Pro
Joachim Klosterkötter
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat aus guten Gründen die Prävention mentaler
Störungen zu einer ihrer primären Zielsetzungen für die nächsten Jahre und Jahrzehnte
erklärt. Ihr jüngster diesbezüglicher Bericht „Prevention of Mental Disorders - Effective
Interventions and Policy Options” listet sieben Störungsgruppen auf, für die sich
heute schon Erfolg versprechende Präventionsprogramme umreißen lassen, und führt darunter
auch die psychotischen Störungen an [1].
Wie könnte eine solche Programmatik speziell für die Schizophrenien tatsächlich aussehen?
Eine universale Prävention, mit der man sich ohne Selektion einfach an die Allgemeinbevölkerung wenden und beispielsweise
generelle Verbesserungen der Schwangerschafts- und Geburtsvorsorge anbieten könnte,
käme wegen der relativ geringen Bedeutung der damit erreichbaren Krankheitsursachen,
etwa der Geburtskomplikationen, nicht in Betracht. Auch eine selektive Prävention, bei der man sich stattdessen auf Bevölkerungsanteile mit erhöhtem Erkrankungsrisiko,
etwa in Zukunft identifizierbare Genträger bezöge, würde sich wegen der nur geringen
Vorhersagekraft aller bislang bekannten Risikofaktoren für Schizophrenie noch gar nicht verwirklichen lassen. Wenn jedoch zusätzlich zu
solchen Risikofaktoren oder auch allein bestimmte Prodromalsymptome auftreten, bei
deren Nachweis man einen Psychoseausbruch schon für die Folgejahre mit hoher Treffsicherheit
vorhersagen kann, bietet sich schon eher ein Erfolg versprechender Ansatzpunkt für
Prävention. Solche Frühwarnzeichen bewirken zudem oft selber schon quälenden Beschwerdedruck und sozial sehr hinderliche
Funktionseinbußen, sodass die Betroffenen nach Rat und Hilfe suchen und ein gezieltes
Interventionsangebot voll indiziert sein könnte. Nur diesen in der angloamerikanischen
Versorgungsforschung- und Gesundheitspolitik schon seit langem fest verankerten Ansatz
der indizierten Prävention hat der WHO-Bericht im Blick, wenn er die Schizophrenie mit zu den bereits angehbaren
psychischen Störungen zählt. Da auch bei den anderen genannten Gruppen, etwa den depressiven
Störungen, Effektivitätsnachweise ganz überwiegend nur für diesen Ansatz vorliegen,
täte man sicher gut daran, auch in Deutschland das Konzept der indizierten Prävention
viel stärker zur Kenntnis zu nehmen als bisher und darin den ersten gangbaren Schritt
auf dem Wege zu einer präventiven Psychiatrie zu sehen.
In den wichtigsten der seit den 90er-Jahren weltweit entstandenen Früherkennungszentren [2]
[3], die sich vorrangig auf psychotische Störungen beziehen, wird intensive Öffentlichkeitsarbeit
betrieben, um Aufmerksamkeit für Risikofaktoren und Frühwarnzeichen sowie die entsprechenden
Hilfsangebote zu erzeugen. Kommen Kontaktaufnahmen zustande, gilt es im Zuge subtiler
Frühdiagnostik vor allem zu unterscheiden, ob sich die Betroffenen schon in der ersten
psychotischen Episode, in einem bereits psychosenahen oder einem noch psychoseferneren
Risikozustand befinden. Im ersteren Fall würde man folgerichtig eine adäquate antipsychotische
Behandlung empfehlen und hätte damit möglicherweise zu einer Verkürzung der „Duration of Untreated Psychosis (DUP)” in der betreffenden Region beigetragen. Dass derartige DUP-Verkürzungen sinnvoll
wären, weil Patienten mit längerer DUP signifikant schlechtere Behandlungs- und psychosoziale
Wiedereingliederungsergebnisse aufweisen, kann man nach dem hierfür inzwischen erreichten
hochrangigen Evidenzgrad nicht mehr gut in Zweifel ziehen [4]. Danach sollte sicherlich „jeder Schizophrene” so früh wie möglich nach den für
Erstepisoden geltenden Leitlinien behandelt werden.
