Z Orthop Ihre Grenzgeb 2005; 143(3): 261-269
DOI: 10.1055/s-2005-871810
Orthopädie aktuell

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Die besondere Problematik des Endoprothesenpatienten in der Begutachtung

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24 June 2005 (online)

 
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Dr. Christoph Visé

Die Zahl der implantierten Endoprothesen nimmt weltweit zu. Bereits in den 90-Jahren wurden in Deutschland circa 180000 Hüftendoprothesen und ca. 50000 Knieendoprothesen pro Jahr implantiert (Kleimann, 1996). Damit wächst ständig die Bedeutung der Beurteilung von Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit der Implantation von Endoprothesen. Grundlage jeder Begutachtung muss dabei einerseits die individuelle Berücksichtigung des Einzelfalles, andererseits aber die Spiegelung dieses Einzelfalles an allgemeinen Bewertungsmaßstäben sein, um so ein Maximum an Vergleichbarkeit und Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen. Ein besonderes Problem stellt insofern die nach wie vor kaum übersehbare Vielfalt der verschiedenen Prothesensysteme dar.

Eine Dissertation zu dem Thema "Kompendium der Hüftendoprothetik" der LMU München kommt 2002 zu dem Ergebnis, die Tatsache, dass im deutschsprachigen Raum derzeit ca. 300 verschiedene Hüftprothesensysteme existierten, lasse die Vermutung zu, dass die ideale Prothese noch nicht gefunden sei. Die Art der eingebrachten Prothese kann daher sicher nicht entscheidendes Bewertungskriterium sein. Vielmehr müssen auch bei der Beurteilung der Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen nach Prothesenimplantation die allgemeinen Kriterien Anwendung finden, die bei der Bewertung anderer Gesundheitsstörungen und Verletzungsfolgen des Bewegungsapparates seit Jahrzehnten eingesetzt werden. In erster Linie sind dies das Bewegungsausmaß des endoprothetisch ersetzten Gelenkes, mögliche Gelenkkontrakturen, die Stabilität des Gelenkes und die Statik einschließlich der Beinlängendifferenz, die muskuläre Führung des Gelenkes und die Kraft der Muskulatur, der Zustand der gelenkumgebenden Weichteile, der Röntgenbefund im Hinblick auf die Frage, inwieweit eine Rekonstruktion anatomischer Verhältnisse gelungen ist und ob Lockerungszeichen vorliegen und die objektive Notwendigkeit von Hilfsmitteln.

Vergleicht man das Ausheilungsergebnis nach Endoprothesen mit dem typischer anderer Gelenkoperationen zeigt sich allgemein, dass bei der Resektions-Arthroplastik des Gelenkes zumeist nur eine geringe Gelenkstabilität bei mäßiger Beweglichkeit und häufig verbleibendem erheblichem Reizzustand resultiert, die Versteifung des Gelenkes sichert bei korrektem Verlauf ein Optimum an Stabilität bei zumeist fehlendem Weichteilreizzustand, die mit einem Verlust der Beweglichkeit erkauft wird; mit der Endoprothese wird versucht, Nachteile beider Operationsverfahren zu vermeiden. Bei gutem Ergebnis wird eine gute bis vollständige Gelenkbeweglichkeit bei vollständiger Stabilität und fehlendem bis maximal leichtem Weichteilreizzustand erreicht. Die grundsätzlichen Besonderheiten von Endoprothesen, die auch bei der Begutachtung berücksichtigt werden müssen, bestehen in erster Linie im Risiko der Lockerung, das die Notwendigkeit des risikobewussten Verhaltens und damit der Einschränkung der Lebensführung zur Lockerungsprophylaxe erfordert, in der vermehrten Verletzungsgefahr (zum Beispiel in Form der periprothetischen Fraktur) und in dem Verlust an körperlicher Integrität, denn es handelt sich um einen permanenten Fremdkörper ("Ersatzteil"). Dies kann zur Beeinträchtigung des psychischen und physischen Verhaltens der Betroffenen führen; das Bewegungsverhalten Gesunder wird oft trotz optimaler Implantationstechnik nicht erreicht.

Schon frühzeitig haben sich Bewertungsschemata für die Einschätzung des klinischen Ausheilungsergebnisses nach Endoprothesen etabliert. Beispielhaft sei auf die Bewertung nach Merle d'Aubigné und den Score nach Charnley oder Judet zur Bewertung der Hüftendoprothese verwiesen. Diese berücksichtigen im Wesentlichen den verbliebenen Schmerz, das Bewegungsausmaß und die Gehfähigkeit, der HSS-Score zusätzlich das röntgenmorphologische Ausheilungsergebnis. Ähnliche Scores wurden für die Knieendoprothese (HSS, Knee Society-Score) und für die Schulter (Constant und Murley) entwickelt. Dies hat im Bereich der privaten Unfallversicherung zu dem Versuch geführt, die Gesamtbewertung nach dem Merle d'Aubigné-Score entsprechenden Teilinvaliditätsgraden nach dem Beinwert gegenüberzustellen. Tabelle [1] zeigt auszugsweise diese Gegenüberstellung.

