Aktuelle Urol 2005; 36(2): 85-90
DOI: 10.1055/s-2005-870030
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Botulinus-Toxin bei neurogener Inkontinenz - Druckentlastung durch intramuskuläre Injektion

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18 May 2005 (online)

 
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Die neurogene Inkontinenz ist eine häufige Folge von Verletzungen oder Erkrankungen des Rückenmarkes. Ergebnisse einer internationalen europäischen Studie zeigen, dass die Gabe von Botulinus-Toxin die Blasenfunktion signifikant verbessern kann. Insbesondere die Lebensqualität der Patienten wird dadurch deutlich gehoben.

Multiple Sklerose, Myelomeningozele und Rückenmarksverletzung - Erkrankungen wie diese können Ursache einer Blasenentleerungsstörung sein und durch eine Überaktivität des M. detrusor vesicae zur neurogenen Inkontinenz führen. Urologen aus fünf europäischen Ländern untersuchten nun, welche Auswirkungen die intramuskuläre Injektion von Botulinus-A-Toxin (BTA) auf die klinischen Symptome und Begleitumständen hat (Eur Urol 45; 2004: 510-515).

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Acetylcholin-Ausschüttung wird gehemmt

Die Ärzte werteten in der retrospektiven Multicenter-Studie Daten von 231 Patienten mit neurogener Inkontinenz aus, bei denen zystoskopisch BTA in den M. detrusor vesicae injiziert wurde. BTA hemmt die neuronale Ausschüttung des Acetylcholins am neuromuskulären Übergang und führt auf diesem Wege zu einer reversiblen "Denervierung". Diese hat zur Folge, dass die Aktivität der Muskulatur abnimmt und der Tonus nachlässt. Ein Mechanismus, der schon bei anderen Krankheitsbildern wie zum Beispiel zervikaler Dystonie oder Achalasie erfolgreich eingesetzt wurde.

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BTA-Gabe verbessert Blasenfunktion

Im Wesentlichen beurteilten die Forscher die Blasenfunktion anhand verschiedener urodynamischer Parameter, die Menge der zusätzlich eingenommenen Anticholinergika sowie die Zufriedenheit der Patienten nach 12 bzw. 36 Wochen.

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Die Ergebnisse sind eindeutig: Sowohl bei der ersten als auch bei der zweiten Nachuntersuchung zeigte sich eine signifikante Verbesserung von Blasenkapazität (272 ml auf 420 bzw. 352 ml) und Entleerungsdruck (61 cm H20 auf 30 bzw. 44 cm H20). Darüber hinaus konnte das so genannte Reflexvolumen, bei dem die erste Kontraktion des Detrusors ausgelöst wird, signifikant von 236 ml auf 387 bzw. 291 ml gesteigert wurden. Die Blasen-Compliance - das Verhältnis zwischen steigendem Blasenvolumen und Detrusordruck - verbesserte sich ebenfalls, bei der zweiten Analyse jedoch ohne signifikante Relevanz.

Die praktischen Auswirkungen dieser technischen Daten sind für die Patienten von besonderer Bedeutung. 132 von 180 zuvor inkontinenten Patienten (73,3%) berichteten im Verlauf von einer vollständigen Kontinenz, weitere 48 Patienten von einer wesentlichen Symptomabmilderung. 45 Patienten konnten ganz auf eine zusätzliche Einnahme von Anticholinergika verzichten, 118 gelang es, nach der BTA-Injektion den Medikamentenbedarf deutlich zureduzieren.

Weder im Rahmen der zystoskopischen Injektion noch danach traten Komplikationen oder toxische Effekte auf. Lediglich neun Patienten hatten aus ungeklärter Ursache nicht auf die BTA-Gabe angesprochen.

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Fazit

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die intramuskuläre BTA-Injektion ein effektives und zugleich sicheres Behandlungsverfahren bei neurogener Inkontinenz ist. Die Wirkdauer der Injektion beträgt ca. 9 Monate. Bei der Applikation sollte nach Auffassung der Autoren das Trigonum vesicae ausgespart bleiben, um nicht die dort vermehrt vorhandene Innervierung der Blase zu schädigen.

Uwe Glatz, Eppingen

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Erster Kommentar

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M. Coen

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Zwei Antworten bleibt uns die Arbeit schuldig

In den letzten Jahren wurden in mehreren urologischen Zeitschriften Arbeiten über die Verwendung von Botulinum-A toxin (BTA) veröffentlicht.

Die intramuskuläre Injektion von BTA in den Musculus detrusor vesicae wurde erstmals im Jahr 2000 durch Schurch et al. im Journal of Urology veröffentlicht.

