Eine Stimme, die professionellen Ansprüchen gerecht werden muss, ist etwas Besonderes
und erfordert im Krankheitsfall auch eine spezielle Diagnostik und Therapie. Vor allem
bei professionellen Sängerinnen und Sängern führt eine Stimmstörung häufig dazu, dass
ihre berufliche Existenz gefährdet ist, da diese entsprechende zeitliche Schonungsphasen
der Stimme im Rahmen einer funktionellen oder auch operativen Stimmtherapie kaum einhalten
können. Der Betroffene erlebt seine Stimmstörung als Makel und ist verunsichert, was
zu einer zusätzlichen Einschränkung seiner stimmlichen Leistungsfähigkeit führen kann.
Wird im Kollegenkreis bekannt, dass eine Sängerin oder ein Sänger eine organisch bedingte
Heiserkeit entwickelt hat, nimmt der Arbeitgeber häufig Abstand von weiteren Engagements.
Deshalb legen die Betroffenen in der Regel Wert auf eine 'diskrete' Untersuchung
Unsere Erfahrung zeigt, dass Künstler mit funktionell oder organisch bedingten Dysodien
oder Dysphonien häufig wenig Hilfe finden. Eine adäquate Therapie setzt eine fundierte
Diagnostik voraus. Bei Störungen einer professionellen Stimme kann dies allerdings
auch auf Stimmstörungen spezialisierte Einzelpersonen durchaus überfordern. Stimmstörungen
sind vielschichtig und können in der Diagnostik und der Therapie das Know-how verschiedener
Spezialisten aus verschiedenen Spezialdisziplinen nötig machen.
An der Poliklinik für Hör-, Stimm- und Sprachheilkunde des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
besteht seit etwa drei Jahren eine interdisziplinäre Spezialsprechstunde für Störungen
der professionellen Sing- und Sprechstimme („Sängersprechstunde”). Die Mitglieder
dieser Spezialsprechstunde für professionelle Sprecher und Sänger verstehen sich als
Teil eines interdisziplinären Teams. Dieses setzt sich zusammen aus einem Doppelfacharzt
für Phoniatrie und Pädaudiologie und HNO-Heilkunde, mehreren Logopädinnen und GesangspädagogInnen
mit Schwerpunkten im Bereich unterschiedlicher musikalischer Stilrichtungen, aus einer
Phonetikerin, einem Diplom-Ingenieur sowie einer Diplom-Psychologin.
Das Konzept dieser multidisziplinären Zusammenarbeit setzt auf die Anwesenheit aller
Beteiligten während der Erhebung der Anamnese, der Diagnostik und der Mitteilung der
Empfehlung für das weitere Vorgehen. Da alle Fachdisziplinen gleich stark Beachtung
finden, sind Vor- und Nachteile möglicher Interventionsschritte abzuwägen. Ziel ist
eine möglichst individuelle Empfehlung für den Patienten [1].
Ablauf der Spezialsprechstunde
Ablauf der Spezialsprechstunde
Zu Beginn der etwa 90-minütigen Untersuchung findet die Anamneseerhebung durch das
gesamte Team statt. Die Patienten geben Auskunft zu ihrer Ausbildung und ihrem beruflichen
Werdegang, schildern ihre aktuellen Probleme und den Zeitverlauf, in dem diese entstanden
sind. Wichtig zu wissen ist, ob die Stimmprobleme vor allem in der Sprech- oder der
Singstimme und hier in der Brust- oder der Kopfstimme auftreten. Befragt wird der
Patient außerdem nach seinen Arbeitsbedingungen und dem beruflichen und privaten Umfeld.
Von Interesse ist auch sein allgemeiner Gesundheitszustand (z.B. ernstere Vorerkrankungen,
regelmäßige Medikamenteneinnahme, psychotherapeutische Behandlung, vorangegangene
Stimmtherapien) und ob ein regelmäßiges Stimmcoaching (z.B. gesangspädagogischer Unterricht)
stattfindet.
Während der Anamnese macht sich das gesamte Team bereits ein Bild von der Stimme des
Patienten. In der Regel findet bei der Überprüfung der Sprechstimme auch eine palpatorische
Überprüfung des Muskeltonus durch die Logopädinnen statt.
Im Anschluss daran überprüfen die Gesangspädagogen gezielt die Singstimme. Es folgt
eine Stimmfelduntersuchung durch eine Logopädin, die den Umfang der Sprech-, Ruf-
und Singstimme ermittelt und gegebenenfalls elektroakustische Stimmuntersuchungen
mithilfe der Softwareprogramme VoceVista® und Speech-Studio® [Abb. 1] einsetzt. Dann führt der Facharzt eine laryngoskopische Diagnostik durch, um organische
von funktionellen Stimmstörungen abzugrenzen.
