Einleitung
Steinkohlenbergleute sind bezüglich einer Silikose (BK 4101) und einer chronischen
obstruktiven Bronchitis/eines Emphysems (BK 4111) gefährdet. Dabei können lange Latenzzeiten
zwischen der untertägigen Tätigkeit und einer erkrankungsbedingten Leistungseinschränkung
auftreten. Für die Zusammenhangsbegutachtung ist es in solchen Fällen wichtig, auch
auf klinisch nicht im Vordergrund stehende Brückensymptome, z. B. eine chronische
Bronchitis, zu achten. Das vorliegende Beispiel, zu dem es eine Vielzahl von Parallelen
gibt, weist auch auf die Problematik der Abgrenzung der beiden Berufskrankheiten und
die Schwierigkeit der Festlegung des Beginns einer relevanten Funktionseinschränkung
(MdE) bei über weite Phasen fehlenden ärztlichen Befunden hin.
Anamnese
Klinische Anamnese
Eine eingehende Krankheitsanamnese des Anfang 2003 verstorbenen Patienten ist den
Akten nicht zu entnehmen. Deshalb wurden getrennt telefonisch zwei Fremdanamnesen,
nämlich von der Ehefrau und der Tochter, erhoben. Diese bestätigten übereinstimmend,
dass bei dem früher gesunden Mann seit Ende seiner Tätigkeit im Steinkohlenbergbau
1965 ein chronischer Husten mit Auswurf im Sinne der WHO-Definition der chronischen
Bronchitis vorlag. Sowohl in diesen Fremdanamnesen als auch in vorliegenden ärztlichen
Berichten wird ab 1995 auf einen progredienten Verlauf der Atembeschwerden (Symptome
einer chronischen obstruktiven Bronchitis mit wiederholten Exazerbationen, Belastungs-Luftnot,
zuletzt auch Luftnot in Ruhe) hingewiesen. Anfang Juni 1999 war wegen Verschlimmerung
dieser Symptome bei neu aufgetretenen Herzrhythmusstörungen (Vorhofflimmern) eine
stationäre Krankenhausbehandlung erforderlich. Ab Frühjahr 2001 waren nur noch minimale
körperliche Anstrengungen möglich. Im Mai und Juni 2001 kam es abermals zu einer stationären
Behandlung. In der Folgezeit bestand bei Zunahme der intermittierend fieberhaften
Atemwegsinfekte eine weitgehende Abhängigkeit vom Sauerstoff-Konzentrator. Anfang
2002 trat eine erneute Verschlechterung mit zunehmenden Beinödemen und Orthopnoe ein.
Im Herbst 2002 reduzierte sich der Allgemeinzustand unter dem Bild eines Apoplexes
nochmals. Am 12. 1. 2003 verstarb der in den letzten Lebensmonaten bettlägerige Patient.
Berufsanamnese und Confounder
Der 1929 geborene Versicherte war von 1951 bis 1965 als Schlepper und Hauer im Steinkohlenbergbau
auf zwei verschiedenen Zechen des Ruhrgebiets unter Tage tätig. Danach arbeitete er
bis 1990 als Lkw-Fahrer. Die kumulative Feinstaubdosis im Steinkohlenbergbau veranschlagte
die Bergbau-BG mit 145,34 Feinstaubjahren.
Ärztliche Untersuchungsbefunde
Befunde von während oder nach der Tätigkeit im Steinkohlenbergbau durchgeführten arbeitsmedizinischen
Vorsorgeuntersuchung (Gesundheitsschutz-Bergverordnung) standen nicht zur Verfügung.
Am 5. 6. 1999 wurde ärztlicherseits erstmals die Diagnose chronische obstruktive Bronchitis/Lungenemphysem
gestellt. Damals wiesen die Blutgase und die Lungenfunktionsprüfung bereits eine ausgeprägte
respiratorische Partialinsuffizienz, ein Lungenemphysem und - trotz Therapie - eine
Einschränkung der 1-Sekunden-Kapazität aus. Spätere Untersuchungen bestätigten diese
Befunde.
In den Akten befinden sich im Einzelnen folgende ärztliche Befunde und Messwerte:
-
8/1995 Angabe des Hausarztes: erstmalige Untersuchung und Behandlung wegen Atemnot
und Bronchopneumonien.
-
6/1999 Angabe des Hausarztes: auskultatorisch Giemen und Brummen.