Die erste veröffentlichte Verwendung von BTA in der Urologie geht auf die späten 80er-Jahre zurück. Diese Arbeiten betreffen die Behandlung des externen urethralen Sphinkters bei Patienten mit Rückenmarksverletzung.

Im Gegensatz zu früheren Arbeiten handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine Multicenter-Studie mit hoher Fallzahl.

200 Patienten mit neurogener Harninkontinenz und Detrusorhyperaktivität wurden mit einer Höchstdosis von 300 I.E. BTA per Injektion in den Musculus detrusor vesicae an 30 verschiedenen Stellen unter Aussparung des Trigonums behandelt.

132 von 180 zuvor inkontinenter Patienten berichteten nach Behandlung von einer vollständigen Kontinenz, weitere 48 von einer wesentlichen Symptommilderung. 45 der Patienten konnten auf die Einnahme von Anticholinergika verzichten, weitere 118 konnten ihren Medikamentenbedarf reduzieren.

Außer diesem wesentlichen klinischen Benefit wurden eine statistisch signifikante Verbesserung der Blasenkapazität und des Entleerungsdruckes sowie eine Steigerung des sog. "Reflexvolumens" erreicht. Diese Parameter wurden 12 bzw. 36 Wochen nach der Behandlung evaluiert. Die BTA-Injektion wurde hinsichtlich der Nebenwirkungen und Komplikationen in der Durchführung, sowie auch in mehreren anderen Arbeiten als eine sichere Methode befunden.

Ähnliche Daten konnten wir in unserer im Journal of Urology veröffentlichten Arbeit Botulinum-A toxin injection into the detrusor: a save alternative treatment of children with myelomeningocele with detrusor hyperreflexia (Riccabona et al. Journal of Urology 2004) erheben.

Zwei Antworten, die von Bedeutung sind, bleibt uns auch diese Arbeit schuldig.

Zum einen, dass es weiterhin keine Langzeitdaten bezüglich der Wiederholbarkeit dieser Methode ohne Verlust der Effektivität gibt. Dies ist auch hinsichtlich des relativ jungen Alters der zu behandelnden Patienten nicht unwesentlich.

Zum zweiten gibt es außer Untersuchungen im Tiermodel keine Erkenntnisse über eventuelle Veränderungen der neuromuskulären Architektur des Musculus detrusor vesicae durch wiederholte Injektionen. Untersuchungen in diese Richtung könnten eventuell auch die Frage beantworten, warum es auch sog. "BTA- Versager" gibt, was auch die Autoren in ihrer Arbeit zur Diskussion stellen.

Zusammenfassend bleibt eine Behandlung mit BTA eine minimal invasive, sicher anwendbare Methode, die die Lebensqualität der Patienten verbessert und eine gute Alternative zur druckfreien Harnableitung darstellt. Diese Studie mit hoher Fallzahl unterstreicht diese Aussage.

Um diese Therapie, wie zuzeit die pharmakologische Therapie mit Anticholinergika, als sog. "First-Line-Therapie" anbieten zu können, sind Langzeitdaten und wie oben erwähnt genauere Untersuchungen unter Studienbedingungen erforderlich.

Dr. Mark Koen, Linz

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Zweiter Kommentar

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S. Corvin

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Eine Langzeitstudie wäre wünschenswert

Bei Patienten mit neurogener Detrusorhyperaktivität wird im Regelfall eine medikamentöse Therapie mit z.T. sehr hohen Dosen anticholinerger Substanzen durchgeführt. Im Falle eines mangelnden Therapieerfolgs oder signifikanter Nebenwirkungen z.B. in Form von Mundtrockenheit oder Obstipation wurden bislang v.a. operative Maßnahmen wie z.B. die Blasenaugmentation angewandt. Seit einigen Jahren steht mit der Injektion von Botulinumtoxin (BTX) eine weitere Therapiealternative zur Verfügung. Erste Ergebnisse dieser Therapie bei selbstkatheterisierenden Patienten nach traumatischem Querschnitt und konsekutiver neurogener Blasenentleerungsstörung wurden 2000 von Schurch et al. vorgestellt [1]. In dieser und weiteren Studien mit zunächst kleinen Patientenkollektiven konnten gute Erfolge bez. Harnkontinenz erreicht werden. In der vorliegenden Untersuchung wurden nun erstmals die Ergebnisse der BTX-Detrusorinjektion in einer großen Multicenterstudie mit insgesamt 200 vollständig dokumentierten Patienten evaluiert.

