Psychiatr Prax 2006; 33(3): 103-104
DOI: 10.1055/s-2005-915477
Editorial
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Rehabilitation psychischer Erkrankungen - ein dringend zu regelnder Problembereich

Rehabilitation of the Mentally IllMathias  Berger1
  • 1Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik, Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie
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Prof. Dr. Mathias Berger

Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik · Abt. für Psychiatrie und Psychotherapie · Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Hauptstraße 5

79104 Freiburg

Email: mathias_berger@psyallg.ukl.uni-freiburg.de

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Publication Date:
03 April 2006 (online)

Table of Contents

Kürzlich warb die psychosomatische Rehabilitationsklinik Paracelsus Roswitha-Klinik in Bad Gandersheim für ein Pilotprojekt der Integrierten Versorgung psychisch Kranker mit folgenden Argumenten:

Patienten klagen aufgrund von Mitpatienten, die unter den Diagnosen F0 - F2 behandelt werden müssen, über ein raues, unruhiges und ängstigendes Klima in psychiatrischen Akutkrankenhäusern, das einer hilfreichen Krankheitsbewältigung im Wege steht. Hierzu kommt die Furcht vor Stigmatisierung, die in der Bevölkerung immer noch weit verbreitet ist. Solche Patienten sind aber oft viel eher bereit und motiviert, sich in einer psychosomatischen Rehabilitationsklinik in Behandlung zu begeben.

Weiter wird für die eigene Klinik mit dem Argument geworben: „Psychiatrische Akutkrankenhäuser berücksichtigen in der Regel weder diagnostisch noch therapeutisch ausreichend die beruflich-soziale Perspektive psychischer Erkrankungen … (Drehtür-Effekt)”.

Diese Werbung ist leider nur ein Beispiel für gleich lautende Bemühungen anderer Rehabilitationskliniken, Patientenströme von den Akutkrankenhäusern für Psychiatrie und Psychotherapie in psychosomatische Reha-Kliniken umzulenken. Sie verdeutlicht ein massives generelles Problem des deutschen Gesundheitswesens, und zwar die unklare Abgrenzung von Akutmedizin und Rehabilitation. Bei zunehmend knapper werdenden Ressourcen und einem dadurch bedingten „Konkurrenzkampf” unterschiedlicher Versorgungsstrukturen wirkt sich die Unschärfe in der Aufgabenzuordnung zu den unterschiedlichen Sektoren zunehmend für die Patientenversorgung kontraproduktiv aus. Ein Blick auf die Verteilung der Ressourcen für die Behandlung psychischer Erkrankungen verdeutlicht eine sehr unterschiedliche Belastung bei der geforderten Einsparung für die unterschiedlichen Bereiche: In der stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung wurden in den letzten 10 Jahren erneut 35 % der Betten abgebaut. Die enormen hierdurch frei gewordenen Mittel wurden nicht, wie zu fordern, in eine verbesserte und intensivierte ambulante Versorgung investiert. Entgegen der allgemeinen Forderung nach „ambulant vor stationär” steigt jedoch die Zahl psychosomatischer Rehabilitationsbetten kontinuierlich an. Eine Verbesserung der Versorgung durch diese Erweiterung des stationären Rehabilitationssektors bei Abbau des Akutbereichs wurde nicht erbracht. Im Gegenteil steigt die Zahl der Krankschreibungen und Frühberentungen aufgrund psychischer Erkrankungen stetig an.

Diese - auch im europäischen Raum ohne Vergleich - zu beobachtende Entwicklung von Bettenkapazitäten ist durch die Unschärfe der Aufgabenverteilung zwischen Akutkrankenhäusern und Rehabilitationseinrichtungen zu erklären. Sie wird noch zugespitzt durch die weiterhin bestehende Unklarheit bei der Aufgabenaufteilung zwischen psychosomatischen Akutkliniken und psychosomatischen Rehabilitationseinrichtungen.

Bei somatischen Erkrankungen sind die Kriterien für die Unterscheidung einer kurativen und rehabilitativen Medizin wie folgt definiert: Bei somatischen Erkrankungen beginnt die rehabilitative Phase, wenn psychosoziale Aspekte bei der Krankheitsbewältigung relevant werden. Sie dient … der Verbesserung der Beeinträchtigung in Beruf und Alltag durch seelische und geistige Einwirkungen (Bayern-Gutachten, 1999). D. h. es ist der Übergang eines biomedizinischen zu einem biopsychosozialen Vorgehen.

Von den Vertretern der psychosomatischen Rehabilitation wird angeführt, dass psychische Erkrankungen oft chronisch verlaufen und psychosoziale Aspekte bei der Aufrechterhaltung, aber auch bei der Wiedereingliederung ins Berufsleben, bzw. den familiären und privaten Rahmen im Vordergrund stehen. Dies stehe im Einklang mit dem Sozialgesetzbuch IX, § 26, Abs. 1. In diesem Paragraphen im Sozialgesetzbuch IX wird aber auch aufgeführt: „Da diese Ziele auch bei der akuten Krankenbehandlung gelten, handelt es sich dabei um eine umfassende Aufgabenstellung des gesamten Gesundheitswesens. Dies schließt natürlich nicht aus, dass bestimmte spezialisierte Sektoren eine besondere Verantwortung für die Rehabilitation übernehmen”.