In den genannten Risikozuständen dagegen sind definitionsgemäß noch keine oder noch
keine voll ausgeprägten psychotischen Symptome zu erkennen, sodass sich auch psychotische
Störungen noch gar nicht diagnostizieren und die Betroffenen erst recht noch nicht
als „Schizophrene” einstufen lassen. Eine Erfüllung der sog. „Ultra-High-Risk(UHR)”-Kriterien würde nach den bislang vier diesbezüglich aussagekräftigen Früherkennungsstudien
bedeuten, dass bei durchschnittlich knapp 40 % der Betroffenen bereits innerhalb der
nächsten zwölf Monate mit dem Ausbruch einer ersten psychotischen Episode zu rechnen
wäre. In den ebenfalls vier bisher durchgeführten prospektiven, randomisierten und
kontrollierten Studien zur indizierten Prävention auf dieser Risikostufe kamen kognitive
Verhaltenstherapie (KVT) im Einzelverfahren zusammen mit niedrig dosiertem Risperidon
[5], Olanzapin in Kombination mit supportiv-psychoedukativer Einzel- und Familienintervention
[6], niedrig dosiertes Amisulprid zusammen mit supportiver psychosozialer Intervention
[7] sowie einmal auch Einzel-KVT allein [8] zum Einsatz. Zweimal ließ sich in der Tat die Inzidenz erster psychotischer Episoden
signifikant reduzieren, einmal verblieb dieser Präventionseffekt auf Trendniveau und
die jüngste dieser vier Studien zeigt zwar schon signifikante Verbesserungen der Symptome
und der sozialen Anpassung, lässt aber noch keine abschließende Beurteilung hinsichtlich
möglicher Präventionseffekte zu.
Der Nachweis der psychosefernen Risikostufe liefe darauf hinaus, dass innerhalb der nächsten 2 - 3 Jahre etwa 50
% der Betroffenen eine erste psychotische Episode entwickeln [3]. Diese Aussagen zur Prädiktionskraft stützen sich bisher nur auf zwei Früherkennungsstudien,
von denen die eine allerdings einen durchschnittlich knapp 10-jährigen Verlaufszeitraum
überschaute und dementsprechend besonders aussagekräftig war [9]. Umso interessanter und vielversprechender erscheint es jetzt, dass die gerade zum
Abschluss gelangende erste hierauf bezogene prospektive, randomisierte und kontrollierte
Frühinterventionsstudie rein mit psychologischen Mitteln überzeugende Präventionseffekte
erzielen konnte. In der Gruppe, die an einem auf KVT-Basis neu entwickelten multimodalem
Programm teilgenommen hatte, sind weniger Übergänge in die psychosennähere Risikostufe
erfolgt und vor allem auch signifikant weniger schizophrenieforme und schizophrene
Störungen aufgetreten [10].
Insgesamt befindet sich bei dieser Studienlage die indizierte Prävention schizophrener
Störungen sicherlich noch im Stadium der wissenschaftlichen Erprobung. Wenn die Entwicklung
auf diesem innovativen Gebiet aber weiter so voranschreitet wie bisher, ließen sich
schon in den nächsten Jahren evidenzbasierte Ergebnisse in die Versorgungspraxis umsetzen
und möglichst jedem Ratsuchenden mit Frühwarnzeichen auf die individuellen Bedürfnisse
zugeschnittene Präventionsangebote unterbreiten.