-
5. 6. bis 19. 6. 1999 stationäre Behandlung: Pa,O2
, 50,8 mm Hg, Pa,CO2
41,2 mm Hg, Sauerstoffstättigung 86,3 %; nach 2 L O2/min Pa,O2
66,3 mm Hg, Pa,CO2
40,9 mm Hg, Sauerstoffstättigung 93,5 %. Belastungs-EKG bis 75 W. Eingeschränkte
1-Sekunden-Kapazität.
-
13. 3. 2001 ambulante Untersuchung und Behandlung durch Facharzt: Pa,O2
51 mm Hg, nach 15 min 2 L O2/min Pa,O2
59 mm Hg, Sauerstoffsättigung 88 %, Einschränkung der exspiratorischen Flussvolumenparameter
ohne Besserung nach Bronchospasmolyse; DL,CO 45 % und KCO 48 % des Sollmittelwertes.
-
17. 5. bis 7. 6. 2001 stationäre Behandlung: mittelgradige Hypoxämie, mittelgradig
erniedrigte absolute 1-Sekunden-Kapazität, geringe Lungenblähung, Hinweis auf Lungenemphysem,
Verdacht auf beginnende bronchiale Instabilität.
-
22. 2. 2002 ambulante Untersuchung durch Facharzt: Rt 0,22 kPa/L/s (Sollmittelwert 0,22 kPa/L/s), IGV 4,7 L (Sollmittelwert 3,13 L), RV
3,5 L (Sollmittelwert 2,59 L), VC 2,66 L (Sollmittelwert 3,77 L), FEV1 1,96 L (Sollmittelwert 3,13 L), FEV1/VC 74 % (Sollmittelwert 74 %), Pa,O2
69,2 mm Hg (Sollmittelwert 76,7 mm Hg). (Sollmittelwerte der Spirometrie nach Brändli
u. Mitarb. [1], der Bodyplethysmographie nach Matthys u. Mitarb. [2], das RV nach Quanjer u. Mitarb. [3] und des IGV nach Ulmer u. Mitarb. [4]).
-
5. 7. bis 11. 7. 2002 stationäre Behandlung: Fahrradergometrie bis 50 W möglich, Abbruch
wegen Dyspnoe bei COPD.
Die konventionellen Röntgen-Thoraxaufnahmen belegten das Vorliegen einer leicht- bis
mittelgradigen Silikose p/q 2/2 (ILO 1980 [5]
[6]; Abb. 1). Erstmalig findet sich in der BK-Anzeige vom 21. 6. 1999 diese Diagnose, wobei auf
die zu Grunde gelegten Röntgen- und Lungenfunktionsbefunde vom 5. 6. 1999 verwiesen
wurde.
Abb. 1 Röntgenthoraxaufnahme vom Januar 2002.
Die am 6. 12. 2001 und 31. 1. 2002 durchgeführten Computertomographien des Thorax
stützten die Diagnosen „Lungenemphysem in den Ober- und Mittelfeldern” („zum Teil
großblasig”), „Silikose” („knotige interstitielle Verdichtungen”) und „Pneumonie”.
Ab Frühjahr 2001 wurden während der rezidivierend aufgetretenen fieberhaften Atemwegsinfekte
mit zeitweise stationärer Behandlung pneumonische Infiltrate dokumentiert.
Besondere Bedeutung kommt dem Sektionsbefund zu, welcher folgende Auffälligkeiten
aufweist: Leichtgradige kleinknotige Anthrako-Silikose mit schweren chronischen bronchitischen
Lungenveränderungen und fortgeschrittenem Emphysem, Unterlappen-betonte eitrig einschmelzende
Bronchopneumonien; Zustand nach abgelaufenen kleineren Lungenembolien, Mischstaubgranulomatose
der Lungenwurzellymphknoten und begleitende fibrinös-eitrige Pleuritis, chronisches
Cor pulmonale mit deutlich dilatiertem rechten Ventrikel und rechtem Vorhof sowie
rechtsseitiger Hypertrophie (Wandstärke 0,7 cm), Zeichen der chronischen Rechtsherzinsuffizienz
mit relativer Trikusspitalklappeninsuffizienz und einer subakuten Stauungsleber, ferner
eine generalisierte Arteriosklerose, eine Prostatahypertrophie mit Balkenharnblase
und ein noch relativ frischer Hirninfarkt von 10 × 6,5 × 5 cm. Als Todesursache wurde
in tabula die respiratorische Insuffizienz auf dem Boden einer komplexen Lungenerkrankung
mit schwerer chronischer Bronchitis, Emphysem und Lungenentzündung gesehen.
