Aktuelle Dermatologie 2005; 31(11): 527-530
DOI: 10.1055/s-2005-870553
Kleine Kulturgeschichte der Haut
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Tätowieren und Tattoo

Tattooing and TattoosE.  G.  Jung
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Prof. Ernst G. Jung

Maulbeerweg 20 · 69120 Heidelberg

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Publication Date:
22 November 2005 (online)

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Tätowierungen sind Farbeinsprengungen in die Haut, wobei solche in die Epidermis und Einfärbungen der Hornschicht mit dem epidermalen Umsatz (turnover) in Tagen bis Wochen auswachsen, und als vorübergehende Tätowierungen neuerdings als eine Form des „body painting” verstanden werden. Werden unlösliche Farbpartikel in die Dermis (Corium) eingeritzt oder gestochen, so bleiben diese im Corium liegen und die Tätowierung ist permanent, sie bleibt lebenslang bestehen und sichtbar. Eine Entfernung ist meist wesentlich aufwändiger und kostspieliger als das Anbringen von Tätowierungen. Oft ist eine solche weder vollständig noch narbenfrei zu erreichen, auch wenn die moderne und differenzierte Lasertechnik erfreulicherweise gewaltige Fortschritte gemacht hat.

Zur permanenten Tätowierung dienen natürliche Pigmente mineralischen und pflanzlichen Ursprungs sowie unlösliche und innerte Farbstoffe chemischer Art [1]. An unerwünschten Nebenwirkungen, außer dass die ganze Tätowierung wegen ihres Sujet oft nur kurze Zeit aktuell ist und erwünscht bleibt, kommen Kontaktallergien auf Farbbestandteile, Fremdkörper-Granulome, Narbenkeloide und Infektionen vor, die zumeist ein therapeutisches Eingreifen bedingen.

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Einige Bemerkungen zur Geschichte

Tätowierungen kommen offenbar in allen Kulturen vor und sind in den frühesten Funden konservierter Haut aufzufinden. Dies gilt auch für die Bewohner Europas in der Steinzeit. So weist die 1991 im Ötztal gefundenen Gletscherleiche „Ötzi” 50 Tätowierungen in 15 Gruppen auf: parallele Linien über der unteren Wirbelsäule, Streifen um den rechten Fußknöchel und eine Kreuzform in der rechten Kniekehle. Aber auch in den „jung gebliebenen” Kulturen in Polynesien und Afrika finden sich viele und reichhaltige Tätowierungen, oft in Kombination mit Narben und eingestochenen Gegenständen (Piercing). Das Wort selbst ist aus dem polynesischen „tatau” entstanden und meint „Zeichen”, oder ta-tatau für „kunstgerecht hämmern”. Tätowierungen gehören, so meint eine Kulturhypothese, in alle frühen, größtenteils überwundene Zivilisationsstufen. Sie sind womöglich mit oder gar vor der Schrift aufgetreten und vielfältig angewandt worden. Der Papua tätowiert sich selber, sein Boot, seine Instrumente und Gerätschaften, kurz alles was ihm gehört. Besitz wird gekennzeichnet und festgehalten. Daraus konnten sich kunstvolle Gestaltungen (Ornament) entwickeln und persönlicher Schmuck. Dies führt weiter zur individuellen Darstellung der eigenen Person, zu Selbstbewusstsein also. Gleichzeitig entwickelten sich besondere Tätowierungen zur Kennzeichnung von Familie, Sippe und Stamm, von politischer und religiöser Zuordnung und der hierarchischen Einordnung in dieselben (Rangabzeichen). Einschluss, Funktion und Verantwortung in einer Gemeinschaft wurden bleibend in der Haut festgehalten. Dies diente nicht nur der Abgrenzung, sondern auch zum Ausschluss aus anderen Gemeinschaften. „Einschluss per Ausschluss” lautet das Stichwort, es war so bei den Urchristen und gilt auch heute noch. Bei den Kreuzfahrern allerdings war die Jerusalem-Tätowierung Auszeichnung und Ehrenmal einer Elite.

Im 18. Jahrhundert brachten die Seefahrer die Tätowierungsmode nach Europa, wo sie nicht nur den Adel und die Bürgerschaft ergriff, sondern ganz besonders die Unterschichten, die Soldaten (manche Regimenter hatten eigene Tätowierer), die Matrosen, die Strafgefangenen, aber auch das Jahrmarktsvolk und Schauspielgruppen. Eine regelrechte Tätowierlust und ein Boom der Tätowierkunst hielten sich bis zum ersten Weltkrieg 1914. Obschon die christliche Kirche und deren Missionen das Tätowieren als heidnisches Relikt aus dem „Kindheitsstadium der Menschheit” verteufelten, blieb es als Faszinosum, Schmuck und Charakteristikum der Randgruppen auch weiterhin erhalten und wurde in einer Art Subkultur fortentwickelt. Walther Schönfeld hat dies gesammelt, zusammengestellt und 1960 publiziert [2] , und Stephan Oettermann hat diese Entwicklung im Laufe der Zeit dargestellt [3].

