm: Durch das Psychotherapeutengesetz wurde eine Vielzahl von zusätzlichen Leistungserbringern in die ambulante Versorgung aufgenommen. Vor allem auch durch die Übergangsregelungen des Psychotherapeutengesetzes sind viele, die früher in der sog. Kostenerstattung tätig waren, auch in die reguläre Versorgung aufgenommen worden. Das hat zu einem enormen Zuwachs an Leistungserbringern geführt.
Die neuen Leistungserbringer mussten sich natürlich erst einmal in dieses für sie neue System eingliedern. Ich bin jedoch der Meinung, dass seit den sechs Jahren, seitdem das Gesetz in Kraft ist, diese Integrierung zunehmend gelungen ist. Deswegen würde ich auch das Fazit ziehen, dass sich seit dem PTG die ambulante Versorgung quantitativ und qualitativ verbessert hat.
Mit der Gebietsbezeichnung Psychotherapeutische Medizin jetzt Psychosomatische Medizin und Psychotherapie wurde vonseiten der Ärzte den Psychologischen Psychotherapeuten und den Kinder- und Jugendpsychotherapeuten als neuen eigenständigen Heilberufen natürlich auch ein geschärftes Profil einer Gebietsarztbezeichnung entgegengesetzt, wobei ich denke, dass sich an der Tätigkeit der bis dahin als ärztliche Psychotherapeuten Tätigen nicht so viel geändert hat. Es ist zwar zu einer Gebietsbezeichnung gekommen, aber das Leistungsspektrum ist nicht neu definiert worden im Hinblick darauf, was die ärztlichen Psychotherapeuten vorher getan haben. Sie haben natürlich eine zusätzliche Kompetenz im Bereich der Psychosomatischen Medizin und ggf., wobei dies eher die Psychiater betrifft, die auch psychotherapeutisch qualifiziert sind, zusätzliche psychiatrische Kompetenz.
Ist es aus Ihrer Sicht wünschenswert, dass sich der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie noch weiterentwickelt in Richtung auch psychosomatischer Kompetenzen, oder ist es ein gutes Modell, dass die ärztliche Psychotherapie ähnlich wie die psychologische Psychotherapie im Rahmen eines Fachgebietes erfolgt?
Ich halte grundsätzlich auch in Bezugnahme auf die vorhergehenden Aussagen eine Schärfung bzw. eine Deutlichmachung der Kompetenzen im Hinblick auf die beiden anderen Heilberufe Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten für durchaus wichtig, sodass man auch dokumentieren kann, dass es im ärztlichen Bereich diese spezielle Kompetenz gibt. Andererseits ist die Umbenennung des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin in Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie eine Abkehr von der bisher seitens der KBV und der in den Psychotherapierichtlinien vertretenen Auffassung, dass die psychosomatische Grundversorgung eigentlich eingeführt wurde, um eine psychosomatische Kompetenz in allen Gebieten der somatischen Medizin zu fördern. Dass man jetzt einen Facharzt geschaffen hat, der das Gebiet Psychosomatische Medizin und Psychotherapie vertritt, ist natürlich unter diesem Gesichtspunkt eine Abkehr von bestimmten Kriterien, die wir ursprünglich in den Richtlinien damit verfolgt haben.
Dies bedeutet nicht, dass die psychosomatische Grundversorgung aus den Richtlinien herausfällt, weil diese Kompetenz der psychosomatischen Grundversorgung in einzelnen Gebieten damit weiter bestehen bleibt. Ob allerdings der Facharzt für Psychosomatische Medizin im Hinblick auf die gebietsbezogenen psychosomatischen Störungen eine umfassende Kompetenz in dem Sinne erwerben kann oder besitzt, dass er all das abdecken kann, was an psychosomatischen Störungen in einzelnen Fachbereichen existiert, wage ich zu bezweifeln.
Das wäre eine andere Thematik. Noch mal auf die Situation der Konkurrenz der verschiedenen Anbieter zwischen den Psychologischen Psychotherapeuten und den ärztlichen Psychotherapeuten. Ist es denn richtig, sich Sorgen zu machen, dass die ärztliche Psychotherapie in den Hintergrund treten könnte? Denn die Versorgung durch die Psychologischen Psychotherapeuten nimmt sehr stark zu, wogegen, wenn ich die Zahlen richtig verstehe, die ärztliche Psychotherapie abnimmt. Ist es eine Entwicklung, die abzusehen ist, dass Psychotherapie Sache der Psychologen wird?
Wenn man die aktuellsten Zahlen zur Niederlassung in bestimmten Bereichen sieht, muss man feststellen, dass im Bereich der Psychotherapie in Bezug auf die ausschließlich tätigen Psychotherapeuten ein enormes Übergewicht der Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten vorhanden ist. Nach den aktuellen Zahlen von Ende 2003 gibt es ca. 11 500 niedergelassene Psychologische Psychotherapeuten, davon sind ca. 1200 Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, im Gegensatz zu 2500 ausschließlich oder überwiegend tätigen ärztlichen Psychotherapeuten. An diesen Zahlen können Sie feststellen, dass seit In-Kraft-Treten des Psychotherapeutengesetzes ein deutliches Übergewicht im niedergelassenen Bereich bei den Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten existiert.
Wird sich das weiter in diese Richtung entwickeln?
