Pro
Reinhard Peukert, Harald Goldbach
Der Integrierte Behandlungs- und Rehabilitationsplan (IBRP) sei ein bürokratisches
Monstrum, das Mitarbeitern und Klienten wichtige Betreuungszeiten raubt, ohne Verbesserung
der individuellen Hilfen oder des Versorgungssystems; der IBRP leiste der Ökonomisierung
und Vermarktlichung (gemeinde-)psychiatrischer Hilfen Vorschub und statt einer ganzheitlichen
Sicht auf die Menschen, deren Zukunft offen sei, wird ihre Kalkulierbarkeit behauptet.
Um es gleich vorweg zu sagen: Diese und weitere Kritik wird oft zu Recht vorgetragen.
Es gibt viele, zu viele Regionen, in denen mit dem IBRP in dieser Weise umgegangen
wird. So wird er z. B. verwendet, um ein festes Platzkontingent im Betreuten Wohnen
zu füllen, und die in der Hilfeplanung (und hinterher auf dem IBRP) erscheinenden
Hilfen sind die, die das jeweilige Betreute Wohnen schon immer angeboten hat. Auch
die Aufforderung im IBRP, nach alltäglichen Unterstützungen im sozialen Umfeld systematisch
Ausschau zu halten, bevor (sozial-)psychiatrische Hilfe vorgeschlagen wird, kann übersehen
werden.
Diesen zentralen Vorwurf müssen sich die Konstrukteure des IBRP gefallen lassen: er
ist gegen solche Verwendungen nicht immun! Oder anders gesagt: wenn die weiter gehenden
Intentionen außen vor bleiben, die für uns IBRP-Befürworter mit diesem Instrument
unauflöslich verbunden sind, verkommt der IBRP zu einem überflüssigen, Zeit und Kraft
raubenden Ungetüm!
Er wurde im Rahmen des BMG-geförderten Projektes der Aktion Psychisch Kranke „Personalbemessung
im komplementär-ambulanten Bereich” entwickelt, als dessen Ergebnis nicht Anhaltszahlen
wie in der PsychPV vorgeschlagen wurden, sondern Grundsätze und Verfahren für eine
personenzentrierte Steuerung der Ressourcen und der konkreten Hilfen [1]. Intentionen und Verfahrensweisen der Hilfeplanung mit dem IBRP findet man auch
unter www.ibrp-online.de. Der IBRP kann den Beteiligten dabei nützen, eine an den Zielen der Klienten orientierte
Hilfeplanung zu kommunizieren.
Erfreulicher Weise müssen wir uns heute nicht mit theoretischen Erwägungen zur personenzentrierten
Steuerung begnügen; es gibt in der Bundesrepublik viele Menschen, die sich auf den
Weg gemacht haben, und die allen Schwierigkeiten zum Trotz an ihrem Ort versuchen,
die Orientierung der Hilfen an den Zielen und Ansprüchen aller potenziellen Klienten
der Region zu verwirklichen.
Der Ort, an dem sich dies realisiert, sind die Hilfeplankonferenzen. Diese basieren
auf einer Übereinkunft der regionalen Akteure (Leistungserbringer und Leistungsträger)
in Bezug auf Verfahren und Qualität. Dazu gehört die ausdrückliche Verantwortungsübernahme
für die Versorgung aller Leistungsberechtigten in der Region.
Hilfeplankonferenzen in diesem Sinne sind keine Belegungskonferenzen, die Plätze unter
der Schar von Bewerbern verteilen. Sie arbeiten auf der Grundlage von Hilfeplänen,
die darstellen, welche Ziele Klienten und professionelle Helfer vereinbart haben und
welche Hilfen sie zur Erreichung dieser Ziele für geeignet halten. Hilfebedarfe werden
dabei umfassend dargestellt, sie beschränken sich nicht auf einzelne Leistungsarten
oder Leistungsträger. Hilfepläne werden eingebracht, wenn sich bei einem Angehörigen
der Zielgruppe Bedarf abzeichnet, und nicht, wenn ein Platz zu besetzen ist. Hilfeplankonferenzen
verstehen sich nicht nur als Eingangstor in ein Hilfesystem, sondern begleiten Hilfeverläufe
durch periodische, etwa jährliche Anpassung der Hilfen an den individuellen Reha-Prozess.
Betroffene können an der Hilfeplankonferenz teilnehmen, müssen es aber nicht. Die
Konferenz nimmt Stellung zu Hilfeplänen, nicht zu Personen. Die HPK ist keine zusätzliche
Veranstaltung, sie ersetzt bestehende Verfahren.