Bezeichnend ist die besondere Bedeutung von Tätowierungen im Roman „Moby Dick” von Hermann Melville, der 1851 erschienen ist. Dort wird der Schiffszimmermann Queequeg mit ausgedehnten und geheimnisvollen Tätowierungen geschildert, die sein Leben und seine Stammesherkunft in verschlüsselter Form vermitteln würden. Des Weiteren wird der ominöse weiße Pottwal als mit Narben und Wunden überzogen geschildert; gleichsam durch die Spuren erfolgloser Walfänger tätowiert und zusätzlich mit Stricken und Harpunenresten zum Jagdobjekt installiert. Das ist nicht Ausdruck künstlerischer Phantasie, sondern wird als Wiederaufnehmen von frühgeschichtlichen, primitiven Ritualmarkierungen [4] gedeutet.

Einiges hat sich bis heute, wenn auch in geringerem Umfang, gehalten, wie die Markierung einer Schiffscrew (Äquatortaufe), die Mitgliedschaft in der Fremdenlegion oder diejenige einer besonderen Spezialeinheit. Dies bestätigt sich auch in einer bemerkenswerten Sammlung von Tätowierungen russischer Strafgefangenen, die 2005 in Deutsch herauskam [4] und zeigt, dass Verbrecher in Russland nach wie vor Gesellschaft und Familie auf immer verlassen und in eine besondere Identität des Kriminellen eintreten. Sie haben eine geheime Sprache und eine spezifische Fixierung derselben auf der Haut des Gefangenen als Tätowierung. Die Existenz und die Biographie des Verbrechers werden damit für ihn und andere lesbar. Die Bildersprache ist komplex; Nazisymbolik, KBG-Insignien, religiöse, frauenfeindliche und antisemitische Inhalte kommen gehäuft vor. Der Rang des Häftlings wird eingetragen und oft sogar eine Botschaft an Mitgefangene. Ausgrenzung durch Eingrenzung! Persistenz also der Tätowierhandhabe in einer extremen Randgruppe.

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Das 20. Jahrhundert

Dennoch ist es nicht zu übersehen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Tätowierungen und die Tätowierkunst verdrängt, ja abgelehnt und mit Gleichgültigkeit belegt wurden. Tätowieren war out, wieder einmal!

Und dann zeichnet sich eine drastische Wende ab, die von der Architektur (Le Corbusier) und der dekorativen Kunst ausging. Die Oberfläche und deren Gestaltung, Dekoration und Ornament wurden bedeutsam und standen fast vor der Struktur, ja sie wurden integraler Teil von Bauwerken aller Art. Die Kunsttheorie trieb Blüten und wurde von der „Haut der Gebäude” auf den Menschen und dessen Haut übertragen und wieder betont [4]. Doch der künstlerische Enthusiasmus der Architekten und Gestalter wurde von den Tätowierern weiter getragen. Weiter in den Dienst der Individualdarstellung, der psychologischen Bekenntnisse (outing) und letztlich bis in eine dramatische Kommerzialisierung. Dieser bemerkenswerten, dreistufigen Entwicklung gilt nun unser Augenmerk.

Der Enthusiasmus führt seit einigen Jahrzehnten zu einem explosionsartigen Boom, der aus USA und Asien nach Europa kam. Und damit kam auch der neue, universale Name Tattoo.

In Amerika sollen schon mehr als 50 Millionen Menschen ein Tattoo tragen, oder mehrere. Es wird geschätzt, dass schon 10 % der Deutschen Tattoo-Träger sind und unter den Jugendlichen mögen es schon 25 % sein. Und Tattoos nehmen weiter zu, an Zahl und an Vielfalt.

Zunächst sind es in einer fast scheuen ersten Phase zumeist kleine Marken, schöne Zeichnungen oder Ornamente, oft farbig, auf Schulterblättern, Oberarmen, Lendenwirbelsäule oder Knöchel. Es sind stolz getragene Beweise, etwas Eigenes, Besonderes zu sein und, einsichtig zumeist, dies zu bekennen. Ausdruck von Mut und gelegentlich auch Bekenntnis zu einem Partner spielen mit.