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Tab. 1 Gegenüberstellung Merle d’Aubigné - Funktionsbeeinträchtigung PUV (nach Reichenbach, 1993)

Diese auf den ersten Blick plausible Gegenüberstellung eines klinischen Scores und der vertragsgemäßen Bewertung in einem Versicherungsbereich hat dennoch in der Praxis kaum Verbreitung gefunden. Zwar bieten die vorstehend genannten Bewertungsschemata durchaus Vorteile, insbesondere im klinischen Alltag, denn sie bieten zahlreiche patientennahe und alltagsnahe Kriterien, erlauben eine differenzierte Abstufung und können daher Basis für vom Laien gut nachvollziehbare Begründungen sein. Dem stehen aber deutliche Nachteile für die Begutachtung insofern gegenüber, als es sich um zahlreiche subjektive und damit vom Betroffenen beeinflussbare Kriterien handelt und durch Einbeziehung von Alltagsparametern die Gefahr der Loslösung vom Prinzip der abstrakten Bewertung besteht, dass in zahlreichen Versicherungsbereichen gilt.

Im Begutachtungsalltag handelt es sich zumeist um die Beurteilung von Hüft- und Knieendoprothesen; in letzter Zeit zunehmend auch von Schulterendoprothesen. Die Beurteilung von endoprothetischem Ersatz anderer Gelenke hat demgegenüber nach der Erfahrung des Autors bisher in der Begutachtungspraxis nur eine marginale Bedeutung. Allgemeine Konsequenzen für die Betroffenen nach Hüft- und Knieendoprothesen im Freizeitbereich ergeben sich zunächst aus der Notwendigkeit der Vermeidung gelenkbelastender Tätigkeiten im Sinne der Lockerungsprophylaxe. Nach Zichner (1992) sollen Patienten mit Hüfttotalendoprothese Tennis, Alpin-Skilauf, Reiten sowie Laufsportarten mit besonderer Erschütterungsbelastung meiden; bedingt geeignet sind danach Skilanglauf, Jogging, Golf und Tischtennis; geeignet sind Schwimmen, Gymnastik, Radfahren, Wandern und Rudern. Ähnliche Einschränkungen dürften für Knieendoprothesen-Träger gelten.

Im beruflichen Bereich ergeben sich allgemein Konsequenzen unter dem Aspekt der konkreten Beeinträchtigung. Diese sind nach Hüft- und Knieendoprothesen-Implantation bei gutem Ausheilungsergebnis gering. Bei Bewegungseinschränkungen, insbesondere bei Beugekontrakturen kommen allgemein länger stehende Tätigkeiten nicht mehr in Frage. Eventuell sind Hilfsmittel wie ein Arthrodesestuhl oder eine Stehsitzhilfe erforderlich. Weitere Konsequenzen ergeben sich unter dem Aspekt der Zumutbarkeit im Sinne der Lockerungsprophylaxe. Allgemein sollten nach endoprothetischem Ersatz an den unteren Extremitäten keine axialen Erschütterungen (Pedalbedienung, regelmäßiges Begehen unebenen Geländes) mehr erfolgen; schweres Heben und langes Stehen sowie häufiges Bücken sind nicht zumubar, ebenso das Besteigen von Leitern und Gerüsten wegen der damit verbundenen Unfallgefahr. Ebenso sind Tätigkeiten mit häufigen endgradigen Bewegungsausschlägen wie etwa in der tiefen Hocke, mit starker Rumpfvorneigung oder mit starker Innendrehbelastung nicht mehr zumutbar. Nachstehend soll die spezielle Problematik des Endoprothesenpatienten in verschiedenen Rechtsbereichen betrachtet werden.

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1. Konsequenzen der Endoprothese für die Beurteilung in der gesetzlichen Krankenversicherung

Bei normalem Verlauf begründet die Prothesenimplantation eine Arbeitsunfähigkeit von ca. drei Monaten einschließlich einer häufig durchgeführten Anschlussheilbehandlung. Danach ist je nach ausgeübtem Beruf eventuell eine stufenweise Wiedereingliederung in das Erwerbsleben erforderlich.

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2. Konsequenzen der Endoprothese für die Beurteilung in der gesetzlichen Pflegeversicherung

Bei durchschnittlichem Ausheilungsergebnis werden die medizinischen Voraussetzungen für die Pflegestufe I in der Regel nicht erreicht; allenfalls in Kombination mit weiteren Erkrankungen.

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3. Konsequenzen der Endoprothese für die Beurteilung in der gesetzlichen Rentenversicherung

Bei regelhaftem Verlauf sind vollschichtig leichte (Knie-TEP) bis mittelschwere, überwiegend im Sitzen zu verrichtende Tätigkeiten ohne häufiges Bücken oder Tragen schwerer Lasten möglich; Gehstrecken bis 1000 m sind zumutbar (Zichner, 1992). Die Wegefähigkeit, die als Maßstab in der gesetzlichen Rentenversicherung zugrunde gelegt wird (501 Meter in 20 Minuten) ist zumeist gegeben. Der Verband der Deutschen Rentenversicherungsträger (1995) geht sogar davon aus, dass bei normalem Verlauf nahezu altersentsprechende Belastungs- und Gehfähigkeit erreicht wird.