Heute gelingt es immer besser, mit Hilfeplankonferenzen folgende Funktionen zu erfüllen:
-
Sie sorgen für eine abgestimmte und koordinierte Leistungserbringung auf der Ebene
des Einzelfalles, indem die beteiligten Leistungserbringer auf einen gemeinsamen Hilfeplan
verpflichtet werden und eine koordinierende Bezugsperson benannt wird, die für die
Durchführung der Hilfen dem Klienten gegenüber unmittelbar verantwortlich ist.
-
Hilfeplankonferenzen helfen, Versorgungsangebote in der Region für alle Leistungsberechtigten
sicherzustellen, indem sie (möglichst) alle Leistungsanbieter einbeziehen und somit
die Chance erhöhen, gerade auch für die schwächsten und am schwierigsten zu versorgenden
Klienten die notwenigen Ressourcen in der passenden Kombination bereitzustellen.
-
Beschlüsse der HPK eignen sich zur Beschreibung des Hilfebedarfs und der notwendigen
Hilfen, wie § 10 SGB IX Abs. 1 es fordert. Gefasst auf der Grundlage eines integrierten
Verfahrens wie dem IBRP, taugen sie als gutachterliche Stellungnahme gegenüber den
zuständigen Leistungsträgern und machen in vielen Fällen weitere Überprüfungen überflüssig.
-
Hilfeplankonferenzen dienen der Sicherstellung der Finanzierung notwendiger Hilfen
entsprechend dem individuellen Bedarf. Evident ist dies dort, wo Leistungsträger sich
in das Verfahren eingebunden haben und im Regelfall ihre Kostenentscheidung in direkter
zeitlicher Nähe zur Beratung in der HPK fällen und bekannt geben.
-
Hilfeplankonferenzen können wichtige Impulse für die Weiterentwicklung des regionalen
Versorgungssystems geben. Sie produzieren, entsprechende Dokumentation vorausgesetzt,
Daten, die insbesondere über Lücken und Schwachpunkte der regionalen Versorgungsstruktur
Auskunft geben.
Mitglieder verschiedener Hilfeplankonferenzen haben rückgemeldet, welche Vorteile
sie in diesem Verfahren sehen:
-
Entscheider bei den zuständigen Kostenträgern schätzen die umfassende Information,
die ihnen eine fachlich fundierte Grundlage und damit mehr Sicherheit gibt.
-
Leistungserbringer profitieren von der Verkürzung des Entscheidungs- bzw. Bewilligungsverfahrens.
-
Sozialhilfeträger berichten, dass die Häufigkeit von Widersprüchen Leistungsberechtigter
gegen Entscheidungen sehr deutlich zurückgegangen sei. Dies kann als Indikator für
erhöhte Klientenzufriedenheit angesehen werden.
-
Klienten profitieren davon, dass öfter unkonventionelle Lösungen gesucht und gefunden
werden, wo vorher trotz dringenden Hilfebedarfs nur ein Platz auf der Warteliste in
Aussicht gestellt werden konnte.
-
Angehörige äußern sich grundsätzlich positiv - wobei sie nach wie vor auf mehr Einbeziehung
pochen.
Mitglieder länger bestehender Hilfeplankonferenzen heben hervor, diese Form der Kooperation
habe erheblich dazu beigetragen, Vertrauen zwischen den Beteiligten zu schaffen und
so die Kooperation zu erleichtern. Allerdings: ohne einen anfänglichen Vorschuss an
Vertrauen geht es auch nicht!
Prof. Dr. Reinhard Peukert
Fachbereich 11 Sozialwesen
Kurt-Schumacher-Ring 18
65197 Wiesbaden
E-mail: peukert@sozialwesen.fh-wiesbaden.de
Harald Goldbach
Beratung und Sozialplanung
Lasinskystraße 21
54296 Trier
E-mail: mail@goldbach-beratung.de
Kontra
Ernst-Ulrich Vorbach
Programmatisch betrachtet soll der IBRP den Paradigmenwechsel in der psychiatrischen
Versorgung weg vom institutionsbezogenen Denken hin zur personenbezogenen Hilfeleistung
einleiten. Vom Personalschlüssel einer Einrichtung (Anzahl versorgter Personen pro
Betreuer) wird auf Jahreskontingente an Fachleistungsstunden umgestellt, die einem
psychisch oder durch Suchterkrankung Behinderten zustehen. Dafür wird auf der Basis
einer individuellen Bedarfsermittlung der IBRP als Gesamtplan erstellt, in die Hilfeplankonferenz
(HPK) eingebracht und dort zusammen mit dem Kostenträger verabschiedet. Soweit die
Theorie.