Das kann ich definitiv nicht sagen. Vergleicht man aber die Zeiten der Qualifizierung in Aus- und Weiterbildung, dann ist schon ein gewisses Ungleichgewicht festzustellen.[1] Gleichzeitig sind die qualifizierten Weiterbildungsstellen, wenn man sie mit den Stellen an den Ausbildungsstätten für die Psychologischen Psychotherapeuten vergleicht, quantitativ geringer. Im Hinblick auf die Entwicklung der nächsten Jahre muss man davon ausgehen, dass sich dieses Verhältnis nicht schlagartig ändern wird. Das Verhältnis wird sich eher weiter zugunsten der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten entwickeln.
Diese deutliche Verlagerung hin zur psychologischen Psychotherapie wird sich also weiterentwickeln und konsolidieren?
Das sieht man auch daran, dass der Gesetzgeber damals zum In-Kraft-Treten des PTG auf Intervention der ärztlichen Psychotherapeuten im Hinblick auf die Bedarfsplanung eine Sonderregelung geschaffen hat, die allerdings nur bis zum 31.12.2008 gilt, wonach die Niederlassung für ärztliche Psychotherapeuten in ansonsten von der Bedarfsplanung gesperrten Bereichen noch möglich ist, sofern ihr Anteil in dem Planungsbereich noch keine 40 % beträgt. Bei den Psychologen ist in diesen Bereichen keine Niederlassung mehr möglich. Durch die Bedarfsplanung sollten die weiteren Niederlassungsmöglichkeiten der ärztlichen Psychotherapeuten nicht verhindert werden. Es bleibt abzuwarten, ob diese Regelung über den 31.12.2008 hinaus weitergeführt wird. Aus meiner Sicht wäre dies sinnvoll.
Wie bewerten Sie die Psychotherapie in Deutschland, ganz besonders in Hinblick auf die EU-Ebene?
Aus meiner Sicht ist es unstrittig, dass beim Blick in internationale Publikationen und im Vergleich der Versorgungsbereiche in den EU-Ländern und weltweit, wir in der BRD die beste psychotherapeutische Versorgung haben. Die gesetzlich Krankenversicherten haben die Möglichkeit maximal z. B. bei einer analytischen Behandlung bis zu 300 Behandlungsstunden zulasten der gesetzlichen Krankenkassen ohne Zuzahlung (einmal abgesehen von der seit 2004 für alle GKV-Versicherten eingeführten Praxisgebühr) in Anspruch zu nehmen. Das ist einmalig in der Welt. Dies gilt auch für die qualitativen Gesichtspunkte, die durch das PTG geschaffen wurden. Z. B. im Vergleich zum PTG in Österreich haben wir einen höheren Qualitätsstandard.
Wird sich denn auf der EU-Ebene eher das deutsche oder das österreichische System durchsetzen?
Dazu kann ich zurzeit nichts Substanzielles sagen, da mir die Informationen fehlen. Ich kann Ihnen lediglich berichten, dass derzeit vor dem EU-Gericht eine Klage gegen die BRD anhängig ist, dagegen, dass die im Rahmen der Übergangsregelungen des Psychotherapeutengesetzes aufgenommenen Psychotherapeuten drei Jahre an der ambulanten Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherten in der BRD teilgenommen haben mussten, um eine bedarfsunabhängige Zulassung zu erhalten. D. h. es wird in diesem Punkt eine Ungleichbehandlung konstatiert, da man dadurch Psychotherapeuten aus anderen EU-Ländern nicht die Gelegenheit gegeben hätte, eine bedarfsunabhängige Zulassung im Rahmen dieser Übergangsregelungen zu erhalten.
Zurück noch einmal zu den Berufsgruppen: Wie gehen denn diese beiden konkurrierenden Berufsgruppen miteinander um? Gibt es Formen von Kooperation oder eher Gegensätzlichkeiten?
Durch das frühere Delegationsverfahren waren die Psychologischen Psychotherapeuten eigentlich schon gut in die Versorgung integriert, wenn auch nicht in ganz eigenverantwortlicher Tätigkeit. Beide Berufsgruppen sind mir durch meine langjährige Tätigkeit bekannt. Ich persönlich habe zu Vertretern beider Berufsgruppen ein kollegiales Verhältnis entwickelt und mache keine Unterschiede. Man muss natürlich sehen, dass berufspolitisch die Psychologischen Psychotherapeuten lange Jahre energisch das Ziel verfolgten, ein eigenständiger Heilberuf zu werden, und sie sich damit auch berufspolitisch profilieren mussten in Auseinandersetzung mit den Ärzten.
Dennoch kann man diese Gruppen nicht uniform sehen. Da gab es differenzierte Meinungen. Bei den Diskussionen zum PTG gab es in der Ärzteschaft Befürworter, die Verständnis dafür gehabt haben, dass die Psychologen ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit als eigener Heilberuf suchten. Trotz Gegenstimmen haben sich die Befürworter in den ärztlichen Gremien durchgesetzt, was politisch auch dazu beigetragen hat, dass das Gesetz kam. Es gibt sicherlich nachvollziehbare Schärfungen, da man sich in bestimmten Punkten abgrenzt, um sein eigenes Profil darzustellen.
Was sind das für Punkte?