Univ.-Prof. Dr. Joachim Klosterkötter
Klinik und Poliklinik
für Psychiatrie und Psychotherapie
Universität zu Köln
Kerpener Straße 62
50924 Köln
E-mail: joachim.klosterkoetter@uk-koeln.de
Kontra
Ronald Bottlender
Die vielfach gefundene Assoziation zwischen längerer DUP (Duration of Untreated Psychosis)
und ungünstigerem Outcome [11]
[12] ist eine der Hauptstützen für die Hypothese, dass über eine Verkürzung der DUP,
eine Verbesserung des Krankheitsverlaufs der Schizophrenie erreicht werden kann. Darüber
hinaus wird derzeit der Ansatz verfolgt, „Patienten” sogar schon vor Ausbruch der
ersten Psychose zu identifizieren und zu behandeln. Hierdurch soll der Ausbruch der
Schizophrenie verhindert oder wenigstens verzögert und deren Langzeitverlauf verbessert
werden.
Was spricht nun gegen dieses Konzept? Prinzipiell ist hier festzuhalten, dass therapeutisches
Handeln stets am Einzelfall ausgerichtet ist. Allaussagen im Sinne von „Jeder Patient
wird so und so behandelt” sind insofern für die Medizin wenig geeignet. Die Eingangsthese
verkennt ferner, dass das primäre Problem in der Schizophreniebehandlung oft nicht
im Zeitpunkt, sondern in der Akzeptanz und Compliance der Patienten liegt. Bis zu
89 % der schizophrenen Patienten sind bezüglich ihrer Behandlung incompliant [13]. Solange aber diese Problematik nicht nachhaltig angegangen wird, steht zu befürchten,
dass auch eine frühe und dann eben oft von Incompliance gefolgte Therapie den Verlauf
der Schizophrenie nicht substanziell ändern wird. Abgesehen von diesen Punkten lassen
sich aber noch spezifischere Punkte gegen die o. g. Devise ins Feld führen.
Die Evidenzen bezüglich der Assoziation zwischen DUP und Outcome sind zwar zahlreich
und recht konsistent, dennoch handelt es sich hierbei zunächst einmal nur um korrelative
Zusammenhänge. Korrelationen sind aber per se noch keine Kausalzusammenhänge. So bedeutet
etwa der statistische Zusammenhang zwischen längeren Haaren und erhöhtem Brustkrebsrisiko
weder, dass längere Haare karzinogen sind, noch dass durch eine Verkürzung der Haarlänge
das Krebsrisiko gesenkt wird. Missing Link dieser Assoziation ist das Geschlecht.
Ähnlich könnte es sich bezüglich des Zusammenhangs zwischen DUP und schizophrenem
Krankheitsverlauf verhalten. Empirische Daten, die prospektiv belegen, dass eine experimentelle
Reduktion der DUP tatsächlich eine Verbesserung des schizophrenen Krankheitsverlaufs
nach sich zieht, fehlen bis dato.
Nun könnte man aber einwenden, dass eine Frühtherapie schon allein deswegen sinnvoll
ist, weil dadurch Leiden verkürzt und größerer Schaden verhindert wird. Diesem Standpunkt
ist zu entgegnen, dass frühe Therapie durchaus schädlich sein kann, wie dies u. a.
am Beispiel des Debriefings zur Prävention der PTSD eindrucksvoll belegt wurde [14]. Folge einer Frühtherapie bei Schizophrenie könnte sein, dass vermehrt auch solche
Patienten frühzeitig den Risiken einer Behandlung ausgesetzt werden, deren Psychose
- hätte man den Spontanverlauf abgewartet - auch ohne spezifische und insbesondere
kontinuierliche Therapiemaßnahmen abgeklungen wäre. Die Größenordnung dieser Gruppe
ist durchaus relevant und dürfte mit jener der Gruppe von 1-Episoden-Verläufen, welche
studienabhängig bei bis zu einem Drittel liegt [15], vergleichbar sein. Berücksichtigt man ferner, dass bei generell früh einsetzender
Therapie - und dies ist eine immanente Tendenz der Früherkennungsprogrammatik - nicht
nur schizophrene Patienten, sondern z. B. auch Patienten mit zu Spontanremissionen
neigenden vorübergehenden psychotischen Störungen von der Frühtherapie betroffen wären,
stiege dieser Prozentsatz weiter an.