Gerade bei der Anwendung von BTX ist eine sorgfältige Patientenselektion von großer Bedeutung. In die vorliegenden Studie wurden ausschließlich Patienten mit neurogener Detrusorhyperaktivität aufgrund einer Multiplen Sklerose (n=11), Myelomeningozele (n=22) bzw. Rückenmarksläsion (n=167) aufgenommen. Eine Heterogenität in der Zusammensetzung des Patientenkollektivs entsteht allerdings dadurch, dass sowohl Patienten mit Inkontinenz unter anticholinerger Medikation als auch solche mit Kontinenz, aber schwerwiegenden Nebenwirkungen in die Therapie eingeschlossen wurden. Hier wäre es sicherlich interessant, zu überprüfen, ob Unterschiede z.B. in den postoperativen urodynamischen Messparametern zwischen diesen beiden Gruppen bestehen. Leider wurde von den Autoren auch nicht angegeben, ob alle inkontinenten Patienten vor BTX-Injektion medikamentös komplett "austherapiert" waren.

Die BTX-Detrusorinjektion sollte, wie in dieser Studie dargestellt, unter streng standardisierten Bedingungen erfolgen. Die Substanz sollte an ca. 20 bis 30 Stellen unter Aussparung des Trigonum vesicae transurethral in den Detrusor injeziert werden. In einer vorangegangenen Dosisfindungsstudie wurde eine Injektionsmenge von 300 U Botox als optimale Dosis identifiziert. Niedrigere Dosen scheinen mit eingeschränktem Erfolg, höhere Dosen möglicherweise mit einer erhöhten Toxizität assoziiert zu sein. In bisher publizierten Studien konnten bis zu einer Gesamtdosis von 360 U jedoch keine signifikanten unerwünschten Nebenwirkungen beobachtet werden.

Die urodynamische Untersuchung erfolgte standardisiert nach der Empfehlung der "International Continence Society". Einschränkend ist jedoch anzumerken, dass die postoperative Evaluation nicht nach einem definierten Zeitintervall, sondern "durchschnittlich" nach 83,6±29 Tagen bzw. eine zweite Messung nach 256±51 Tagen, also mit einer großen Variationsbreite, durchgeführt wurde.

Die BTX-Injektion zeigte eine signifikante Zunahme von Blasenkapazität, Blasen-Compliance, max. Detrusordruck sowie Restharn. 132 der 180 inkontinenten Patienten gab ein vollständiges Verschwinden, 48 zumindest eine Besserung der Inkontinenz an. Die begleitende anticholinerge Medikation konnte bei den meisten Patienten abgesetzt oder zumindest reduziert werden. Dies deckt sich mit Ergebnissen früherer Studien mit kleineren Patientenkollektiven. Leider fehlen Angaben darüber, ob bei den 9 Non-Respondern, wie an unserer Klinik üblich, eine frühe Reinjektion durchgeführt wurde. Die Autoren geben als Wirkdauer einen Zeitraum von mindestens 9 Monaten an. Dies deckt sich mit Daten von Riccabona, der in einer kürzlich publizierten Studie bei Kindern mit Myelomeningozele eine durchschnittliche Wirkung der BTX-Therapie von 10,5 Monaten fand.

In der vorliegenden Arbeit werden die Daten der bislang größten Multizenterstudie zur Wirkung einer BTX-Detrusorinjektion bei neurogener Detrusorhyperaktivität dargestellt. Der Erfolg der Therapie konnte gut dokumentiert werden, auch wenn aufgrund geringer Mängel bei der Standardisierung und einer fehlenden Randomisierung natürlich Einschränkungen bestehen. Es wäre wünschenswert, wenn die Autoren in einer Folgestudie auch den Langzeitverlauf der Patienten dokumentieren könnten.

Literatur beim Autor

PD. Dr. Stefan Corvin, Tübingen

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Dritter Kommentar

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B. Wefer

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Exzellent aufbereitete Daten, auch für den Niedergelassenen

Reitz et al. stellen in ihrer Arbeit "European Experience of 200 Cases Treated with Botulinum-A Toxin Injections into the Detrusor Muscle for Urinary Incontinence due to Neurogenic Detrusor Overactivity" die Ergebnisse einer Multicenter-Studie nach Botolinum-A-Toxin-Injektion in den Detrusor bei neurogener Inkontinenz vor.