Als Konsequenz hieraus erfordern Hüft- und Knietotalendoprothesen je nach zuvor ausgeübtem Beruf eventuell berufliche Reha-Maßnahmen. Bei normalem Verlauf sind die medizinischen Voraussetzungen für Rente wegen teilweise oder voller Erwerbsminderung nicht erfüllt, da in der Regel keine zeitliche Beschränkung der täglichen Arbeitszeit begründbar ist. Eventuell werden die Voraussetzungen wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach neuem Rentenrecht für vor dem 2.1.1961 Geborene erfüllt oder für Berufsunfähigkeit nach altem Rentenrecht, wenn der Versicherungsfall vor dem 1.1.2001 eingetreten ist. In Einzelfällen, so zum Beispiel nach Wechseloperationen, mehrfachen postoperativen Luxationen oder bei komplikationsreichem Verlauf kommt eine Rente auf Zeit in Frage.

Die beruflichen Konsequenzen bei Zustand nach Schultertotalendoprothese unterscheiden sich hiervon naturgemäß schon aufgrund der Tatsache, dass hier die obere Extremität betroffen ist. Unter dem Aspekt der konkreten Beeinträchtigung wird auch bei gutem radiologischem Ergebnis meist nur noch eine leichte körperliche Tätigkeit möglich sein; typischerweise sind Arbeiten in oder über Schulterhöhe, insbesondere wenn dabei Lasten bewegt werden müssen, nicht mehr zumutbar beziehungsweise möglich. Nicht mehr zumutbar sind auch Tätigkeiten mit schwerem Heben und Tragen von Lasten. Unter dem Aspekt der Lockerungsprophylaxe sollten keine axialen Erschütterungen erfolgen, wie zum Beispiel bei Arbeiten unter Rückstoßbelastung des Armes, keine monotonen Belastungen des Schultergürtels wie bei Fließbandarbeiten oder Tätigkeiten unter repetitiven Belastungen und, wegen der damit verbundenen Unfallgefahr, kein Besteigen von Leitern und Gerüsten.

Für den Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung bedeutet dies, dass bei günstigem Ausheilungsergebnis nach Schultertotalendoprothese die medizinischen Voraussetzungen für Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung nicht erfüllt werden, da in der Regel, unter der Voraussetzung eines leidensgerechten Arbeitsplatzes, keine zeitliche Beschränkung der täglichen Arbeitszeit begründbar ist.

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4. Konsequenzen der Endoprothese für die Beurteilung in der gesetzlichen Unfallversicherung

Aus den oben genannten allgemeinen Konsequenzen nach Endoprothesenversorgung ergibt sich für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung, dass eventuell berufshelferische Maßnahmen zur Umsetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz erforderlich sind. Wenn Arbeitsfähigkeit im alten Beruf nicht wiedererlangt wird, sind berufliche Reha-Maßnahmen erforderlich. Nach Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit sollte die Minderung der Erwerbsfähigkeit entsprechend dem Fortschritt des Heilverlaufes anfänglich höher, dann abgestuft eingeschätzt werden. In den ersten Jahren empfehlen sich Nachuntersuchungen in jährlichem Abstand, um drohenden Komplikationen frühzeitig entgegenwirken zu können.

Ein wichtiger Bereich der gutachtlichen Tätigkeit in der gesetzlichen Unfallversicherung betrifft die Schätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Diese ist wie folgt definiert:

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. (§ 56 Abs. 2, Satz 1 SGB VII)

Es gilt das Prinzip der abstrakten Schadensbemessung. Als Maßstab dienen die Anforderungen des allgemeinen Arbeitsmarktes. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit entspricht dabei der individuellen Erwerbsfähigkeit des Versicherten vor dem Unfall abzüglich der ihm nach dem Unfall verbliebenen Erwerbsfähigkeit, das heißt dem ihm nach dem Unfall noch offenen Bereich des Arbeitsmarktes.

Tabelle [2] zeigt eine Synopse der häufigsten Bewertungsempfehlungen nach Hüfttotalendoprothese in der Gutachten-Standardliteratur. In der jüngeren Literatur zeigt sich eine deutliche Tendenz, wenn ein gutes Ausheilungsergebnis vorliegt, den Zustand nach Hüfttotalendoprothese abgestuft zunächst vorübergehend mit einer MdE von 40% und zum Zeitpunkt der ersten Feststellung der Rente auf unbestimmte Zeit mit einer MdE von 20% zu bewerten. Die Hüftgelenkresektion wird allgemein je nach funktionellen Verhältnissen mit einer MdE von 40 bis 60% bewertet, ebenso die aseptische Lockerung der Endoprothese. Tritt zur Lockerung zusätzlich ein chronischer Infekt, so können in Ausnahmefällen derart ungünstige Verhältnisse erreicht werden, dass unter funktionellen Gesichtspunkten ein Beinverlust vorliegt. In der Literatur unterschiedlich bewertet werden die MdE bei beidseitiger endoprothetischer Versorgung und der Prothesenwechsel. Zichner (1992) schlägt für den beidseitigen endoprothetischen Ersatz des Hüftgelenkes eine MdE von 40% und nach Wechseloperation eine MdE von 30% vor. In der Ausgabe 1998 schließen sich Schönberger, Mehrtens und Valentin dieser Bewertung noch an, schlagen demgegenüber in der jüngsten Ausgabe 2003 aber sowohl nach Austauschoperation als auch bei beidseitiger endoprothetischer Versorgung unter der Voraussetzung einer freien Gelenkfunktion eine MdE von 20% vor und begründen dies damit, dass kein zusätzlicher Funktionsverlust bestehe. Dies erscheint angemessen, wenn tatsächlich durch die Tatsache des Endoprothesenwechsels keine ungünstigeren funktionellen Verhältnisse entstehen als bei einer gut funktionierenden Primärversorgung. Auch lässt sich kaum begründen, dass alleine durch die Tatsache der endoprothetischen Versorgung beider Hüftgelenke größere Beschränkungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehen als bei einseitiger Prothesenversorgung.