Bisher wurde die Problematik der dargestellten Definitionen von Rehabilitation in Abgrenzung zur Akutbehandlung für den Bereich psychischer Erkrankungen nicht wirklich reflektiert: Da psychosoziale Aspekte bei psychischen Erkrankungen von Beginn an eine entscheidende Rolle spielen, ist die Unterscheidung eines biomedizinischen Modells für die kurative Medizin und eines biopsychosozialen Modells für die rehabilitative Medizin bei psychischen Erkrankungen nicht anwendbar. Entsprechend führt auch die PsychPV an, dass ein wichtiger Bestandteil der kurativen Behandlung psychischer Erkrankungen die Wiedereingliederung unter Einschluss therapeutischer Aktivitäten im privaten und beruflichen Lebensfeld darstellt. So hat jede psychiatrisch-psychotherapeutische Akutklinik bereits durch die PsychPV vorgeschrieben einen Bereich bzw. therapeutische Angebote für die Belastungserprobung und rehabilitative Eingliederung in das berufliche und private Lebensfeld. Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), die von der WHO im Mai 2001 neben der ICD-10 für die gesamte Medizin eingeführt wurde, ist in Deutschland, und zwar nur hier zu Lande, ausschließlich zur Grundlage des SGB IX Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen aufgenommen worden. Sie ist als Erweiterung eines biomedizinischen Modells (ICD-10) zu einem biopsychosozialen Modell (ICF) im Gesetz verankert worden. Sie zielt auf einen ressourcenorientierten Ansatz mit dem Ziel der Teilhabe (Empowerment) und teilt die Handlungskompetenzen auf in Leistungsfähigkeit, Gelegenheit (Kontext) und Wille = Leistungsbereitschaft. Bereits der erste Blick auf das biopsychosoziale Modell der ICF verdeutlicht, dass bei jedem Patienten einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik so vorgegangen wird und das ICF-Modell implizit Anwendung findet. Diese zur Unterscheidung von Akutmedizin und Rehabilitation zu benutzen, wäre in dem Bereich psychischer Erkrankungen unsinnig, verdeutlicht aber auch, wie wichtig es ist, dass die psychiatrisch-psychotherapeutischen Kliniken die Internationale Klassifikation rasch auch formal in ihre Arbeit integrieren. Da die ICF vorgibt, nicht nur Krankheitsfolgen, sondern auch Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren zu berücksichtigen, wird offensichtlich, dass wohnortferne Rehabilitationskliniken dieses ICF-Ziel, die reale Lebenswirklichkeit der Patienten positiv zu beeinflussen, etwa im Gegensatz zu wohnortnahen psychiatrisch-psychotherapeutischen Tageskliniken, kaum erreichen können.

Der Gesetzgeber ist also dringend aufgerufen, für den Bereich psychischer Erkrankungen deutlich zu machen, dass rehabilitative Aspekte unverzichtbare Aspekte in der Akutbehandlung, und zwar nicht nur im stationären, sondern auch im ambulanten Bereich, darstellen [1]. Da bei psychisch erkrankten Menschen ein Wechsel des therapeutischen Teams unvergleichbar komplizierter und belastender ist als etwa bei Patienten mit Herz-Kreislauf- oder orthopädischen Erkrankungen, sollten die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden, dass Akutbehandlung und Rehabilitation von den identischen Institutionen übernommen werden können und nicht, wie im Moment, durch den Wechsel des Kostenträgers ein Wechsel der Institutionen notwendig wird. Die Problematik wird bei einem Wechsel auch des behandelnden Faches, d. h. von Psychiatrie und Psychotherapie zur Psychosomatischen Medizin noch verschärft.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation hat ein Rahmenkonzept für eine ambulante Rehabilitation bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen verabschiedet (ARPP). Indikationsbereiche sind vor allem depressive Störungen, Belastungs- und Anpassungsstörungen, Angststörungen und somatoforme Störungen sowie psychosomatische Erkrankungen und körperliche Störungen, bei denen psychische Faktoren eine wesentliche Rolle spielen. Entsprechend dem bisherigen Vorgehen stationärer Rehabilitationskliniken ist auch hier das Schwergewicht vornehmlich auf die Psychotherapie gerichtet. Für 40 Rehabilitanden sind 5œ Arzt- bzw. Psychologen-Stellen, aber nur 1 Ergotherapeut und 1 bis 2 Krankenpflegekräfte/ArzthelferInnen vorgesehen [2]. Diese ambulanten psychotherapeutischen Einrichtungen als Rehabilitationsmaßnahmen zu bezeichnen, erscheint euphemistisch. Sie stellen keine wirkliche Alternative zur Komplextherapie, etwa in psychiatrisch-psychotherapeutischen Tageskliniken dar. Da sie aber kostengünstiger sein sollen, ist zu befürchten, dass die Kassen längerfristig eine Verschiebung der Patienten von den Tageskliniken in solche Einrichtungen anstreben werden. Dem gegenüber wurden die Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke (RPK), in denen bisher kaum mehr als 1000 Patienten pro Jahr behandelt werden, bisher nicht entscheidend ausgebaut und vor allen Dingen nicht auch Rehabilitationszeiten von unter drei Monaten, wie sie etwa bei vielen Patienten mit Depressionen sinnvoll wären, in diesen Einrichtungen ermöglicht.

Da all diese Fragen die Kostenträgerstrukturen d. h. Krankenkassen, Rentenversicherungsträger, Sozial- und Arbeitsämter betreffen, ist eine Klärung im Hinblick auf eine integrative, evidenzbasierte Behandlung auch chronisch kranker Patienten in effizienter und kostengünstiger Weise nur möglich, wenn sich der Gesetzgeber dieses Problems annimmt. Die Selbstverwaltungen scheinen damit überfordert. Da psychisch Erkrankte Spitzenpositionen bei der Zahl der Krankheitstage und der Frühberentungen einnehmen, ist ein Handlungsbedarf für alle inzwischen deutlich erkennbar.

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Literatur

Prof. Dr. Mathias Berger

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Hauptstraße 5

79104 Freiburg

Email: mathias_berger@psyallg.ukl.uni-freiburg.de

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