Kritik am Instrument
Da ist zunächst dieses ungelenke Abkürzel „IBRP”. Lässt man sich von Psychiatriemitarbeitern
zwei Jahre nach der Implementation dieses Begriffes sagen, was diese klanglosen, sperrigen
vier Buchstaben bedeuten, so kommen abenteuerliche Antworten - wenn überhaupt mehr
als ein ratloses Schulterzucken.
Inhaltlich ist „personenzentriert” doppeldeutig. Einmal bedeutet dies, dass der Helfer
in die Welt des anderen eintritt, „ohne sich dabei zu verlieren” und den anderen im
Fokus hat. „Personenzentriert” bedeutet aber auch, dass „ein Mensch zum Objekt von
Verhandlungen, zum Hilfsobjekt, mit der Stärkung der Experten- und Profisicht” gerät
und dass bei der Anwendung des IBRP - und das ist der kritische Punkt - der Zwang
zur Anwendung dieses Instrumentes mit der Frage der Finanzierung der sozialpsychiatrischen
Leistungen in Verbindung steht. Dörner [2] hat diese Ambiguität mit Recht sprach- und praxisrelevant erhellt.
Zur eindimensionalen Abbildung des Hilfsbedarfs in den Erhebungsbögen meinte Dörner
[2]: „Noch nie ist so systematisch die Person als die Summe ihrer Defizite beschrieben
worden” (S. 39). Der Betroffene werde zumindest anteilig seiner Einmaligkeit beraubt.
Defizite erfasse man zumeist als Leistungsdefizite von Aktivitäten. Es interessiere
mehr, was eine Person nicht könne als was sie nicht wolle. Passive Fähigkeiten kämen
zu kurz. Zudem werde nicht reflektiert, ob ein Defizit nicht auch ein Schutz- oder
Selbsthilfeversuch der Person sein könne, wo ein Hilfsangebot geradezu schädigend
wäre. Anderweitige ambulante, ärztliche oder psychotherapeutische Tätigkeiten werden
nicht gewichtet.
Angesichts der Fülle und Detailliertheit personenbezogener Daten, die mit dem IBRP
gesammelt werden, können allgemeine Verfahrensregeln datenschutzrechtliche Bedenken
insbesondere der Betroffenen nicht völlig ausräumen. Die Darlegung der gesamten Einkommens-
und Vermögenssituation der Angehörigen ist demoralisierend, kontraproduktiv, schafft
Kooperationsunwilligkeit und hohe Abbruchquoten. Die zeitliche Dimension zur Erhebung
dieser Informationen oder auch Beziehungen zum Klienten wird völlig unterschätzt (und
auch nicht bezahlt).
Problematisch ist die Bezifferung von Fachleistungsstunden im Vorhinein. Ständig wechselnde
Zeiterfassungsinstrumente seitens des Landeswohlfahrtsverbands (zurzeit 4. Version
in einem Jahr) und ständig wechselnde Personalbemessungsinstrumente auf schablonisierte
Zielvorgaben hin verbürokratisieren die Arbeit.
Kritik an der Hilfeplankonferenz
IBRP und HPK sollen Behandlung und Rehabilitation planen. Die Kostenträger für Behandlung
(die Krankenkassen) beteiligen sich aber ebensowenig an der HPK wie wichtige Rehabilitationsträger
(z. B. Rentenversicherer, Arbeitsagentur). Es dominieren die (über-)örtlichen Sozialhilfeträger.
Kostenträgermonopolisierung widerspricht aber dem Konzept der Rehabilitation gemäß
SGB IX und SGB XII als einem komplexen Vorgang mit Beteiligung von mindestens einem
halben Dutzend Kostenträgern. Ein institutionsunabhängiger, individueller Genesungsprozess
ist bei der Monopolisierung eines Kostenträgers nicht mehr aufweisbar. Theorie des
IBRP und Praxis des IBRP schaffen hier Diskrepanzen mit Präformierungen, Präjudizierungen
und somit informelle Kostenzuweisungsprozesse, die den prinzipiell guten Gedanken
einer individuellen Rehabilitation des Patienten konterkarieren.