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Tab. 2 Synopse der Bewertungsempfehlungen der Hüft-TEP in der gesetzlichen Unfallversicherung

Die Bewertungsempfehlungen für Knieendoprothesen sind in der Gutachtenliteratur (Tab. [3]) entsprechend der zahlenmäßig geringeren Bedeutung dieses Prothesentypes nicht so umfangreich wie für Hüftendoprothesen. In der jüngeren Begutachtungsliteratur wird die MdE für eine regelrecht funktionierende schmerzfreie Knieendoprothese mit 20 bis 30% angenommen. Auch hier wird die aseptische Lockerung mit einer MdE von 40 bis 60% bewertet. Wenn zusätzlich eine Infektion auftritt, wird eine MdE von 60 bis 80% angenommen. Nicht ganz zwingend erscheint der Vorschlag von Schönberger u.a. (2003), eine Teilendoprothese am Kniegelenk mit einer MdE von 10 bis 30% zu bewerten. Dies erweckt den Anschein, die Minderung der Erwerbsfähigkeit bei einem nur teilweise endoprothetisch ersetzten Kniegelenk sei tendenziell niedriger einzuschätzen als bei einer alle Anteile des Kniegelenkes ersetzenden Endoprothese; ein Ergebnis, dass tatsächlich häufig in der Praxis nicht zu reproduzieren ist. Grundsätzlich ist zu beachten, dass auch die Bewertung von Hüft- und Knieendoprothesen in der gesetzlichen Unfallversicherung abstrakt unter Berücksichtigung der hiervon ausgehenden funktionellen Beeinträchtigungen und ihrer Auswirkungen auf die Teilhabe am Arbeitsmarkt zu erfolgen hat. Eine mit einer MdE von 40% bewertete Knieendoprothese muss also insofern vergleichbare Auswirkungen verursachen wie etwa eine Unterschenkelamputation oder eine Versteifung eines Hüft- oder Kniegelenkes in ungünstiger Stellung. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Übersicht in Tabelle [4] zu verstehen. In der linken Spalte werden Gesundheitsschäden und Verletzungsfolgen aufgeführt, denen in der Gutachtenliteratur übereinstimmend feste MdE-Werte zugeordnet werden. In der rechten Spalte sind diesen Gesundheitsstörungen und Verletzungsfolgen entsprechende Folgezustände nach Prothesenimplantation gegenübergestellt.

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Tab. 3 Synopse der Bewertungsempfehlungen der Knie-TEP in der gesetzlichen Unfallversicherung

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Tab. 4

Von besonderer Bedeutung in der Praxis ist der Grenzbereich der MdE um 20%, da, abgesehen von Fällen einer Stützrentensituation, erst ab diesem MdE-Grad Rentenleistungen erfolgen. In der Begutachtungspraxis ist daher gerade dieser Grenzbereich der MdE zwischen 10 und 20% häufiger Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob nach Hüft- oder Kniegelenkendoprothesen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von unter 20% denkbar ist. Die gängige Gutachtenliteratur enthält hierzu bisher kaum Hinweise. Bei freier Funktion und annähernd normalem Muskelstatus wäre die MdE-Bewertung ausschließlich aus prophylaktischen Gesichtspunkten unter dem Aspekt der Zumutbarkeit im Rahmen der Lockerungsprophylaxe zu begründen. Hieran schließt sich die Frage an, welche Bereiche des Arbeitslebens dem Versicherten unter der Voraussetzung einer freien Funktion und normalen Belastbarkeit des endoprothetisch ersetzten Gelenkes durch diese prophylaktischen Gesichtspunkte verschlossen sind und, ob dies eine MdE von unter 10, 10 oder 20% begründet. Die Beantwortung dieser Frage kann nicht ausschließlich auf orthopädischem oder unfallchirurgischem Fachgebiet erfolgen. Hierbei ist die tatsächliche einschlägige Belastung des Endoprothesenträgers in allen Bereichen der Berufswelt zu berücksichtigen. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten ein erheblicher Wandel ergeben. Während 1961 noch 48% der Erwerbstätigen in Bergbau, Landwirtschaft, Herstellung, Wartung und Montage tätig waren, also in Bereichen, in denen Einschränkungen für den Endoprothesenträger unter prophylaktischen Gesichtspunkten zu erwarten sind, reduzierte sich dieser Bereich bis 1980 bereits auf 32% aller Erwerbstätigen (Scholz, Wittgens 1992). Die Frage, inwieweit dieser Wandel in der Berufswelt im Idealfall einer frei funktionierenden voll belastbaren Knie- oder Hüftendoprothese eine MdE von unter 20% begründet, wurde bisher weder in der Gutachtenliteratur noch in einschlägigen obergerichtlichen Entscheidungen abschließend beantwortet.