Das Patientengut umfasste hauptsächlich querschnittsgelähmte (n = 167), aber auch Meningomyelozelen (n = 22) und Multiple-Sklerose-Patienten (n = 11). All diese Patienten wiesen eine neurogene Blasenentleerungsstörung im Sinne einer neurogenen Detrusorüberaktivität auf. Die überwiegende Mehrheit der Patienten litt an neurogener Inkontinenz (n = 146), während 20 Patienten starke Nebenwirkungen aufgrund der anticholinergen Therapie und 34 Patienten sowohl Inkontinenz als auch Nebenwirkungen dieser Therapie aufwiesen. Bei diesen Patienten wurde vor Injektion von 300 IE Botox A in den Detrusor sowohl eine urodynamische Messung als auch eine Befragung nach der Schwere der Inkontinenz und der bestehenden Medikation durchgeführt. Im Mittel 12 bzw. 36 Wochen nach Injektion erfolgten die Follow-up- Untersuchungen.

Das Botulinum-Toxin A konnte ohne Nebenwirkungen durch die Injektion oder durch das Medikament selbst appliziert werden. Bei der ersten Kontrolluntersuchung 3 Monaten nach Injektion konnten signifikante Verbesserungen aller urodynamischen Parameter gezeigt werden. Die zweite Kontrolluntersuchung, zu der allerdings bis zur Veröffentlichung des Artikels nur 99 von 200 Patienten eingeschleust werden konnten, zeigte ebenfalls deutliche Verbesserungen der urodynamischen Parameter, wenngleich diese im Vergleich zur ersten Follow-up-Messung weniger gute Werte erzielte. Dennoch waren sowohl maximale Blasenkapazität, Reflexvolumen und Detrusordruck bei Miktion signifikant gebessert.

Klinisch zeigten 132 von zuvor 180 inkontinenten Patienten nach Injektion eine komplette Kontinenz; beim zweiten Follow-up waren 72 von 99 Patienten noch komplett trocken. 48 Patienten berichteten über eine Verbesserung der Inkontinenzsituation.

Bezüglich der anticholinergen Medikation konnten 45 Patienten diese komplett absetzen, während 118 Patienten diese zumindest in reduzierter Dosierung nach Injektion von Botox A einnahmen.

In der Diskussion gehen die Autoren auf weitere Fragestellungen ein, die sich aus ihren Daten ergeben. Was ist die ideale Dosierung und Verdünnung für die Detrusorinjektion? Welche histologischen Auswirkungen hat die Botoxinjektion auf den Detrusormuskel? Warum profitierten 9 von 200 Patienten nicht von der Injektion? Handelte es sich um Non-Responder oder lagen möglicherweise Fehler bei der Verdünnung oder beim Toxin selbst vor? Inwieweit konnte die Katheterisierungsfrequenz nach Injektion gesenkt werden?

Insgesamt handelt es sich bei dieser Veröffentlichung um exzellent aufbereitete Daten, die nicht nur den neurourologisch interessierten Kollegen, sondern auch den niedergelassenen Arzt, der bisher dem von Inkontinenz und Nebenwirkungen gebeutelten Patienten mit neurologischer Grunderkrankung, von der Anwendung der Botox-Injektion überzeugen. Es steht nun neben den klassischen anticholinergen Medikamenten eine weitere nichtoperative Therapiealternative für neurogene Inkontinenz zur Verfügung, die minimal invasiv und bisher ohne wesentliche Nebenwirkungen appliziert werden kann. Die Daten sind suffizient aufgearbeitet, werden von Anfang an detailiert präsentiert und sind von klinischer Relevanz. Abzuwarten bleiben die Langzeitergebnisse dieser Patienten nach möglichen Re-Injektionen. Ebenfalls interessant und in einigen Kliniken bereits durchgeführt ist die Möglichkeit der Botoxinjektion auch bei nichtneurogener Urgency bzw. Urge-Inkontinenz. Mitentscheidend für eine erfolgreiche Anwendung in dieser Patientengruppe werden mögliche Nebenwirkungen, der Leidensdruck der Patienten und mögliche Blasenentleerungsstörungen nach Injektion (Möglichkeit der kompletten Detrusorlähmung mit der Konsequenz der Blasenentleerung z.B. per Selbstkatheterismus) sein. Erste Daten aus unserer Klinik zeigen ermutigende Ergebnisse.

Ein weiterer wichtiger Punkt, damit die Botox-Injektion als Therapiealternative überhaupt eingesetzt wird, ist die offizielle Zulassung zur Behandlung von Blasenentleerungsstörungen. Diese Veröffentlichung von Reitz et al. unterstreicht die Notwendigkeit, Botox endlich auch in der Urologie zuzulassen.

Dr. Björn Wefer

PD Peter M. Braun, Kiel

 
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S. Corvin

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B. Wefer