Bei der HPK gehen die regionalen Leistungserbringer in ihrer Gesamtheit die Verpflichtung
ein, dem Patienten/Klienten Angebote zu machen, die im Vorfeld der Planung der einzelnen
koordinierenden Bezugspersonen und dem Klienten nicht zugänglich waren. Wieso bis
zu dieser Konferenz einem Klienten gewisse Hilfsangebote nicht zugänglich gewesen
sein sollten, bleibt möglicherweise nur in der euphemistischen Selbstüberschätzung
dieses besonderen Gremiums erklärbar. In der Praxis werden nämlich im Vorhinein die
entsprechenden Rehabilitationsmöglichkeiten sehr konkret und ausgesprochen individuell
unter den Sozialarbeitern der interagierenden Institutionen abgesprochen.
Aufgrund der hohen Zahl zu bearbeitender Fälle ist die Darstellung in der HPK nur
rudimentär. In unserer Region werden in der monatlichen 6 - 8-stündigen Sitzung 20
bis 30 Klienten in jeweils 10 - 15 Minuten vorgestellt. Damit das klappt, erfolgen
vorher Absprachen. Konsens aller an der HPK beteiligten Sozialarbeiter ist, dass inhaltlich
bei 90 % aller Fälle schon vorher alles klar sei. Das Einbringen eines Falles in die
HPK wird somit zur Formsache bzw. zur Farce.
Trotzdem ist der Zeitaufwand enorm. Dadurch laufen die Kosten davon. Bei Teilnahme
von 20 SozialarbeiterInnen sind die Kosten auf € 5000,- pro Sitzung zu schätzen. Zu
diesen direkten Aufwendungen kommen Kosten, die z. B. einer Klinik dadurch entstehen,
dass ein Patient mangels Entscheidung der HPK mit ihren starren Sitzungsterminen noch
nicht verlegt werden konnte.
Fazit
IBRP und HPK sind zeitaufwändig, hochredundant und gleichzeitig aufgrund der Bürokratisierung
störanfällig. IBRP und HPK bilden den Beziehungsaufbau nicht ab. Dokumentation und
Kontrolle ersetzen die eigentlichen therapeutischen Parameter. Eine zu starke Vermischung
von therapeutischen und pädagogischen Intentionen mit der administrativen Ebene wird
beklagt. Die Prüfung eines Falles vor einem fremden Gremium erleben die betroffenen
Klienten als unangenehm und belastend. Die minutiöse Kontrolle und Selbstkontrolle
aller Beteiligten schwächt die Qualität des therapeutischen Prozesses. Als sich an
die Implementation des IBRP das Projekt einer Quantifizierung des Hilfebedarfs in
Minuten anschloss, wurde vollends deutlich, dass es in erster Linie um Kostenkontrolle
geht. Die Bürokratisierung der Hilfe anhand des IBRP legitimiert Rückzüge aus der
Finanzierung.
Der programmatisch verkündete Paradigmenwechsel hat bisher keinen qualitativen Sprung
in der Versorgungslandschaft ausgelöst. Es lässt sich aber feststellen, dass auf dem
Weg zu einer immer stärker technokratisch geleiteten Beziehungsgestaltung die Markt-
und Finanzlogik in der Rehabilitation von psychisch Kranken stärker wird. Als Resultat
der bisherigen Erfahrungen sinkt die Verfahrenszufriedenheit der Klienten deutlich.
Seit IBRP und Fachleistungsstunden gültig sind, sind wegen der Zuzahlung 15 - 20 %
der Betroffenen ihren Betreuern fortgelaufen. Und dabei handelt es sich oft gerade
um diejenigen, die die sozialpsychiatrische Implementierung am Nötigsten gehabt hätten.
Der IBRP ändert nichts am kostentreibenden Doppelsystem kassenfinanzierter Behandlung
und sozialhilflich, arbeitsamtlich sowie rentenrechtlich finanzierter Wiedereingliederung.
Der stationäre Sektor wird aufgrund der Rigidität von Entscheidungszyklen weiterhin
nur verspätet entlastet. Der ambulante Sektor bleibt durch unübersichtliche Mengenausweitung,
Unter-, Parallel- und Überversorgung charakterisiert.
Die gewünschte Deinstitutionalisierung des psychiatrischen Hilfesystems ist einer
Neoinstitutionalisierung gewichen. Zum einen hat die Geschichte gezeigt, dass ein
solches Verfahren nicht lange durchgehalten werden kann. Zum anderen ist eben ein
Vertrauens- und Entwicklungsraum mit der Integration in soziale Bezüge ein unverzichtbares
therapeutisches Agens, das mit den Mechanismen von Fachleistungsstunden aber schlecht
finanziert werden kann.
Dr. Ernst-Ulrich Vorbach
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Evang. Krankenhaus Elisabethenstift gGmbH
Landgraf-Georg-Straße 100
64287 Darmstadt
E-mail: vorbach.ernst-ulrich@eke-da.de