Bewertungsempfehlungen für den Zustand nach Schultertotalendoprothese in der gesetzlichen Unfallversicherung finden sich in der Standardliteratur zur Begutachtung nicht. Dies hat möglicherweise mit der Sonderstellung der Schulter zu tun. Zum einen existieren bisher im Vergleich zu Hüft- und Knieendoprothesen nur deutlich geringere Fallzahlen, zum anderen müssen die besonderen anatomischen Verhältnisse des Schultergelenkes berücksichtigt werden. Es handelt sich um ein kraftschlüssiges Gelenk, bei dem den Weichteilen insbesondere für die Balance zwischen statischen und dynamischen Stabilisatoren eine besondere Bedeutung beikommt. Tabelle [5] stellt in Anlehnung an die vorstehend genannten Überlegungen zur Hüft- und Knieendoprothese einen Vorschlag für Bewertungsempfehlungen bei Zustand nach Schulterendoprothese in der gesetzlichen Unfallversicherung dar.

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Tab. 5 Vorschlag für Bewertungsempfehlungen nach Schulter-TEP in der gesetzlichen Unfallversicherung

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5. Konsequenzen der Endoprothese im Schwerbehindertenrecht

Der Begriff der Behinderung ist in § 2 Abs. 1 SGB IX definiert. Danach liegt eine Behinderung vor, wenn die körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit eines Menschen mit hoher Wahrscheinlich länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen der Behinderung werden als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden festgestellt. Als schwerbehindert gilt ein Betroffener ab einem Grad der Behinderung von 50.

Sowohl die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht, Ausgabe 1996 als auch Ausgabe 2004 sehen in gewisser Abweichung von der ansonsten durchgehend unter funktionellen Gesichtspunkten erfolgenden Bewertung einen Mindest-GdB/MdE-Satz für die einseitige Hüfttotalendoprothese von 20% und beidseitige Hüfttotalendoprothese von 40% und von 30% bei einseitiger Knieendoprothese und 50% bei beidseitiger Knieendoprothese vor. Danach sollen alle anderen Endoprothesen "wie" Kniegelenkendoprothesen bewertet werden. Dies hat zur Konsequenz, dass bei guter Funktion der beidseitige Ersatz von Hüftgelenken nicht zur Schwerbehinderteneigenschaft führt, während trotz guter Funktion und guter Belastbarkeit bei beidseitigem Ersatz durch Knieendoprothesen die Schwerbehinderteneigenschaft erreicht wird. Führt man sich vor Augen, dass die Versteifung eines Kniegelenkes in Funktionsstellung nach den Vorgaben der Anhaltspunkte einen Grad der Behinderung/MdE von 30 begründet und berücksichtigt, welche Auswirkungen auf alle Bereiche des täglichen Lebens hiervon ausgehen, kann diese formale Bewertung im Einzelfall zu erheblichen Auseinandersetzungen führen.

Bei guter Funktion werden nach künstlichem Ersatz des Hüft- oder Kniegelenkes die medizinischen Voraussetzungen für die Annahme des Nachteilsausgleiches "G" (erheblich gehbehindert) oder "aG" (außergewöhnlich gehbehindert) nicht erreicht. Formal sind die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" dann erfüllt, wenn der Grad der Behinderung an den unteren Extremitäten isoliert, also ohne weitere Gesundheitsstörungen an der Wirbelsäule, die sich auf das Gehvermögen auswirken könnten, mindestens 40 erreicht. Dies ist formal schon bei Zustand nach Hüft- oder Knietotalendoprothese beidseits gegeben. Unter funktionellen Gesichtspunkten werden die Voraussetzungen für "G" dann erreicht, wenn die sich hieraus ergebenden Auswirkungen auf das Gehvermögen mit denen vergleichbar sind, die von einem in günstiger Stellung versteiften Hüftgelenk oder in ungünstiger Stellung versteiften Kniegelenk (GdB mindestens 40) ausgehen oder wenn der Betroffene nicht mehr in der Lage ist, unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte eine Wegstrecke von 2000 Metern in 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Diese Voraussetzungen dürften in den meisten Fällen bei der Lockerung einer Hüft- oder Knieendoprothese erreicht sein.

Die Voraussetzungen für die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung dürften demgegenüber bei Zustand nach Hüft- oder Knieendoprothese alleine selten erreicht werden. Die Anforderungen an diese Voraussetzungen sind sehr hoch; eventuell werden sie in Fällen einer infizierten Lockerung erreicht, bei denen unter funktionellen Gesichtspunkten die Auswirkungen auf das Gehvermögen noch die Auswirkungen bei Verlust eines Oberschenkels übersteigen. Die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) sind bei gutem Ausheilungsergebnis nicht gegeben. Zu Erwägen sind die medizinischen Voraussetzungen für "B" bei höhergradiger Beugekontraktur oder Instabilität des Gelenkes, inbesondere wenn zusätzliche Funktionsstörungen von Seiten der oberen Extremitäten vorliegen, die beim Ein- und Aussteigen aus Verkehrsmitteln zu einer erhöhten Unfallgefahr führen können.

