Der Klinikarzt 2005; 34(8/09): XXVII-XXVIII
DOI: 10.1055/s-2005-917954
Recht

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Wegweiser für den Klinikalltag - Überwachungspflicht nach Sedierung eines Patienten

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Publication Date:
05 October 2005 (online)

 
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In vielen Bereichen der Medizin können diagnostische und therapeutische Eingriffe, die früher mit einem kostspieligen stationären Aufenthalt verbunden waren, heutzutage ambulant durchgeführt werden. Aus medizinischer und betriebswirtschaftlicher Sicht ist diese Entwicklung selbstverständlich begrüßenswert. Doch wie sieht es in haftungsrechtlicher Hinsicht aus, und reichen die baulichen Infrastrukturen für eine ambulante Patientenversorgung aus, um den Erfordernissen der postinvasiven Phase Rechnung zu tragen?

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Schadensersatzpflicht des Arztes nach Magenspiegelung

Ein Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofes (Urteil vom 8.4.2003; AZ: VI ZR 265/02) hat wegen seiner Strenge bei Ärzten Unsicherheit im Umgang mit ambulanten Eingriffen hervorgerufen. Worum ging es? Ein Patient verstarb bei einem Verkehrsunfall, nachdem er sich eigenmächtig nach einer Magenspiegelung in Sedierung aus dem Krankenhaus entfernt hatte. Vor dem Eingriff wurde der Patient vom durchführenden Arzt wie auch bereits zuvor vom Hausarzt darüber belehrt, dass er nach dem Eingriff kein Kraftfahrzeug führen dürfe. Wie der behandelnde Arzt wusste, war der Patient mit dem eigenen PKW in die Klinik zur Behandlung gefahren, wollte jedoch nach der Behandlung mit dem Taxi nach Hause fahren.

Nach dem Eingriff hielt sich der Patient zwei Stunden auf dem Flur vor dem Dienst- und Behandlungsraum des behandelnden Arztes auf. Arzt und Patient hatten wiederholt Blick- und Gesprächskontakt, bis sich der Patient - ohne vom Arzt entlassen worden zu sein - eigenmächtig entfernte und mit seinem eigenen PKW wegfuhr. Auf der Heimfahrt verunglückte er bei einem Verkehrsunfall tödlich. Die Richter des Bundesgerichtshofes verurteilten den behandelnden Arzt wegen einer Verletzung seiner Überwachungspflicht zur Zahlung von Schadensersatz an die Hinterbliebenen.

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Sedierung als Gefahrenquelle zur Selbstgefährdung

Kann der Arzt für den Tod des Patienten verantwortlich gemacht werden? Rechtliche Grundlage für die Haftung des behandelnden Arztes bilden zwei Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). In § 823 Abs. 1 BGB heißt es: "Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, [...] eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet." Den Tatbestand der Fahrlässigkeit definiert § 276 Abs. 2 BGB: "Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt."

Es ist die Aufgabe der Gerichte festzulegen, was im jeweiligen Einzelfall als erforderliche Sorgfalt anzusehen ist und das schädigende Verhalten daran zu messen. Im vorliegenden Fall meinten die Richter, es hätte der Sorgfalt eines ordnungsgemäß handelnden Arztes entsprochen, den Patienten nach dem Eingriff zu überwachen bzw. durch Aufsichtspersonal überwachen zu lassen, sodass er nicht mit seinem PKW hätte nach Hause fahren können. Gegebenenfalls hätte der Arzt sogar dafür sorgen müssen, dass der Patient vom eigenmächtigen Entfernen der Klinik durch Intervention abgehalten wird. Insbesondere die Unterbringung des sedierten Patienten auf dem Flur vor den Dienst- und Behandlungsräumen des Arztes hielten die Richter für ungeeignet, um die Überwachungspflichten zu erfüllen. Der Patient sei bei dieser Art der Unterbringung nicht gehindert, sich unbemerkt zu entfernen.

Anknüpfungspunkt für das Vorliegen einer derart weit reichenden Überwachungspflicht bei der Entlassung sedierter Patienten ist ein im Zivilrecht allgemein geltender Grundsatz: Wer eine Gefahrenquelle schafft oder verstärkt ist auch verpflichtet, die notwendigen Vorkehrungen zum Schutz des Gefährdeten zu treffen.

Für den Klinikarzt bedeutet dies: Mit der Verabreichung von Sedativa schafft der Arzt für den Patienten eine Gefahrenquelle. Solche Medikamente haben Auswirkungen auf die kognitiven und rationalen Fähigkeiten des Patienten. Rechtlich gesehen resultiert daraus die Pflicht des Arztes, alles zu unternehmen, um einen Schaden zu vermeiden, den Patienten insbesondere von einer Teilnahme am Straßenverkehr abzuhalten.

Die vorherige Aufklärung des Patienten über die Wirkung einer Sedierung befreit den Arzt nicht von dieser Verpflichtung. Nach Auffassung des obersten Gerichtes muss er damit rechnen, dass der sedierte Patient nach Verabreichung des Medikamentes eine Gedächtnisstörung erleidet und sich folglich gar nicht mehr an die vorherige Belehrung erinnern kann.