Nach Abschluss dieser Untersuchungen berät das Team - zuerst ohne den Patienten -
auf der Grundlage der Untersuchungsbefunde gemeinsam über die mögliche Ursache der
Beschwerden und stellt eine Therapieempfehlung zusammen. Erst danach wird mit dem
Patienten das weitere therapeutische Vorgehen besprochen und auf Wunsch die Suche
nach geeigneten Therapeuten eingeleitet. Als zusätzlichen Service bieten die drei
Gesangspädagogen im Bedarfsfall eine gemeinsame Therapieeinheit über drei Stunden
an.
Logopädische Diagnostik
Logopädische Diagnostik
Die zentrale Aufgabe der Logopädinnnen in der Spezialsprechstunde besteht darin, die
Stimmqualität des Patienten zu beschreiben und die Muster der Stimmproduktion sowohl
beim Sprechen als auch beim Singen zu erfassen. Dies beginnt schon während der Patient
sich vorstellt und seine Krankengeschichte schildert. Dabei beobachten sie beispielsweise
folgende Parameter:
-
Atmung (atemrhythmisch angepasste Phonation, Atemräume, Atemrhythmus)
-
Körperhaltung / Körpertonus / Kopfhaltung / Kehlkopfposition
-
Artikulation (Lippen-, Zungen-, Kieferbeweglichkeit, Nasalität)
-
Sprechstimmlage (mittlere Sprechstimmlage, Intonation, Indifferenzlage)
-
Sprechweise (Prosodie: temporal, melodisch, dynamisch)
-
Stimmklangqualität (z.B. behaucht, rau, gepresst, klar)
-
Stimmsitz (vorne, medial, dorsal)
-
Stimmeinsätze / Stimmabsätze.
Darüber hinaus können die Logopädinnen spezifische Stimmparameter in weiteren Aufgabestellungen
überprüfen - zum Beispiel Ausatemdauer, Tonhaltedauer, Rufstimme, Registerwechsel
in der Singstimme, Messa di Voce, rhythmische Fähigkeiten, auditive Perzeptionsfähigkeit.
Während der Patient ein Lied präsentiert oder während die Gesangspädagogen Übungen
zur Sängerstimme durchführen, beobachten die Logopädinnen die Funktion der Singstimme.
Sie haben auch die Möglichkeit, die Sänger um Erlaubnis zur Palpation zu bitten, um
zum Beispiel die Atemfunktion oder den Muskeltonus differenziert zu diagnostizieren.
Zusätzlich zu den genannten perzeptiven Untersuchungsmöglichkeiten - auditiv, visuell
und taktil-kinästhetisch - objektivieren die Logopädinnen die Stimmbeurteilung, beispielsweise
durch Stimmumfangsprofile der Sprech-, Ruf- und Singstimme [Abb. 2].
Gesangspädagogische Diagnostik
Gesangspädagogische Diagnostik
Da häufig keine primär medizinisch oder stimmphysiologisch einzukreisenden Stimmprobleme
zu beobachten sind, werden gesangspädagogische Erklärungen, Tipps und Hilfen angeboten.
Im Rahmen der gesangspädagogischen Diagnostik werden die Patienten gebeten, (mit Klavierbegleitung)
ein Stück vorzutragen, bei dem die subjektiven Stimmprobleme besonders deutlich auftreten.
Ebenso werden in einzelnen Stimmübungen die stimmlichen Gegebenheiten und die Leistungsfähigkeit
der Stimme überprüft. Ein von den Mitgliedern dieser Sprechstunde konzipierter Erfassungsbogen,
in dem die Höreindrücke bezüglich der Artikulation, der Tongebung und Registerbehandlung
sowie die sichtbaren Befunde zur Körperhaltung und Atmung aufgezeichnet werden, ist
Grundlage für das anschließende Gespräch mit allen beteiligten Spezialisten, in dem
das weitere Prozedere für die Künstler erarbeitet werden soll.
Fachärztliche Diagnostik
Fachärztliche Diagnostik
Die Aufgabe des Facharztes (Phoniater/HNO-Arzt) ist neben der perzeptiven Stimmdiagnostik
insbesondere auch die laryngoskopische Diagnostik, bei der das Schwingungsverhalten
der Stimmlippen dargestellt und analysiert wird. Zum Einsatz kommen hierbei die Videoendoskopie
und -stroboskopie mit starrer und gegebenenfalls flexibler Optik [Abb. 3] sowie bei Bedarf die hochgeschwindigkeitsglottografische Diagnostik (HGG) mit bis
zu 4000 Einzelbildern von den schwingenden Stimmlippen pro Sekunde [Abb. 4]. Das Schwingungsverhalten der Stimmlippen wird zudem mit der elektroglottografischen
(EGG) Untersuchung und in Zusammenarbeit mit dem Diplomingenieur mit elektroakustischen
Untersuchungsverfahren weiter überprüft.