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6. Konsequenzen der Endoprothese für die Beurteilung in der Haftpflichtversicherung

Die gutachtliche Bewertung bei Zustand nach Totalendoprothese im Bereich der Haftpflichtversicherung betrifft zum einen die Voraussetzungen für die Einschätzung der Höhe des so genannten immateriellen Schadens (Schmerzensgeld). Die Bemessung des Schmerzensgeldes stellt keine vorrangig medizinisch zu beurteilende Frage dar. Medizinische Sachverständige werden in diesem Zusammenhang aber häufig nach der so genannten "abstrakten" MdE gefragt. Gemeint ist das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung unter abstrakt funktionellen Gesichtspunkten, also unabhängig von konkreten tatsächlichen Belastungen etwa des Berufes. Zu berücksichtigen sind hier neben den funktionellen Auswirkungen der Prothesenimplantation, die Lockerungsgefahr mit ihren Auswirkungen auf die konkreten Lebensgestaltungsmöglichkeiten (Sport etc.), aber auch das Risiko der Prothesenlockerung im Verhältnis zum Lebensalter des Betroffenen. Neben dem rein zahlenmäßigen Ergebnis einer abstrakten MdE-Bewertung sollten dem Auftraggeber in diesem Zusammenhang die medizinischen Hintergründe für die Beurteilung aufgezeigt werden, damit die Beurteilung insofern transparent ist und Grundlage für die unter weiteren rechtlichen Gesichtspunkten abschließend zu wertende tatsächliche Höhe des Schmerzensgeldes bieten kann. Als Beispiel soll auf ein Urteil des Kammergerichtes Berlin aus dem Jahr 1992 verwiesen werden. Dort wurde einer 84-jährigen Frau, die eine mediale Schenkelhalsfraktur erlitten hatte, die zunächst durch Duokopfprothese nachfolgend durch Hüfttotalendoprothese versorgt worden war, ein Schmerzensgeld von 30000 DM zugesprochen.

Ein weiterer Bereich der Haftpflichtversicherung betrifft den konkreten (materiellen) Vermögensschaden. Dieser ist unter anderem abhängig vom tatsächlich ausgeübten Beruf; allgemeine Bewertungsvorschläge können daher nicht gegeben werden. In diesen Bereich fällt auch der konkrete Vermögensschaden der Hausfrau oder des Hausmannes. Die Bewertung der Auswirkungen der Endoprothesenversorgung im Haushalt ist ähnlich wie die Bewertung anderer Verletzungsfolgen in diesem Bereich naturgemäß schwierig, nicht zuletzt wegen der teilweise sehr unterschiedlichen tatsächlichen Belastungen je nach Größe und Besonderheiten des Haushaltes. Um die Bewertung übersichtlicher und daher besser nachvollziehbar und vergleichbarer zu machen, wurden tabellarische Vorschläge entwickelt (früher so genannte Hausfrauen-Tabelle; jetzt Münchener Modell; Schulz-Borck, Hofmann, 2000). Tabelle [6] zeigt einen Auszug aus diesen Tabellen mit Bewertung der Hüfttotalendoprothese.

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Tab. 6 (n. Ludolph, 2004)

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7. Konsequenzen der Endoprothese für die Beurteilung in der privaten Unfallversicherung

In der privaten Unfallversicherung, geregelt in den allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen, ist die Invalidität (definiert als dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit durch Unfallfolgen) versichert. Die Höhe der Invalidität ist unter ausschließlich anatomisch-funktionellen Gesichtspunkten unabhängig von der tatsächlichen beruflichen Belastung, dem Lebensalter oder besonderen Freizeitaktivitäten abstrakt zu bewerten. Unfallfolgen nach Hüft- oder Knietotalendoprothese werden danach nach dem so genannten Beinwert, Schulterendoprothesen nach dem Armwert bewertet. Für die Beurteilung von Endoprothesen sind einige obergerichtliche Urteile von Bedeutung. Der BGH hat entschieden, dass eine Totalendoprothese kein Körperersatzstück wie eine Exoprothese ist, sondern Gebrauchsmittel für die körpereigenen Strukturen (BGH, VersR 89, 353). Das OLG Köln hat entschieden, dass die Hüfttotalendoprothese nicht gleichzusetzen ist mit dem Beinverlust im Hüftgelenk (OLG Köln, 22.12.1986). Entscheidend ist nicht der Schaden am Hüftgelenk selbst, sondern die hieraus auf Dauer resultierende Funktionsbeeinträchtigung des Beines. Der unfallbedingte Bruch der Prothese ist versicherte Gesundheitsschädigung auch dann, wenn es nicht gleichzeitig zu einer Verletzung kommen sollte.

Tabelle [7] zeigt eine Synopse der Bewertungsempfehlungen in der Gutachtenstandardliteratur der privaten Unfallversicherung.