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Umsetzung in der Praxis

Das Urteil des Bundesgerichtshofes gilt unter Juristen als erste Grundsatzentscheidung für die Überwachungspflicht nach Sedierung von Patienten. Der Fall weist zwar - schon wegen der Kenntnis des Arztes von der Anreise des Patienten mit dem eigenen PKW zur Klinik - unstreitig Besonderheiten auf. Die Aufklärung des Patienten über die eingeschränkten rationalen und kognitiven Fähigkeiten nach der Sedierung reicht zur Freizeichnung des Arztes jedoch eindeutig nicht aus. Verhält sich der sedierte Patient trotz ordnungsgemäßer Aufklärung regelwidrig, hat der Arzt trotzdem seine Überwachungspflicht verletzt und kann dafür verantwortlich gemacht werden.

Wie verhalten sich Ärzte und Krankenhausträger nun aber richtig? Brauchbare Handlungsdirektiven lassen sich den Entscheidungsgründen des Urteils, aber auch der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) "Sedierung und Analgesie (Analgosedierung) von Patienten durch Nicht-Anästhesisten" entnehmen.

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Überwachung in einem Aufwachraum

Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes ist die Unterbringung eines sedierten Patienten im Flur vor den Dienst- und Behandlungsräumen ungeeignet. Die sich aus der Gabe sedierender Mittel ergebende Fürsorgepflicht erfordere es, den Patienten in einem Raum (zum Beispiel Vorzimmer bzw. Überwachungsraum) unterzubringen, in dem er ständig überwacht wird und gegebenenfalls vom "Überwachungspersonal" daran erinnert werden kann, dass er das Krankenhaus nicht eigenmächtig verlassen darf, bevor er "home ready" ist. Dies ist der Fall, wenn seine Vitalfunktionen stabil sind, er ohne Unterstützung gehen, trinken und Wasser lassen kann, er kaum noch unter Übelkeit leidet und seine Schmerzen adäquat behandelt sind. Die ständige Beaufsichtigung des sedierten Patienten verlangt folglich zusätzlichen personellen Einsatz, der sich nicht - beispielsweise durch die Abnahme des KFZ-Schlüssels - rationalisieren lässt.

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Schutz durch Begleitperson, Aufklärung und Dokumentation

Zum weiteren Schutz vor Gefahren, die sich aus der Sedierung der Patienten ergeben können, wird empfohlen, das Mitbringen einer kompetenten Begleitperson zur Voraussetzung des Eingriffs machen. Erscheint der Patient ohne die Begleitperson, wird dem Arzt empfohlen, den geplanten Eingriff nicht oder in Notfällen nur unter stationären Bedingungen durchzuführen.

Patient und Begleitperson müssen - dies war grundsätzlich auch schon vor dem Urteil der Fall - über die Nachwirkungen einer Sedierung, den Umgang mit möglichen Komplikationen und die sich ergebenden Gefahren eingeschränkter Fähigkeiten schriftlich aufgeklärt werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass die Patienten bis zu 24 Stunden nach Sedierung und/oder Analgesie keine Verträge abschließen, keine komplizierten Maschinen bedienen, keinen Alkohol trinken und kein Auto steuern dürfen.

Sowohl der Patient als auch die Begleitperson sollten zudem mit ihrer Unterschrift bestätigen, dass sie die Aufklärung verstanden haben und dass die Begleitperson bereit ist, die Verantwortung für den Heimtransport des sedierten Patienten und dessen Überwachung für die nächsten 24 Stunden zu übernehmen.

Der Arzt steht nach der Rechtsprechung in der Pflicht, eine Selbstschädigung des Patienten infolge der Sedierung auszuschließen. Kommt es zu einem Schadensfall, liegt die Beweislast beim Arzt. Nachteile aus der Darlegungs- und Beweispflicht lassen sich vermeiden, wenn der Arzt anhand einer gründlichen Dokumentation nachweisen kann, dass er den Patienten und seine "Obhutsperson" ordnungsgemäß aufgeklärt hat, der Patient in einem Raum unter ständiger Bewachung untergebracht war, gegebenenfalls beim Versuch eigenmächtigen Verlassens interveniert wurde und die Übergabe an die Begleitperson zur Weiterbetreuung nach Hause stattgefunden hat.

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Fazit

Das Urteil des Bundesgerichtshofes stieß verständlicherweise auf große Kritik. Die Übertragung der Gesamtverantwortung für Schadensfälle sedierter Patienten auf den Arzt über den Weg einer scheinbar grenzenlosen Überwachungspflicht erscheint in Zeiten wachsender Patientenautonomie fragwürdig. Ob sich aus dieser Einzelentscheidung des Gerichts eine gefestigte Rechtsprechung entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Um juristischen Komplikationen aus dem Weg zu gehen, sollten Krankenhausträger und Ärzte daher darauf achten, ihre Praxis im Umgang mit sedierten Patienten leitliniengerecht zu gestalten.

Dr. iur. Isabel Häser, München