Die Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie betonen ihre ärztliche Kompetenz zusätzlich zu der psychotherapeutischen Qualifikation. Diese können die Psychologischen Psychotherapeuten aufgrund Ihrer Ausbildung nicht besitzen. Aus dem Blickwinkel der Psychologen wird hingegen die somatische Sicht von den Ärzten oft zu sehr betont mit dem Argument, wenn es um die Richtlinienpsychotherapie geht, dann sollte, das was gemacht wird, unabhängig vom Grundberuf des Therapeuten sein. Die psychotherapeutische Behandlung sollte dieselbe sein, unabhängig davon, ob sie ein ärztlicher oder Psychologischer Psychotherapeut durchführt.
Aus Sicht der vertragsärztlichen Versorgung sind das gleiche Versorgungsinhalte und sie unterscheiden sich nicht wesentlich?
Sofern es die Richtlinienpsychotherapie betrifft, sollte das nicht der Fall sein. Das war ja eines der Hauptargumente, warum wir die Auffassung vertreten haben, dass die Psychologischen Psychotherapeuten und die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in die Kassenärztlichen Vereinigungen integriert werden sollten, weil wir nicht eine Abspaltung von Versorgungsbereichen wollten, die wir für identisch halten.
Das heißt, dass die Differenzen eher aus berufsgruppenpolitischen Erwägungen kommen, mit der Ausübung von Psychotherapie aber wenig zu tun haben?
Das zeigen die Erfahrungen aus den Gremien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Im Unterausschuss Psychotherapie, wo die Änderungen der Richtlinien diskutiert und vorbereitet werden, und der paritätisch besetzt ist mit ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, findet man in den Sachdiskussionen auf der Leistungserbringerseite häufig einen Konsens. Im beratenden Fachausschuss Psychotherapie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, an dessen Sitzungen ich als Referatsleiter Psychotherapie auch teilnehme, war am Anfang zwischen den drei Berufsgruppen eine größere Polarisierung festzustellen. In den letzten Jahren ist das geringer geworden. Man kann auch hier eine Annäherung konstatieren. In den Grundsatzfragen herrscht eigentlich eine relativ große Übereinstimmung.
Das Zusammenführen zweier unterschiedlicher Berufsgruppen, die sich ja auch skeptisch gegenüberstehen, scheint anhand des Modells Psychotherapie gelungen. Es ist wichtig, das einmal klarzustellen, da oft versucht wird, da Gegensätze hineinzubringen. Ich würde das aber auch so sehen, dass viele Gemeinsamkeiten zwischen Medizinern und Psychologen in essenziellen Aspekten ihres Tuns bestehen.
Das können wir auch an der Tatsache sehen, dass im KV-Bereich inzwischen Psychologische Psychotherapeuten in Gremien angekommen sind, in denen man sie sich früher nicht vorstellen konnte. Wir haben jetzt einen Psychologischen Psychotherapeuten im Finanzausschuss der KBV, einen im Vorstandsausschuss und die Vorsitzenden der beratenden Fachausschüsse werden auch in die Vorstandsarbeit mit involviert. Das zeigt, dass die Integration weiter voranschreitet und inzwischen als normaler Vorgang angesehen wird. Durch das PTG sind die Psychologischen Psychotherapeuten und die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten vollwertige Mitglieder in den Kassenärztlichen Vereinigungen geworden, und deswegen ist es sinnvoll und begrüßenswert, dass sie in den entsprechenden Gremien mit vertreten sind.
Nun zu einem weiteren Berufsgruppenkonflikt. Existieren für Sie wahrnehmbare Gegensätze zwischen den Fachärzten für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und den Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie? Wie würden Sie das Verhältnis zwischen beiden Fachgruppen beurteilen?
Zwischen diesen Fachgruppen lassen sich momentan in einigen Punkten wesentlich mehr Friktionen feststellen als zwischen den Berufsgruppen der Psychologischen Psychotherapeuten und den Ärzten. Plakativ gesagt, ist bei den Psychiatern eine Tendenz zu Aussagen festzustellen, dass die ärztlichen und die Psychologischen Psychotherapeuten eigentlich eine viel zu aufwändige Versorgung von nicht so schwer erkrankten Patienten betreiben, während die Psychiater die viel schwerer gestörten Patienten behandeln müssten und dafür vergleichsweise geringere Vergütungen erhalten würden. Da sehe ich häufig Polarisierungen, die sich dann z. T. heftig auf der berufspolitischen Ebene niederschlagen.
Übersehen wird dabei m. E., dass im Bereich der Versorgung psychisch Kranker vielfältige Erfordernisse bestehen und Möglichkeiten vorhanden sind, die je nach Krankheitsbild von Beratungsangeboten zu niedrigschwelligen Gesprächsangeboten, Gesprächsleistungen im Rahmen des EBM bis hin zu psychiatrischen Leistungen, die als verbale Interventionen geleistet werden, und dann wieder Interventionen als Richtlinienpsychotherapieleistungen reichen. Das ist natürlich ein sehr differenziertes Angebot, über das die Psychiater verfügen. Es ist jedoch eine Idealvorstellung, dass jeder, der eine psychische Erkrankung hat, das Angebot bekommt, welches für seine Erkrankung am besten geeignet ist. Diesbezüglich haben wir sicher weiteren Entwicklungsbedarf.
Das betrifft Ideal und Wirklichkeit. Ist es denn so, dass jeder Patient das an Behandlung bekommt, was er wirklich benötigt oder gibt es Veränderungs- bzw. Verbesserungsbedarf?