Die Röntgenthoraxaufnahme p. a. vom Januar 2002 (Abb. [1]) weist vorwiegend im Bereich der beiden Mittel- und Unterfelder eine feine bis mittelgrobe
Fleckelung und Tüpfelung sowie eine streifig-netzförmig verstärkte Lungengrundzeichnung
auf (ILO 2000 p/q 2/2, ax). Vereinzelt sind auch kleine induriert wirkende Fleckschatten
im rechten Oberfeld, strangförmige Streifenzeichnung vom rechten oberen Hiliuspol
bis zur lateralen Thoraxwand ziehend nachweisbar. Die Lungenwurzeln sind beidseits
betont. Das rechte Zwerchfell ist regelrecht gewölbt, medial etwas unscharf begrenzt.
Der Zwerchfellrippenwinkel soweit einsehbar frei. Das linke Zwerchfell steigt nach
lateral an, ist glatt begrenzt und mit der lateralen Thoraxwand breit adhärent.
Bisherige Begutachtungen und BG-Bescheide
Am 21. 6. 1999 wurde die ärztliche Anzeige einer BK 4101 gestellt.
Laut Bescheid der BBG vom 29. 11. 2000 erfolgte die Anerkennung einer BK 4101 dem
Grunde nach, die Gewährung einer Rente wurde jedoch mit folgender Begründung abgelehnt:
„Eine zu entschädigende Berufskrankheit nach Nr. 4101 liegt vor, wenn Quarzstaublungenveränderungen
zu einer Beeinträchtigung der Lungenfunktion und/oder des Herz-Kreislauf-Systems führen
und hierdurch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grade (in
der Regel mindestens 20 v. H.) verursacht wird.
Die Röntgenfilme vom 6. 6. 1999 zeigen leichtgradige Quarzstaublungenveränderungen.
Nach der Internationalen Staublungenklassifikation (ILO 1980) sind sie mit p/q 1/2
einzustufen. Die silikotischen Lungenveränderungen lassen eine Funktionsbeeinträchtigung
von Lungen und/oder Herz-Kreislauf-System noch nicht erwarten.
Eine klinische Untersuchung (Begutachtung) ist bei diesem Befund nicht erforderlich.
Die Landesanstalt für Arbeitsschutz Nordrhein-Westfalen hat im Verwaltungsverfahren
mitgewirkt (§ 9 Abs. 6 Sozialgesetzbuch VII, § 4 BKV).
Der Bescheid ergeht auf Beschluss des Rentenausschusses.”
Den Widerspruch des Versicherten wies die Bergbau-BG mit Bescheid vom 19. 11. 2002
mit folgender Begründung zurück: „Sie haben keinen Anspruch auf Zahlung einer Rente,
weil die Quarzstaublungenveränderungen nicht zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit
(MdE) führen und damit die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch gemäß § 56 Sozialgesetzbuch
(SGB) VII nicht erfüllt sind.
Nach dem Röntgenfilm vom 25. 1. 2002 liegen bei Ihnen Quarzstaublungenveränderungen
der Kategorie p/q 2/2 vor. Es entspricht ärztlich-wissenschaftlichem Erkenntnisstand,
dem die Rechtssprechung folgt, dass silikotische Lungenveränderungen beim Fehlen silikotischer
Schwielen zumindest annähernd eine Streuung der Stufe 3 der ILO-Klassifikation erreichen
müssen, um die Lungen- oder Herzkreislauffunktion beeinträchtigen zu können. Entsprechende
silikotische Veränderungen sind bei Ihnen auch durch den neuen Röntgenfilm nicht nachgewiesen.
Damit scheidet die Silikose als Ursache Ihrer Beschwerden aus.”
In einem Widerspruchsbescheid bzgl. der BK 4111 vom 9. 9. 2004 wird vor allem angeführt:
„Es besteht weitgehend Einigkeit unter den medizinischen Sachverständigen, dass bei
einem beschwerdefreien Intervall von mehr als 20 Jahren die chronische obstruktive
Bronchitis oder das Lungenemphysem in der Regel nicht mehr auf die Staubeinwirkung
unter Tage zurückgeführt werden kann und anlagebedingte oder außerberufliche Faktoren
als Ursache immer wahrscheinlicher werden.”