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Tab. 7 Synopse der Bewertungsempfehlungen der Hüft-TEP in der privaten Unfallversicherung

Die Tabelle zeigt, dass zum Teil erhebliche Differenzen in der Beurteilung ähnlicher Sachverhalte bestehen. Die Bewertung reicht von 1/5 Beinwert bei geringer Bewegungshemmung und guter Belastbarkeit (Perret, 1980) bis zu Vorschlägen entsprechend 7/20 Beinwert bei guter Funktion in jüngeren Einschätzungsempfehlungen. Ähnlich wie in der gesetzlichen Unfallversicherung erfolgt auch die Bewertung der Invalidität in der privaten Unfallversicherung unter abstrakt funktionellen Gesichtspunkten. Dabei muss die Gesamtsystematik der so genannten Gliedertaxe berücksichtigt werden. Das Ausheilungsergebnis nach Endoprothesen muss daher unter funktionellen Gesichtspunkten mit vergleichbaren Verletzungsfolgen ohne endoprothetischen Ersatz korrespondieren. Zum Vergleich wurden daher in der Tabelle [8] verschiedene Funktionszustände nach Hüfttotalendoprothese in die Bewertung anderer Verletzungsfolgen am Bein eingeordnet, die in der jüngeren Gutachtenstandardliteratur weitgehend übereinstimmend bewertet werden.

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Tab. 8 Vergleich der Bewertungsempfehlungen Hüft-TEP/andere Verletzungsfolgen in der privaten Unfallversicherung

In der Gutachtenstandardliteratur finden sich kaum Bewertungsempfehlungen für den Zustand nach Knie- oder Schulterendoprothese in der privaten Unfallversicherung. Die Tabellen [9] und [10] stellen daher einen Vorschlag für solche Unfallfolgezustände dar; wobei versucht wurde, ähnlich wie bei der Hüftendoprothese, unterschiedliche Ausheilungsergebnisse nach Knie- und Schulterendoprothese in die Systematik anderer Verletzungsfolgen an Knie- und Schultergelenk einzuordnen.

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Tab. 9 Vorschlag für Bewertungsempfehlungen der Knie-TEP in der privaten Unfallversicherung

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Tab. 10 Vorschlag für Bewertungsempfehlungen der Schulter-TEP in der privaten Unfallsicherung

Ein besonderes Problem der Bewertung von Verletzungsfolgen in der privaten Unfallversicherung stellt die Entwicklung des Unfallfolgezustandes in der Zukunft, also die Zukunftsprognose, dar. Nach den allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) muss, anders als etwa in der gesetzlichen Unfallversicherung, spätestens zum Ende des dritten (bei Kindern zum Ende des fünften) Unfalljahres abschließend reguliert werden, wobei es auch Sonderbedingungen gibt, die eine noch frühere Regulierung erzwingen. Dies berücksichtigt einerseits das zeitnahe Regulierungsinteresse von Versichertem und Versicherer, andererseits die Notwendigkeit, das Risiko für den Versicherer kalkulierbar zu machen.

Die vorstehend zitierten tabellarischen Bewertungsempfehlungen der Gutachtenstandardliteratur stellen im Wesentlichen auf die Tatsache der Implantation und die aktuelle Funktion der Endoprothese ab. Demgegenüber stellen Endoprothesen tatsächlich keinen statischen Ausheilungszustand dar. Mit diesem Problem hat sich die Rechtsprechung beschäftigt. Der BGH hat entschieden, dass bei der Regulierung nur der Sachverhalt zu berücksichtigen ist, der am Ende der Dreijahresfrist erkennbar ist (BGH, VersR 81, 1151). Dies hat Streck (1990) veranlasst, davon auszugehen, dass eine theoretisch mögliche Prothesenlockerung in Zukunft bei gutem Operationsergebnis nicht zu berücksichtigen sei; eine Einschätzung, die weder in der Begutachtungsliteratur noch in der Begutachtungspraxis durchgehend Zuspruch gefunden hat. Der BGH hat zudem in einem Rechtsstreit im Zusammenhang mit einer Rückverweisung an die Vorinstanz den Hinweis gegeben, dass der Beweis völliger Gebrauchsunfähigkeit der Extremität geführt sei, wenn am Ende des dritten Unfalljahres nicht sicher sei, dass die Totalendoprothese mit dauerhaftem Erfolg eingesetzt sei (VersR 90, 478). Schließlich muss berücksichtigt werden, dass der Versicherer den Beweis erbringen muss, dass der Dauerzustand nicht nur zeitweise, sondern auf Dauer wieder behoben oder gebessert werden kann (Grimm, 1994). Andererseits hat das OLG Köln entschieden, dass bei der Prognose die Entwicklung zugrunde zu legen sei, die von den Symptomen und Befunden der letzten zulässigen Untersuchung ausgeht und die mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit von Dauer sein wird (OLG Köln, r + s 89, 100). Danach reicht die Möglichkeit oder einfache Wahrscheinlichkeit für die Einschätzung der Prognose nicht aus.

In dem Spannungsfeld zwischen dem tatsächlich im Einzelfall kaum vorhersehbaren Verlauf und diesen rechtlichen Vorgaben steht der Sachverständige, der die Bewertung des Zustandes nach Endoprothese in der privaten Unfallversicherung vornehmen soll. Dabei darf nicht übersehen werden, dass zahlreiche Fragen noch ungeklärt sind. Dies beginnt bereits mit der Frage, was im Zusammenhang mit der Prognose als sicher anzusehen ist. Gilt ein guter, durchschnittlicher oder schlechter Verlauf als sicher prognostizierbar. Betrachtet man die jüngere Literatur zu diesem Problem, so kann nicht davon ausgegangen werden, dass, nicht zuletzt unter Berücksichtigung der zahlreichen unterschiedlichen Prothesenmodelle weitgehende Übereinstimmung im Hinblick auf die durchschnittliche Standzeit einer Endoprothese besteht. Es stellt sich die Frage, ob grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass die Standzeit einer Hüft-, Knie- oder Schulterendoprothese gleichzusetzen ist oder aber welche gesicherten Unterschiede in der Standzeit dieser Prothesentypen bestehen.