Wie vorhin erwähnt, haben wir weltweit gesehen in der BRD die besten Versorgungsstrukturen. Das schließt nicht aus, dass das Bessere immer der Feind des Guten ist. Man könnte einiges verbessern. Das betrifft insbesondere die Behandlungsstrategien und auch die Zuweisungen zu bestimmten Angeboten. Was von vielen nicht ganz unberechtigt kritisiert wird, ist, dass es oft dem Zufall überlassen bleibt, wenn sich jemand einen Psychotherapeuten selbst sucht oder empfohlen bekommt, was derjenige dann an Therapie bekommt, eben häufig das, was der Therapeut gelernt hat und anbietet. Das kann in vielen Fällen stimmig und sinnvoll sein. Es gibt aber auch Fälle, in denen eine andere Form der Therapie für diesen Patienten geeigneter wäre. Für diese Fälle gibt es bisher keine validen Instrumente, um das immer sicherzustellen.
Das wird auch vielfach von den Krankenkassen kritisiert, und nicht zu Unrecht. Die Frage ist nur, wie kann man dies sicherstellen? Das Problem liegt darin, dass wir niemanden haben, der definitiv entscheidet, wohin der Patient letztendlich gehen soll. Dafür sehe ich nach den jetzigen Vorgaben keine Lösung.
Würden Sie diese Probleme auch in eine Verbindung bringen mit den psychotherapeutischen Schulen. Von PiD her wissen Sie ja, dass wir eine Position vertreten, die Abgrenzungen der Schulen zu unterbinden und zu verändern. Ist unsere Vorstellung richtig, dass die immer noch schulenorientierte Ausrichtung innerhalb der Psychotherapie eher geeignet ist, dieses Problem zu verstärken als es zu vermindern?
Das würde ich nicht definitiv so beantworten können, weil ich im Laufe der Jahre festgestellt habe, dass in den Diskussionen das Verständnis füreinander stark gewachsen ist. Das kann ich auch bei den Gremienvertretern feststellen. Früher war da eine größere Polarisierung zwischen den Verhaltenstherapeuten und den Analytikern. Das hat sich deutlich reduziert, wobei es sicherlich immer noch unterschiedliche Akzentsetzungen gibt.
Ihre Frage, ob es wünschenswert sei, dass man diese Schulenbildung aufgibt, würde ich differenzierter sehen. Ich habe den Beitrag von Herrn Lieberz in Ihrer Zeitschrift, der als Replik auf Ihre ersten Anregungen gedacht war, gelesen und würde in dem Punkt Herrn Lieberz Recht geben, dass man hier auch sehr vorsichtig sein muss. Die Alternative kann für mich nicht sein, dass wir die Schulen vollkommen aufgeben und in eine Beliebigkeit verfallen. Das ist aus meiner Sicht ein Schritt, der dazu führen kann, dass die Richtlinienpsychotherapie ausstirbt. Es muss daher klare Standards und Definitionen geben.
Eine andere Frage ist jedoch, ob die strikte Trennung einzelner Verfahren, die wir in den Richtlinien noch haben, und das Kombinationsverbot bestimmter Anteile noch zeitgemäß ist. Das sieht man auch an den Diskussionen, die zurzeit im Unterausschuss Psychotherapie geführt werden. Hier wird der Ansatz einer störungsspezifischen Psychotherapie ernsthaft und breit diskutiert, die nicht auf ein Psychotherapieverfahren allein begrenzt ist. Zwar sind diese Diskussionen bei weitem nicht abgeschlossen, aber sie werden geführt, sodass ich schon glaube, dass wir im Zuge dieser Diskussion auch Veränderungen in den Richtlinien bekommen werden. Wie die konkret aussehen, kann ich natürlich jetzt noch nicht sagen. Das entscheidet letztlich auch der Unterausschuss bzw. der Gemeinsame Bundesausschuss.
Wo sehen Sie die langfristigen Perspektiven einer Integration?
Das Ergebnis der Diskussionen im Unter- und Bundesausschuss wird meiner Meinung nach nicht sein, dass eine „allgemeine Psychotherapie”, wie Herr Grawe sie vertritt, einen Pluspunkt haben wird. Es wird immer gewisse Differenzierungen geben mit Verfahren, die auch eine Identität für sich haben. Nur das schließt nicht aus, wie Sie sagen, dass man darüber nachdenkt, ob man etwa für bestimmte Therapiephasen oder für bestimmte Abschnitte oder für bestimmte Störungsbilder die Kombination unterschiedlicher Verfahren für indiziert hält. Ich denke, dass diese Diskussionen geführt werden müssen.
Ein Blick in die Zukunft: Wie sieht das mit der Psychotherapie in zehn Jahren aus? Es gibt viele Leute, die befürchten, dass es in ein paar Jahren wieder zu Erstattungspsychotherapie oder was auch immer kommen könnte.
Ich bin, im Gegensatz zu manch panikartigen Vorstellungen, nicht der Meinung, dass die ambulante psychotherapeutische Versorgung einmal vollkommen zur Disposition gestellt würde und sozusagen in die reine Kostenerstattung oder in die Privatfinanzierung übergehen wird. Ich bin der Meinung, dass es in zehn Jahren die ambulante psychotherapeutische Versorgung in der BRD zulasten der gesetzlichen Krankenkassen weiterhin geben wird.