Liegen organische Stimmlippenveränderungen vor, kann ein Termin zu einer operativen
Therapie in Lokalanästhesie oder Intubationsnarkose vereinbart werden.
Psychologische Diagnostik und Therapie
Psychologische Diagnostik und Therapie
Stimme und Stimmung sind nicht nur vom Wortstamm her eng miteinander verwandt. Die
Stimme sagt viel über die betreffende Person aus: Geschlecht, ungefähres Alter, Herkunft
und vor allem die Stimmung können abgelesen werden. Eine depressive Verstimmung und
psychische Probleme (z.B. Verunsicherung) eines Menschen - und insbesondere eines
Künstlers - können die stimmliche Leistungsfähigkeit verändern. Eine diesbezügliche
Diagnostik kann im Einzelfall sehr wichtig sein und wird wegen der in der Regel sehr
persönlichen und intimen Gesprächsinhalte außerhalb der interdisziplinären Sprechstunde
angeboten. Im Bedarfsfall werden die Sänger an eine auf Stimmstörungen spezialisierte
Diplom-Psychologin und klinische Psychotherapeutin vermittelt.
Technische Hilfsmittel
Technische Hilfsmittel
Neben der perzeptiven Beurteilung der Stimmqualität steht eine große Palette technischer
Verfahren zur Verfügung. Heute besitzen Computer eine ausreichend hohe Rechengeschwindigkeit,
um akustische Signale aufzuzeichnen, in Echtzeit zu verarbeiten und darzustellen.
Stimmfeldmessung
Die Stimmfeldmessung [Abb. 2] ermittelt den maximalen Umfang der Stimme hinsichtlich der möglichen Tonhöhen (Tonumfang)
und Lautstärken (Dynamik). Das Ergebnis sind Messpunkte in einem Diagramm, das die
Lautstärke über der Tonhöhe darstellt. Die (gedachte) äußere Begrenzungslinie der
Messpunkte umschließt das so genannte Stimmfeld. Durch verschiedene Aufgabenstellungen
kann das Stimmfeld für unterschiedliche Stimmfunktionen ermittelt werden (Sprech-,
Sing- oder Rufstimme). Für die Messung des Stimmfelds ist ein entsprechendes Computerprogramm
notwendig.
Elektroglottogramm
Das Elektroglottogramm (EGG) kann den Bewegungsablauf der Stimmlippen darstellen.
Hierzu werden an den Hals des Patienten zwei Elektroden in Höhe des Kehlkopfs angelegt,
mit deren Hilfe der elektrische Widerstand zwischen den Elektroden auf einem Oszilloskop
ermittelt wird. Bei verschiedenen gehaltenen Tönen kann beobachtet werden, wie schnell
die Schließbewegung der Stimmlippen während der einzelnen Phonationszyklen erfolgt
und wie sich das Verhältnis von geschlossener Phase zur Gesamtdauer eines Phonationszyklus
(„closed quotient”) ändert. Hierdurch können Beeinträchtigungen der Stimme durch falsche
Technik oder Minderbeweglichkeiten der Stimmlippen dokumentiert werden [Abb. 5].
SpeechStudio®
Das SpeechStudio-System dient zur Erfassung und Auswertung mehrerer Stimmparameter
[Abb. 1a]:
-
Spektrogramm zur grafischen Darstellung des Stimmklangs
-
Mikrofonkurve zur grafischen Kontrolle der Lautstärke von gehaltenen Tönen
-
EGG und „closed quotient”
-
Jitter (Unregelmäßigkeit der Stimmfrequenz)
-
Shimmer (Unregelmäßigkeit der Stimmlautstärke).
Der Vorzug des Geräts ist die Möglichkeit, nicht nur die einzelnen Parameter frequenzspezifisch
abzubilden, sondern auch die Stabilität der Parameter von Stimmlippenschwingung zu
Stimmlippenschwingung als neues Maß für die Stimmqualität zu verwenden. All dies erfordert
nicht wie bei anderen Systemen gehaltene Töne, sondern kann aus der gesprochenen Sprache
heraus erfolgen.