Die Frage, die sich hieraus ergibt, lautet: Wie lässt sich also die Therapie von Patienten,
die auch ohne Therapie einen günstigen Verlauf gehabt hätten, vermeiden? Wie zuvor
dargestellt, ist dieses Problem schon bei manifest Erkrankten in bedeutsamem Ausmaß
vorhanden, noch gravierender wird es aber, wenn die Frühtherapie Personen betrifft,
deren Psychose noch gar nicht manifest ist, und bei denen lediglich ein Psychoserisiko
postuliert wird.
Die mit heutigen Methoden identifizierbaren Risikopersonen entwickeln innerhalb eines
Jahres zwischen 20 und 60 % erstmalig das Vollbild einer Psychose [16]. Vice versa heißt dies aber, dass zwischen 40 und 80 % dieser Risikopersonen keine
Psychose entwickeln. Würde man nun bei Risikopersonen generell eine Therapie empfehlen,
bedeutete dies, dass die Therapie in bis zu 80 % der Fälle prinzipiell nicht indiziert
wäre. Klosterkötter et al. [9] berichteten zwar vergleichsweise bessere Prädiktionswerte mit einer falsch Positivenrate
von unter 10 %. Da in ihrer Studie die hoch prädiktiven Symptome anfänglich aber nur
bei etwa einem Drittel der Patienten vorlagen und die Rate an falsch Negativen mittels
dieser Symptome ähnlich hoch lag, ist eine breitere Früherkennung auch mit dieser
Methodik nicht praktikabel. Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass diese
Daten an speziellen Risikogruppen erhoben wurden und somit nicht ohne weiteres auf
die Allgemeinbevölkerung, die Ziel einer breit angelegten Präventionsstrategie wäre,
übertragbar sind. Epidemiologische Studien zeigen Prävalenzen psychotischer Symptome
in der Allgemeinbevölkerung, die bis zu 50fach höher liegen als die der Schizophrenie
[17]. Bei einem Screening der Allgemeinbevölkerung ist also zu erwarten, dass die Rate
falsch Positiver rapide ansteigt. Auch würde die von Klosterkötter berichtete positive
prädiktive Bedeutung ihres Instrumentes bei Anwendung in der Allgemeinbevölkerung
von 70 auf lediglich 2 % abfallen [18].
Angesichts dieser Problematik wird von den Protagonisten der Früherkennung nun überwiegend
die indizierte Prävention propagiert, bei der nur solche Personen gescreent und behandelt
werden, die quasi aus eigenen Bedürfnissen heraus ein Früherkennungszentrum aufsuchen.
Dieser Legitimationsversuch löst das Problem aber nur scheinbar. Auch mit dieser Strategie
werden weiterhin zahlreiche Personen, die in ihrem Leben nie eine Psychose entwickelt
hätten, unnötigerweise der Information über ein bestehendes Psychoserisiko wie auch
dem Risiko von Nebenwirkungen und sozialer Stigmatisierung ausgesetzt.
Die Früherkennung und Therapie der Schizophrenie ist ein neuer und faszinierender
Ansatz. Allem Enthusiasmus zum Trotz darf gleichwohl nicht übersehen werden, dass
auf diesem Gebiet weiterhin mehr Fragen offen als beantwortet sind. Nutzen und Schaden
der Früherkennung bedürfen weiterer sorgfältiger Abwägung. Unabhängig davon, kann
die Frühtherapie der Schizophrenie langfristig nur dann nachhaltig sein, wenn auch
bereits bestehende Therapieangebote z. B. im Sinne integrierter Theapieansätze optimiert
werden [19].
PD Dr. med. habil. Ronald Bottlender
East London and the City Mental Health NHS Trust
Department of Psychiatry
Newham Centre for Mental Health
Glen Road, Cherry Tree Way, London E13 8SP
E-mail: Ronald.Bottlender@elcmht.nhs.uk