Aus meiner Sicht ist diese Angst unbegründet bei Betrachtung des Gesamtsystems. Ich vermag natürlich nicht zu entscheiden, ob im Laufe der nächsten Jahre weitere Selbstbeteiligungsmodelle, die aber auch ansonsten in der somatischen Medizin weiter um sich greifen werden, auch in die Psychotherapie eingeführt werden. Aber um auf den Anfang unseres Gespräches zurückzukommen: Wir haben ca. 14 000 Leistungserbringer in diesen Bereichen, die praktisch ausschließlich oder überwiegend psychotherapeutisch tätig sind, und ich halte es eigentlich für undenkbar, dass man ein solches Versorgungsangebot, welches jährlich Hunderttausende von Patienten im ambulanten Bereich versorgt, einfach vollkommen aus der Regelversorgung ausgrenzen kann! Die Psychotherapeuten stellen inzwischen schon zahlenmäßig hinter den Allgemeinmedizinern die zweitgrößte Gruppe im niedergelassenen Bereich dar. Auch durch das PTG ist die Bedeutsamkeit dieses Bereiches gestärkt worden. Nach meiner rationalen und durch mir zugängliche Informationen begründeten Überzeugung halte ich daher diese Angst für unbegründet.
Dann kann man ja eigentlich von einer Erfolgsstory sprechen: die gelungene Implementierung der Psychotherapie in die Krankenversorgung in der BRD in den letzten zehn Jahren.
Nicht nur in den letzten zehn Jahren. Die ersten Psychotherapierichtlinien sind 1967 vom Bundesausschuss beschlossen worden, d. h. wir nähern uns in zwei Jahren einem 40-jährigen Jubiläum dieser Richtlinien und damit auch der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung in der BRD. Und insofern kann man schon sagen, es ist eine Erfolgsgeschichte, weil die qualitative und quantitative Leistung stetig verbessert worden bzw. stetig angewachsen ist. Und dieser Trend ist weiterhin vorhanden - ich sehe in dieser Hinsicht keine Rückschritte, sondern Fortschritte.
Davon bin ich fest überzeugt. Dazu braucht man nur das vielfach kritisierte und gescholtene Gutachterverfahren zu betrachten. Dieses seit 1967 in der Psychotherapie existierende Gutachterverfahren bringt zwar eine Reihe von Problemen mit sich. Im Hinblick auf die Qualitätssicherung zeigt es aber, dass die Psychotherapie den anderen medizinischen Fächern um Jahrzehnte voraus war. Dieses Gutachterverfahren ist vor allem auch deswegen kritisiert worden, weil man in keiner anderen Disziplin seine Therapie schon vorher darlegen und eine Genehmigung einholen musste. Dass das auch eine finanzielle Sicherheit ist, wird häufig übersehen. Andererseits sehen wir, dass inzwischen in anderen Bereichen solche Instrumente implementiert werden, wie sie früher nur im psychotherapeutischen Bereich vorhanden waren. Heute würde niemand mehr auf den Gedanken kommen, dass die Qualitätssicherung ein zu vernachlässigender Bereich ist. In diesem Punkt sind die Regelungen in der Psychotherapie Vorreiter gewesen. Das ist nur ein Beispiel.
Ein weiteres Beispiel sind die in den letzten Jahren vorgenommenen Prüfungen im Hinblick auf Evidence Based Medicine bei Neueinführungen von Verfahren. Bei Einführung der Verhaltenstherapie in die ambulante Versorgung Mitte der 80er-Jahre hat es viele Studien gegeben, die vorgelegt worden sind. Auch das ist ein Beweis dafür, dass die Psychotherapie sich da nicht zu verstecken braucht, sondern Qualitätssicherung schon vor anderen Fachgebieten berücksichtigt und überdacht hat. Ich finde, das ist eine große Befruchtung für andere medizinische Bereiche. Ich bin überzeugt, dass die Psychotherapie da auch weiterhin eine positive Rolle spielen wird.
Das ist ein sehr interessanter Gesichtspunkt, weil der Psychotherapie seitens der Medizin und manchmal auch seitens der Psychiatrie Geringschätzung entgegengebracht wird, etwa mit dem Tenor, ihr behandelt ja nur Lebensprobleme und Kleinigkeiten und keine ernsten Krankheiten. Da schwingt häufig etwas Entwertendes mit. Vielleicht ist das eine wichtige Botschaft, dass die Psychotherapie eine gute Sache ist, die sich lange entwickelt hat, die immer kreativ gewesen ist, die immer sehr viel bewegt hat, die sehr viel Impulse gegeben hat. Wichtig ist aber auch die Botschaft, dass die Psychotherapeuten anfangen sollten, sich selbst mehr zu reflektieren, um zu überlegen, wo sind Veränderungen notwendig auf dem Boden der neuen Erkenntnisse.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass dazu eine Bereitschaft der Leistungsträger und Leistungserbringer in den Ausschüssen vorhanden ist.
Da hätte ich noch eine Sorge aus dem stationären Bereich, eine Tendenz von Kostenträgern, die Psychotherapie als Rehabilitation zu bezeichnen. Wir haben, um es deutlich zu sagen, zunehmend Schwierigkeiten, weil Krankenkassen sagen, dass das, was wir an Psychotherapie in den Kliniken machen, Rehabilitation sei. Das ist natürlich angesichts der Behandlung von Magersucht etc. sehr grotesk. Aber da gibt es Unterstützung vom Medizinischen Dienst in diese Richtung. Die Sorge ist, ob nicht doch die Kostenträger sagen - hier kommt dann wieder die Wertschätzung bzw. die Geringschätzung zum Ausdruck - das ist doch keine medizinische Prozedur. Ist das eine berechtigte Sorge, die auch damit zu tun haben könnte, dass die Kostenträger sagen, nun es wird ja nicht von Ärzten ausgeübt, sondern von Psychologen. Wie würden Sie diese Gefahr einschätzen?