Bisher eingeholte gutachterliche Stellungnahmen (jeweils nach Aktenlage):
-
am 30. 7. 2001: Keine abschließende Beurteilung wegen unvollständiger Unterlagen (Gutachter
A);
-
am 18. 9. 2003: Es lagen eine chronische Bronchitis im Sinne der WHO, eine obstruktive
Ventilationsstörung und ein Lungenemphysem vor. Silikotische Lungenveränderungen relevanten
Ausmaßes bestanden nicht. Die CB-E war wesentliche Teilursache des Todes. Aktenkundig
sicherer Beginn der CB-E ist der 5. 6. 1999, jedoch ist eine diesbezügliche berufliche
Verursachung aufgrund der langen Latenzzeit von 30 Jahren nicht anzunehmen (Gutachter
B);
-
am 6. 12. 2004: Die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen sind sowohl für BK 4101
als auch für 4111 gegeben; das Lungenemphysem ist wahrscheinlich Folge der beruflichen
Belastung, die chronische obstruktive Bronchitis wegen der langen Latenzzeiten nicht
(Gutachter C);
-
am 14. 3. 2005: Keine BK 4111 wegen zu langer Latenzzeit (Gutachter B).
Eine gutachterliche Zusammenhangsbeurteilung mit persönlicher Anamneseerhebung und
eingehender aktueller klinischer Untersuchung durch einen Gutachter ist der Aktenlage
nicht zu entnehmen.
Aktuelle Gutachterliche Stellungnahme mit Darstellung der infrage kommenden Berufskrankheiten
Zur BK 4111 „Chronische obstruktive Bronchitis oder Emphysem von Bergleuten unter
Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis von
in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m³) × Jahre]”
Wie in der wissenschaftlichen Begründung zur BK 4111 [7] ausgeführt, sind die epidemiologischen Untersuchungen dahingehend kohärent, dass
eine Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen der Staubbelastung im Steinkohlenbergbau und
dem Auftreten von chronischer Bronchitis und Emphysem auch ohne Vorhandensein von
radiologisch fassbaren silikotischen Lungenveränderungen besteht. Für die Beantwortung
der Frage eines Zusammenhangs zwischen langjähriger Tätigkeit unter Tage im Steinkohlenbergbau
mit einer kumulativen Feinstaubdosis von 100 [(mg/m³) × Jahre] einerseits und chronischer
obstruktiver Bronchitis oder Emphysem andererseits sind die geforderten Kriterien
wie Assoziation, Konsistenz der Ergebnisse, zeitlicher Verlauf, Dosishäufigkeits-
bzw. Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Plausibilität und pathologisch-anatomische Resultate
hinsichtlich der Kausalitätsbeurteilung statistisch erkannter Assoziation erfüllt.
Auf die dabei zitierte Primärliteratur wird verwiesen.
Zur BK 4101 „Quarzstaublungenerkrankung, Silikose”
Das Merkblatt zur BK Nr. 4101 [8] fasst wie folgt zusammen:
„…Bronchitische Komplikationen bewirken eine obstruktive Ventilationsstörung… In fortgeschrittenen
Stadien kommt es zu einer arteriellen Hypoxie (respiratorische Partialinsuffizienz)
und Hyperkapnie (respiratorische Globalinsuffizienz). Es können echokardiographisch
eine Druckerhöhung im kleinen Kreislauf, eine chronische Rechtsherzbelastung sowie
klinisch das Vollbild eines Cor pulmonale nachweisbar sein… Chronische obstruktive
Bronchitis, Lungenemphysem, Druckerhöhung im kleinen Kreislauf mit Cor pulmonale u.
a. können Folge der Silikose sein.”
Überlappung und Abgrenzung der BK 4111 und BK 4101
Wie in den vorgenannten BK-Merkblättern/Begründungen sowie in der zu Grunde liegenden
und darüber hinaus gehenden klinisch-wissenschaftlichen Literatur (Übersicht bei [9]
[10]) dargelegt, gibt es eine ausgeprägte Überlappung der beiden vorgenannten Krankheitsbilder.
Beide gehen in der Regel mit einer chronischen obstruktiven Bronchitis und einem mehr
oder weniger ausgeprägten Lungenemphysem einher. Der wesentliche Unterschied ist,
dass die BK 4111 silikotische Lungenschatten in der konventionellen (wenig sensitiven)
Röntgenthoraxaufnahme nicht fordert. Hierbei ist anzumerken, dass intra vitam mittels
der konventionellen Röntgendiagnostik infolge zu geringer Sensitivität die nach langjähriger
Quarzstaubexposition in Sektionsbefunden ganz überwiegend festzustellenden silikotischen
Herde nicht detektiert werden [11]
[12]
[13]
[14]
[15]. Im vorliegenden Erkrankungsfall ist eine leicht- bis mittelgradig ausgeprägte Silikose
seit 1999 dokumentiert (p/q 1/2, später 2/2).