Mit fließendem Übergang schließt sich eine zweite Phase an, nun mit massiven Tattoos. Es finden sich neue Formen der Körperverzierung, sie wachsen aus dem Kragen, aus dem Dekolleté heraus, erfüllen Arme und Beine, zieren den Nabel und quellen an der Lende aus der tief sitzenden Hose. Der Sujets sind viele und Phantasie kommt zum Ausdruck. Oft werden Kunstelemente aus vergangenen Kulturen und Traditionen (tribal tattoo) aufgenommen. Andere orientieren sich an Science fiction - Motiven aus Literatur, Film oder Comics. Tiere (Abb. [1]), Fabelwesen, religiöse Symbole und erotische Anspielungen finden sich ebenso wie vielgestaltige Kalligraphien mit Glücks- und Heilsbotschaften ferner Religionen, allgemeiner Spiritualität oder Protest (Abb. [2]).

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Abb. 1 Kleinformatiges Skorpionmuster.

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Abb. 2 Che Guevara als Symbol von Revolution und Befreiung.

Im Gegensatz zum „permanent make-up” (Augenbrauen, Lippenkonturen), welches etwas Gegebenes verschönert, soll mit dem Tattoo durch eine eigene ästhetische Maßnahme etwas Neues, Persönliches dargestellt werden, welches vom Körper selbst niemals hervorgebracht würde. Es soll eine eigene Qualität zur Darstellung kommen, manchmal handgreiflich aggressiv und zuweilen als verschlüsselte Bildergeschichte. Der Selbstwert wird auf urtümliche Weise dargestellt. Man fühlt sich frei, wild, ungestüm und erotisch, was bekannt gemacht und öffentlich gezeigt werden will. Exponenten sind Prominente aus Kultur, Sport und Entertainment, denen nachgeeifert wird. Bisweilen kommt es zu bizarren Exzessen, wenn eine Schauspielerin sich den Namen ihres Partners zwischen die Beine tätowieren lässt. Ein Partnerwechsel geht dann nur noch mithilfe eines Laser-erfahrenen Dermatologen über die Bühne.

Als dritte Phase muss die neueste Entwicklung verstanden werden. Die Tattoos bedecken annähernd den ganzen Körper. Dieser wird zur Skulptur, zum eigens installierten Werk der Selbstgestaltung (Abb. [3]). Der Träger hat also zwei Leiber, den einen vorgegebenen natürlichen, und den willkürlichen, den durch Bildersprache und Körperbeschriftung vom Tätowierer geschaffenen [6]. Und der willkürliche bewegt sich durch den unterlegten, natürlichen Leib und beginnt gleichsam ein eigenständiges Dasein.

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Abb. 3 Großflächiges farbiges Phantasietattoo am Oberkörper einer jungen Dame.

Eine solche Ganzkörper-Installation eines Trägers muss mit dem Tätowierer zusammen geplant werden als ein integrales Kunstprodukt. Struktur und Ornament werden vereinigt, um die ursprüngliche künstlerische Phantasie zu verwirklichen. Dies ist ein großes Anliegen und bedingt einen Rahmenplan, der Schmerz, Zeit und Kosten respektiert. Der Tätowierer gehört dazu, der Creator, und der Tätowierte als Träger. Wer ist Besitzer und hält Anrechte?

Ziel solcher Ganzkörper-Tattoos ist nicht allein die künstlerische Installation als Schmuck und Ausdruck der Phantasie, oder als Ausdruck der gestalteten Selbstfindung. Ziel ist auch die Schaffung eines vitalen Kunstwerkes, verglichen mit einer Skulptur, das Eigenbedeutung bekommt und einen kommerziellen, veräußerbaren Wert findet. Neben der Selbstwerbung werden solche „Werke” auch für Fremdwerbung interessant.

Solches ist im Schauspiel Tattoo von R. Desvignes und I. Baudesima [7] in extrem gezeichneter Form dargestellt und am 1. 6. 2002 im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt worden. Eine knappe Zusammenfassung möge dies illustrieren:

Im Zentrum steht ein Liebespaar Fred und Lea, er ein erfolgloser Schriftsteller und sie eine Schauspielerin. Tiger taucht auf, Leas alter Freund, ein absolut trendgerechter Künstler mit steiler Karriere. Er ist selbst das reinste Kunstwerk, sein Körper ist über und über mit Tätowierungen geschmückt. Betrunken verspricht Lea, im Falle seines Todes, den kostbaren mumifizierten Body von Tiger an sich zu nehmen und zu pflegen.