Zum stationären Bereich kann ich leider nichts sagen, da das nicht in den Zuständigkeitsbereich der KBV gehört. Andererseits kann man darauf hinweisen, dass in den Psychotherapierichtlinien etliche Indikationen vorhanden sind, die auch als Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation definiert sind, auch als ambulante Behandlungsindikationen, sodass der Begriff Rehabilitation aus meiner Sicht es noch nicht verbietet, dass etwas in den Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Krankenkassen fällt, auch wenn es im stationären Bereich erfolgt. Es ist unstrittig, dass Essstörungen, sofern sie denn ambulant behandelt werden können, auch in den Indikationsbereich der Psychotherapierichtlinien fallen. Insofern kann ich nur auf diesen Sachverhalt hinweisen, und ich habe, weil andere mir das berichten, den Eindruck, dass es sich eher um den Versuch handelt, bestimmte Kosten in einen anderen Bereich wegzuschieben. Sozusagen, wenn das Rehabilitation ist und als solche definiert wird, dann sind nicht mehr die gesetzlichen Krankenkassen für den stationären Bereich zuständig, sondern die Rentenversicherungsträger.
Aber Sie würden dem eher mit einer gewissen Gelassenheit gegenüberstehen auf dem Hintergrund dessen, was Sie vorhin gesagt haben: dass die Psychotherapie als medizinische Leistung, die überwiegend von Psychologischen Psychotherapeuten erbracht wird, eigentlich fest implementiert ist. Denn das könnte ja die große Versuchung sein, dass man dann doch sagt, das hat mit Medizin und mit ärztlicher Leistung doch nicht so viel zu tun.
Da hilft ein Blick ins PTG, und dort heißt es zu Anfang im Hinblick auf die Definition der Psychotherapie im § 1 Absatz 3 PTG: „Ausübung von Psychotherapien im Sinne dieses Gesetzes ist jede mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung und Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist”. Ich denke diese Definition, davon abgesehen, dass die Psychotherapie in den Regelungen für die ambulante Versorgung immer auch als medizinische Behandlung definiert wird, macht mich sehr gelassen im Hinblick auf die Feststellung, dass das Argument, das Sie genannt haben, eigentlich nicht als stichhaltig angesehen werden kann.
Vielleicht noch zur Zeitschrift - Sie kennen die PiD. Was halten Sie von dieser Zeitschrift, von diesem Projekt?
Ich finde diese Zeitschrift sehr anregend und gerade die Zielrichtung, den Dialog anzustoßen und zu ermöglichen, ist generell sehr positiv und die Beiträge, die in den Diskussionen referiert werden, sind im Hinblick auf ein solches Ziel informativ und interessant. Ich finde das ein sehr gelungenes Projekt.
Das Verhältnis zum Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie bei der Bundesärztekammer bzw. Bundespsychotherapeutenkammer: Ist das hilfreich für die Arbeit oder schafft das manchmal Turbulenzen, die in die KBV und das Referat Psychotherapie hinein Auswirkungen haben, z. B. die Sache mit der Gesprächstherapie. Welche Bedeutung hat für Sie der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie?
Von der Zielsetzung ist der Wissenschaftliche Beirat ganz anders implementiert als der Bundesausschuss oder der Beratende Fachausschuss. Der Wissenschaftliche Beirat hat sich laut PTG auf Anfrage oder, wenn er es selbst für sinnvoll hält, zu Fragen der wissenschaftlichen Anerkennung psychotherapeutischer Verfahren zu äußern, und dieser Ansatz ist prinzipiell richtig und gut. Es ist erst einmal sinnvoll, dass man ein solches Gremium geschaffen hat. Andererseits hat es dem Bundesausschuss Arbeit abgenommen und hat ihn entlastet. Warum?
Wir haben bei der Neufassung der Psychotherapierichtlinien ganz bewusst für die Prüfung neuer Verfahren im Gemeinsamen Bundesausschuss bzw. im Unterausschuss Psychotherapie, die eine Aufnahme in die Richtlinien verlangen, eine Ersthürde eingebaut, die heißt, dass als Voraussetzung, dass sich der Bundesausschuss überhaupt mit solchen Verfahren weiter beschäftigt, eine Aussage des Wissenschaftlichen Beirats getroffen sein muss, dass das Verfahren als wissenschaftlich anerkannt angesehen wird. Das hat den Bundesausschuss erst einmal entlastet, weil es früher keinen Wissenschaftlichen Beirat gab und, wenn Verfahren oder Methoden in die Richtlinien aufgenommen werden wollten, dann der Bundesausschuss bzw. der Unterausschuss in eine Prüfung eintreten musste. Durch diese Eingangshürde ist der Bundesausschuss dazu nicht mehr verpflichtet. D. h. sofern der Wissenschaftliche Beirat ein Verfahren nicht als wissenschaftlich anerkennt für die vertiefte Ausbildung nach dem PTG, hat der Bundesausschuss keinen weiteren Prüfauftrag. Es würde keinen Sinn machen, Verfahren zu prüfen, die nicht für die vertiefte Ausbildung der Psychologischen Psychotherapeuten oder der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten anerkannt sind. Denn, wenn jemand sich nicht approbieren kann in diesem Verfahren, kann er auch nicht an der ambulanten Versorgung teilnehmen. Und das war der Grund, warum wir das als Eingangshürde aufgenommen haben. In diesem Punkt sehe ich eine Entlastung des Bundesausschusses. Die Gesprächspsychotherapie ist nun seit ca. zwei Jahren wissenschaftlich vom Beirat anerkannt und der Unterausschuss Psychotherapie befindet sich momentan in einer Prüfung der entsprechenden Studien.