VoceVista®
Das Computerprogramm ermöglicht im Zusammenspiel mit einer installierten Soundkarte
und einem Mikrofon die Echtzeitdarstellung des Spektogramms der Stimme [Abb. 1b]. Dies erlaubt Sängern, auf einfachste Weise Auswirkungen von Modifikationen des
Vokaltrakts auf ihren Stimmklang während des Singens zu beurteilen (z.B. die Klarheit
der Vokale oder den Vokalausgleich). Gerade bei der Ausbildung des Sängerformanten
(einem Obertonbereich der Stimme, der das Orchester übertönt) ist diese visuelle Kontrolle
sehr hilfreich. Die Messung der Vibrato-Eigenschaften wird durch das Programm ebenfalls
unterstützt.
Hochgeschwindigkeitsglottografie
Das Hochgeschwindigkeitsglottografiesystem (HGG-System) besteht aus einer Hochgeschwindigkeitskamera
(bis zu 4000 Bilder pro Sekunde), die an ein starres Endoskop gekoppelt ist, einer
Kaltlichtquelle sowie einem Computer zur Datenspeicherung. Nach der Aufnahme einer
Sequenz kann am Bildschirm der Schwingungsverlauf der Stimmlippen beurteilt werden.
Hierbei sind besonders die in der herkömmlichen Stroboskopie nicht sichtbaren Unregelmäßigkeiten
[Abb. 4] und Einschwingvorgänge interessant. Dies trägt wesentlich zur Klärung einer funktionell
bedingten Heiserkeit bei.
Interdisziplinarität ist Mittel zum Erfolg
Interdisziplinarität ist Mittel zum Erfolg
Aus unserer Sicht kann nur ein interdisziplinäres Vorgehen einer aus bislang unklarer
Ursache gestörten professionellen Sprech- oder Singstimme gerecht werden, da nur ein
Team aus Spezialisten verschiedener Fachdisziplinen die Vielschichtigkeit einer solchen
Erkrankung abschließend klären kann. Da eine solche Diagnostik sehr personal- und
zeitaufwändig und damit im Regelfall sehr kostenintensiv wäre, sollte sie vor allem
solchen Patienten zugute kommen, bei denen eine vorhergehende HNO-ärztliche und oder
phoniatrische Diagnostik die Beschwerdeursache nicht aufklären konnte und die Künstler
mit ihren langjährig ausgebildeten Stimmen in der Ausübung ihrer Tätigkeit massiv
gehindert werden.
Abb. 1 Elektroakustische Stimmschallanalyse mittels SpeechStudio®: Kurvendarstellung der
gemessenen Parameter (Spektrogramm, Mikrofonkurve, EGG) (a) und die Darstellung der
Mikrofonkurve und des Spektrogramms der Singstimme mit VoceVista®. Die Grundfrequenz
und die Obertöne der Stimme sind im unteren Bildabschnitt zu sehen (b)
Abb. 2 Gezeigt ist das Stimmprofil einer professionellen Sängerin (Singstimme: punktierte
Linie; Rufstimme: durchgehende Linie), die über einen großen Tonhöhenumfang verfügt.
Der Dynamikumfang zeigt eine Steilheit im Verlauf der Pianokurve. Besonders in der
hohen Lage ab d2 (Kopfregister) ist die Minimalintensität eingeschränkt, hohe Töne
können also nur laut gesungen werden. Die Rufstimme erreicht eine höhere Lautstärke
als die Singstimme. Dies deutet darauf hin, dass die technische Schulung der Singstimme
noch optimiert werden kann
Abb. 390°-videolaryngoskopischer Befund in Respirationsstellung (a) und videostroboskopischer
Befund derselben Patientin in Phonationsstellung der Stimmlippen (b). Während in der
Respiration kein pathologischer Befund sichtbar ist, ist bei der stroboskopischen
Untersuchung ein Randödem im Bereich des vorderen Stimmlippendrittels gut zu erkennen,
das zu der von der Patientin geschilderten Störung der Kopfstimme geführt hat
Abb. 4 Irreguläres Schwingungsmuster bei der hochgeschwindigkeitsglottografischen (HGG)
Untersuchung (a) und die Sicherung einer ventralen Schlussinsuffizienz (b). Die Stimmlippenkanten
berühren sich während des phonatorischen Schwingungszyklus in dieser Region nicht
Abb. 5 Messung (a) und Ergebnisdarstellung (b) eines Elektroglottogramms: Die steil ansteigende
Kurve zeigt den Schließungsvorgang der Stimmlippen und die abfallende Kurve den Verlauf
der Stimmlippenöffnung im Rahmen des phonatorischen Schwingungszyklus an