Kurz darauf kommt Tiger bei einer Kunstauktion ums Leben und seine plastifizierte Tattoo-Leiche kommt zu Lea. Deren böse Halbschwester Naomi, Galeristin von Tiger und seine Gelegenheitsgeliebte, taucht auf, nimmt die Tattoo-Leiche an sich und versucht, diese in USA zu verscherbeln. Der hohe Preis macht Lea unsicher und man plant, den Gewinn zu teilen. Da taucht Tiger, mit Assistent Alex, lebend wieder auf. Der Unfall war ein auf Video gebannter Fake, die falsche Leiche mit Kamera und Aufnahmegerät bestückt, und sämtliche Aufnahmen ums Leben mit dem Toten sind dokumentiert. Sie sollen auf der nächsten Art Fair in New York zusammen mit dem Vitrinentoten als Installation Tigers Ruhm ins Unermessliche steigern.

Da erschlägt Alex den Tiger. Die Geschichte erweist sich als Fiktion von Fred und soll als Metapher für das „Ende der Moderne” stehen. Zurück bleibt das Liebespaar Fred und Lea und wieder kommt ein alter Freund zu Besuch.

Damit ist die Tattoo-Euphorie in ihrer dritten Phase bei einem extremen Punkt angelangt und man kann gespannt sein, wohin die weitere Entwicklung gehen könnte.

Gleichsam als Steigerung einer Tätowierung, was die Tiefe der Verletzung anbelangt, kann die Brandmarkung [2] [3] betrachtet werden, wobei Zugehörigkeit als lebenslanger Besitz eingebrannt wurde (Rinderherden, Sklaven, SS-Runen etc.) oder die unwiderrufliche Ausstoßung aus der gesetzlich geregelten Gesellschaft als „vogelfrei” mit der eingebrannten „Fleur de Lys”. Daraus entwickelte sich neuerdings das „Branding”, wobei mit heißem Eisen Körperschmuck in die Haut eingebrannt wird, wohl auch als Mutprobe. Die zurückbleibenden Narben haben bei manchen Menschen, ähnlich eben wie Tattoo und Piercing, den Stellenwert von Körperschmuck.

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Literatur

  • 1 Schmitz I, Kovalchuk A, Müller K-M, Epple M. Charakterisierung von Pigmentierungsfarbstoffen.  Akt Dermatologie. 2005;  31 514-518
  • 2 Schönfeld W. Körperbemalen: Brandmarken und Tätowieren. Heidelberg; Hüthig 1960
  • 3 Oettermann S. Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa. Frankfurt a. M; Syndicat 1979
  • 4 von Arberg H-G. Archäodermatologie der Tätowierung in der Architektur und Literatur zwischen 1830 und 1930.  Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 2003;  77 407-445
  • 5 Baldajew D. Russian Criminal Tattoo. Encyclopaedia. Deutsche Ausgabe. Göttingen; Steidl 2005
  • 6 Kaube J. Tattoo or not to be? Der Körper als Schautafel. FAZ, Sonntagszeitung 9. 11. 2003. 
  • 7 Desvignes R, Baudesima I. Tattoo, Schauspiel. In: Baudesima I Norway Today. Frankfurt a. M; Fischer 2003

Prof. Ernst G. Jung

Maulbeerweg 20 · 69120 Heidelberg

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Literatur

  • 1 Schmitz I, Kovalchuk A, Müller K-M, Epple M. Charakterisierung von Pigmentierungsfarbstoffen.  Akt Dermatologie. 2005;  31 514-518
  • 2 Schönfeld W. Körperbemalen: Brandmarken und Tätowieren. Heidelberg; Hüthig 1960
  • 3 Oettermann S. Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa. Frankfurt a. M; Syndicat 1979
  • 4 von Arberg H-G. Archäodermatologie der Tätowierung in der Architektur und Literatur zwischen 1830 und 1930.  Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 2003;  77 407-445
  • 5 Baldajew D. Russian Criminal Tattoo. Encyclopaedia. Deutsche Ausgabe. Göttingen; Steidl 2005
  • 6 Kaube J. Tattoo or not to be? Der Körper als Schautafel. FAZ, Sonntagszeitung 9. 11. 2003. 
  • 7 Desvignes R, Baudesima I. Tattoo, Schauspiel. In: Baudesima I Norway Today. Frankfurt a. M; Fischer 2003

Prof. Ernst G. Jung

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Abb. 1 Kleinformatiges Skorpionmuster.

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Abb. 2 Che Guevara als Symbol von Revolution und Befreiung.

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Abb. 3 Großflächiges farbiges Phantasietattoo am Oberkörper einer jungen Dame.