Nennen Sie Wunsch und Realität, was wäre Ihre Vision als Beobachter? Wo würden Sie sich wünschen, dass es hingeht und wo sehen Sie die Realität?
Das Bessere ist der Feind des Guten. Man kann vieles verbessern und ich denke, dass man daran arbeiten sollte. Ein Gesichtspunkt ist auch die Fragestellung, die wir vorher diskutiert hatten, dass man nach Möglichkeiten suchen muss, wie man die Patienten noch besser den Therapeuten zuführen kann, die sie am effizientesten behandeln können. Das ist auch eine Frage der Differenzialindikation, und ich denke, dass sich die Richtlinien dem Thema der störungsspezifischen Indikationen und der störungsspezifischen Behandlung mit bestimmten Verfahren noch verstärkt zuwenden, wobei es hier auch immer um den Punkt Besitzstandswahrung und der damit verbundenen Ängste geht.
Der zweite Punkt ist die Frage, dass man nach Möglichkeiten suchen sollte, die Richtlinien insofern zu flexibilisieren, bestimmte für sinnvoll erachtete Kombinationsbehandlungen in die Richtlinien einzuführen und die strikte Ausschlusstrennung, dass z. B. während analytischer Therapie keine Verhaltenstherapie erfolgen sollte, überprüft werden müsste. Gibt es bestimmte Indikationen, die gerade die Kombinationsbehandlung sinnvoll erscheinen lassen? Auch bessere Kooperation, eventuell auch durch unterschiedliche Therapeuten während einer Behandlung, die bestimmte Abschnitte der Behandlung übernehmen, sollte diskutiert werden.
Im Grunde genommen ein Integriertes Modell wie in den stationären Bereichen.
Ja, richtig. Auch durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist mehr die Möglichkeit der Integrierten Versorgung gegeben, die Abstimmung zwischen stationären und ambulanten Therapien. Das sind alles Ansätze, die entwickelt und weiterentwickelt werden sollten. Ein Punkt erscheint mir noch wichtig, den Sie in Ihrer ursprünglichen Veröffentlichung angesprochen haben: Wir haben durch den neuen EBM, der zum 1.4.2005 in Kraft getreten ist, jetzt die Möglichkeit psychotherapeutische Gespräche im 10-Minuten-Takt zu führen und das bis zu 15-mal pro Quartal, teilweise - bei den Fachärzten für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie - auch unbegrenzt pro Quartal, die nicht auf dem Niveau der Richtlinientherapie laufen und deshalb auch geringer vergütet werden, die aber dem Therapeuten die Möglichkeit geben, auch Gesprächsleistungen kontinuierlicher zu erbringen, teilweise in Kombination mit Richtlinientherapie, teilweise ohne Richtlinientherapie. Das halte ich für eine wesentliche Verbesserung. Es gilt natürlich abzuwarten, wie die Vergütung im Hinblick auf die Punktwerte für diese Leistungen ist, die ja nicht dem gestützten Punktwert unterliegen. Als fachliche Erweiterung halte ich das für eine sehr wichtige Neuerung.
Vision zu einer höheren Flexibilisierung in diesem Gebiet?
Die Schwierigkeit sehe ich noch in der Realität, die wir in den Gremien haben, dass Vertreter verschiedener Schulen in den Gremien sitzen, die bestimme Besitzstände für sich sehen. Da sehe ich bestimmte Schwierigkeiten gegen diese Ängste und gegen lieb gewordene Gewohnheiten und Gewohnheitsrechte, die vielleicht vorhanden sind, etwas Neues zu schaffen. Das ist aber immer so, wenn man bestimmte Dinge anregen will. Durch das PTG ist aber viel Neues geschaffen und möglich geworden. So muss man optimistisch sein, dass in den Fragen, über die wir gesprochen haben, eine Weiterentwicklung stattfinden kann und stattfinden wird, die allerdings ihre Zeit braucht.
Wir haben den Gedanken der Schwere der Krankheiten, die in der Psychotherapie behandelt werden, noch nicht ganz abgehandelt. Das hat ja auch ein Stück mit der Entwertung zu tun. Werden denn über Psychotherapie wirklich kranke Menschen behandelt? Oder haben wir es mit Lebensproblemen, mit kleinen Dingen zu tun?
Das Problem bei der ganzen Sache ist der Vorwurf, den Sie referiert haben, und der mir häufiger begegnet, dass in der Psychotherapie nicht so schwer oder gar nicht Erkrankte behandelt werden, sondern diejenigen, die durch ein gutes Beratungsangebot oder durch ein gutes seelsorgerisches Gespräch aufgefangen werden könnten, was wir immer weniger finden, weil die Religiosität oder die Bindung an die Kirchen immer weiter zurückgeht. Wir haben leider keine diagnosespezifischen Daten, d. h. wir haben keine Informationen, welche Diagnosen und in welcher Ausprägung die Diagnosen, die behandelt werden, bei den Therapeuten anfallen.