Bisher unbeantwortet ist auch die Frage, ob zementfrei implantierte Prothesen tatsächlich länger halten. Von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob ein Wechsel der Endoprothese, insbesondere bei primär zementloser Implantation oder bei Endoprothesentypen, die eine sehr sparsame Resektion ermöglichen (zum Beispiel Druckscheiben-Endoprothese) sicher mit einer zusätzlichen Funktionseinbuße auf Dauer verbunden ist. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nicht die Notwendigkeit des Wechsels an sich, sondern nur die hiermit verbundene, auf Dauer zusätzliche Funktionsbeeinträchtigung unter prognostischen Erwägungen in der privaten Unfallversicherung Bedeutung hat. Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, ob der Vorschlag, den Dauerschaden bei Hüftendoprothesen jüngerer Menschen auch bei guter Funktion bis 9/10 Beinwert zu bewerten (Lehmann, 2001), mit der realistischen Indikation der Implantation einer Hüfttotalendoprothese beim jüngeren Menschen korrespondiert. Ungeklärt ist auch die Frage, auf welchen Zeitpunkt in der Zukunft die Bewertung unter prognostischen Gesichtspunkten abzustellen ist. Nach ärztlicher Erfahrung wird über lange Zeiträume betrachtet, der funktionelle Zustand nach Endoprothese häufig in den ersten Jahren und Jahrzehnten günstiger, im höheren Lebensalter möglicherweise ungünstiger sein. Auch wird wahrscheinlich nach einer Wechseloperation vorübergehend ein schlechterer Funktionszustand, nach erfolgreicher Rehabilitation möglicherweise wieder ein deutlich günstigeres funktionelles Ergebnis erreicht werden. Lässt sich noch die Frage nach der durchschnittlichen Lebenserwartung unter Zuhilfenahme statistischer Tabellen relativ sicher beantworten, ist die Frage völlig ungeklärt, ob über diesen Zeitraum eine Mischkalkulation des wahrscheinlich nicht immer einheitlichen konkreten Funktionszustandes erfolgen soll und wenn ja, auf welcher Grundlage.

Die vorstehend genannten Überlegungen zeigen, dass es sich hierbei um einen rechtlich wie medizinisch weitgehend ungeklärten Bereich handelt, der andererseits aufgrund des zunehmenden Alters der Versicherten und der zunehmenden Häufigkeit der endoprothetischen Versorgung von Verletzungsfolgen ständig an Bedeutung zunimmt.

Der erste systematische Vorschlag in der Begutachtungsliteratur, sich diesem Problem zu nähern, stammt von Schröter und Fitzek (2004) mit dem so genannten modular aufgebauten Bewertungssystem. Die Autoren schlagen vor, neben der aktuellen Bewertung des Funktionszustandes einen Risikozuschlag, abgestuft nach Lebensalter zum Zeitpunkt der Prothesenimplantation vorzunehmen. Insbesondere der Risikozuschlag unterhalb des 25. Lebensjahres von 4/10 Arm-/Beinwert, entsprechend einer Versteifung des Gelenkes als letzte Rückzugsmöglichkeit bei Versagen der Endoprothese als auch der Vorschlag ab dem 70. Lebensjahr keinen Zuschlag mehr vorzunehmen, entsprechend der Tatsache, dass dann die Standzeit in etwa der Lebenserwartung des Versicherten entspricht, erscheinen plausibel. Inwieweit dieses Bewertungssystem allgemeinen Eingang in die Begutachtungspraxis in der privaten Unfallversicherung findet, muss die Zukunft zeigen.

Literatur beim Verfasser

Dr. Christoph Visé,

Poststraße 5,

40 878 Ratingen

 
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Dr. Christoph Visé

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Tab. 1 Gegenüberstellung Merle d’Aubigné - Funktionsbeeinträchtigung PUV (nach Reichenbach, 1993)

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Tab. 2 Synopse der Bewertungsempfehlungen der Hüft-TEP in der gesetzlichen Unfallversicherung

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Tab. 3 Synopse der Bewertungsempfehlungen der Knie-TEP in der gesetzlichen Unfallversicherung

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Tab. 4

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Tab. 5 Vorschlag für Bewertungsempfehlungen nach Schulter-TEP in der gesetzlichen Unfallversicherung

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Tab. 6 (n. Ludolph, 2004)

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Tab. 7 Synopse der Bewertungsempfehlungen der Hüft-TEP in der privaten Unfallversicherung

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Tab. 8 Vergleich der Bewertungsempfehlungen Hüft-TEP/andere Verletzungsfolgen in der privaten Unfallversicherung

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Tab. 9 Vorschlag für Bewertungsempfehlungen der Knie-TEP in der privaten Unfallversicherung

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Tab. 10 Vorschlag für Bewertungsempfehlungen der Schulter-TEP in der privaten Unfallsicherung