In dem Zusammenhang dürfte auch der Modellversuch der Technikerkrankenkassen von Interesse sein, weil da entsprechende Daten gesammelt werden. Wir haben ja im Gemeinsamen Bundesausschuss oder auch mit den Vertragspartnern der Psychotherapievereinbarungen versucht, das Gutachterverfahren zu modifizieren mit Gesichtspunkten bestimmter Tests, die während und am Ende der Behandlung durchgeführt werden sollten, mit Patienteneinschätzungen und auch mit Fragebögen, die modifiziert wurden aus der PsyBaDo. Das haben wir über Jahre mit den Kassen diskutiert. Wir waren auch kurz davor, diese Dinge in die Versorgung zu implementieren. Nur dann hat es einen Zeitpunkt gegeben, wo einige Kassen davor zurückgeschreckt sind, da sie zusätzliche Kosten befürchtet haben. Das war sehr bedauerlich. Diese Diskussion ist aber nach wie vor präsent, und ich denke, sie wird auch wieder aufleben.
Ich glaube auch, dass das, was einmal angedacht worden ist und in der Diskussion war, nicht gänzlich verschwindet und wieder aufgegriffen werden kann. Das ist etwas, was noch zu dem Thema Weiterentwicklung passt, dass wir diese Dinge auch immer wieder neu versuchen sollten in die Diskussion zu bringen, damit sie Eingang in die Versorgung finden.
Um noch mal auf Ihre Eingangsfrage zurückzukommen: Wir haben leider keine validen Daten, wie schwer die Krankheitsbilder sind, die in der ambulanten Psychotherapie behandelt werden. Ich muss allerdings aus meinen Beobachtungen einzelner Begutachtungsfälle, die mir im Zuge von Beschwerden aus dem Gutachterverfahren zur Kenntnis gegeben werden, feststellen, dass wir in nicht geringem Maße in der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung auch wirklich schwer kranke Menschen haben. Natürlich haben wir auch Fälle, wo man fragt: „Ist das Krankenbehandlung, was da stattfindet?” Dafür haben wir aber auch das Gutachterverfahren, um das zu beurteilen. Ich habe auch Beispiele von negativen Bewertungen solcher Fälle durch die Gutachter gesehen, die auch berechtigt waren. Nach meinen Beobachtungen würde ich allerdings pauschal den Vorwurf nicht gelten lassen, dass in der ambulanten Psychotherapie überwiegend Patienten sind, die dort nicht hingehören. Das kann ich aber nicht aufgrund von Statistiken sagen.
Ein interessanter Gedanke noch: Wir haben in dem Lehrbuch die Beratung aufgenommen. Würden Sie es für sinnvoll ansehen, so etwas wie professionelle Beratung ein Stück zu fördern, weil das ja noch eine Abgrenzungsmöglichkeit gibt zwischen der Psychotherapie als Krankenbehandlung und der Beratung. Es gibt keine Tradition der Beratung, Seelsorge, der Überlieferung in den Familien etc. mehr. Meine Vorstellung ist, dass wir hier eine Pflicht haben der psychosozialen Beratung. Das hat ja gar keine Finanzierungsstruktur. Wäre es denn hilfreich, dieses Konzept der professionellen Beratung stärker auszubauen auch in der Abgrenzung zur Krankenbehandlung, wobei das zwangsläufig zu Überschneidungen führt. Halten Sie das für sinnvoll?
Ich halte diese Angebote auch gerade im Hinblick auf den Vorwurf, dass man sagt, es sind Leute in Therapien, denen mit einem Beratungsangebot gut geholfen werden könnte, für einen sinnvollen Ansatz. Unter dem Gesichtspunkt halte ich das für wünschenswert. Nur muss man ganz klar sagen, psychosoziale Beratungen sind nicht der ambulanten Versorgung zuzuordnen und nicht in deren Bereich zu finanzieren. Es würde die Versorgung letztlich wieder entlasten, wenn solche Angebote weiter ausgebaut würden, weil man dann die Patienten oder diejenigen, bei denen die Krankheitswertigkeit nicht ausreicht für eine Krankenbehandlung, darauf hinweisen und ggf. dort unterbringen könnte, weil man nicht bestreiten kann, dass sie eine Versorgung brauchen, aber nicht so krank sind, dass sie eine Krankenbehandlung benötigen.
Das wäre auch ein Stück Zukunftsaufgabe?
Ich bin aufgrund der ganzen gesellschaftlichen Entwicklungen und der ganzen Kostendiskussionen und Einsparungen in vielen Bereichen leider sehr skeptisch, dass dafür zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Sieht man die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung, wird man feststellen, dass eher bestehende Angebote aus Kostengründen eingespart werden. Aus meiner Sicht am vollkommen falschen Platz. Was eine Fehlentwicklung ist, aber ich denke, man wird es nicht ausbauen, sondern eher zurückfahren und das ist eher traurig.
Herr Dahm, vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch.
1 Der Psychologische Psychotherapeut und der Kinder- und Jugendtherapeut muss, nachdem er sein Diplom erworben hat, eine fünfjährige berufsbegleitende oder dreijährige ganztägige Berufsausbildung bis zu seiner Approbation ableisten. Danach kann er sich prinzipiell immer unter den Bedingungen der Bedarfsplanung als Psychotherapeut niederlassen, während der Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie erst einmal nach seiner Approbation als Arzt eine Gebietsweiterbildung absolvieren muss, die fünfjährig „full time” sein muss.