Zusammenfassende Darstellung der Lungenerkrankung einschließlich der diesbezüglichen
ärztlichen Befunde
Der über 15 Jahre im Steinkohlenbergbau unter den damals üblichen Bedingungen (hohe
Grubenstaubbelastung; [16]) tätig gewesene Patient entwickelte gegen Ende dieses Beschäftigungszeitraums eine
chronische Bronchitis im Sinne der WHO-Definition. Diese stellt ein Brückensymptom
für die erst 30 Jahre später bei gleichzeitigem Nachweis einer Silikose der Streuungskategorie
p/q 2/2 anamnestisch fassbare respiratorische Funktionseinschränkung dar. Es gibt
keinen Hinweis, dass in der Zwischenzeit wesentliche weitere Belastungen und Risikofaktoren
hinzugetreten waren. Die Anamnese, die radiologischen Befunde und die Lungenfunktionsdaten
führten zur Diagnose einer chronischen obstruktiven Lungenkrankheit (Bronchitis),
wobei ab 1999 Zeichen einer respiratorischen Insuffizienz, später auch eines Lungenemphysems
mit Atemflusslimitierung dokumentiert wurden. Der weitere Verlauf war progredient
und durch Bronchopneumonien, eine zunehmende respiratorische Insuffizienz und eine
Rechtsherzinsuffizienz gekennzeichnet. Der Sektionsbefund bestätigte schließlich die
klinischen Diagnosen und zeigte eine erheblich destruierte Lunge mit Silikose, Lungenemphysem,
bronchopneumonischen Veränderungen und kleineren Lungenembolien; die komplexe Lungenerkrankung
hatte letztendlich den Tod herbeigeführt.
Wesentliche Ursache der schweren chronischen obstruktiven Lungenkrankheit
Für die Genese der progredient verlaufenen chronischen obstruktiven Atemwegserkrankung
kommen infrage:
-
Nikotinabusus,
-
idiopathische Genese,
-
rezidivierende, meist virale Bronchitiden,
-
die 15-jährige untertägige Belastung im Steinkohlenbergbau.
Zu 1.) Nach Aktenunterlage und Fremdanamnese scheidet Nikotinabusus als wesentliche
Krankheitsursache aus.
Zu 2.) Ein idiopathischer Ursprung ist möglich, jedoch weniger wahrscheinlich, da
dieser ohne Risikofaktoren selten ist. Im vorliegenden Fall ergaben sich weder in
der Eigen- und Fremdanamnese noch serologisch (unauffällige Vorgeschichte, normaler
Alpha 1-Antitrypsinspiegel) Hinweise auf heriditäre bzw. angeborene Störungen.
Zu 3.) Die frühere Anamnese ist bzgl. rezidivierender Atemwegsinfekte leer.
Zu 4.) Als wahrscheinlich ist die Verursachung durch die langjährige und intensive
Belastung im Steinkohlenbergbau (145 Feinstaubjahre, leichte bis mittelgradige Silikose
als Expositionsmarker) anzusehen.
Begründung hierzu:
Eine Reihe von Untersuchungen zeigt übereinstimmend, dass auch Steinkohlenbergleute
mit gering bis mittelgradig gestreuter Silikose (Streuung 1/1 bis 2/3 nach ILO 1980
und 2000 [5]
[6]
[17]
[18]) eine messbare Funktionseinschränkung (restriktiv und/oder obstruktiv) und überhäufig
das klinische Bild einer chronischen obstruktiven Lungenkrankheit aufweisen [19]
[20].
Nach Marine und Mitarb. [21] und Jacobsen [22] und der großen Chronischen Bronchitis-Studie der DFG [23] ist die Wahrscheinlichkeit einer chronischen obstruktiven Lungenkrankheit nach einer
Belastung von 100 Feinstaubjahren im Steinkohlenbergbau etwa doppelt so hoch wie in
der Allgemeinbevölkerung (bei Nichtrauchern von etwa 80 Feinstaubjahren; [24]). Im vorliegenden Fall lag die geschätzte Feinstaubdosis um etwa 50 % über dieser
Marke, wodurch sich bei den ermittelten Dosis-Wirkungs-Beziehungen ein etwa dreifach
erhöhtes Risiko ableiten lässt. Diese Dosis-Wirkungsbeziehung existiert weitgehend
unabhängig vom Schweregrad der Silikose im Röntgenbild. Fünfzig- bis sechzigjährige
Steinkohlenbergleute weisen bereits bei unauffälligem Röntgen-Lungenbefund eine Verminderung
der Vitalkapazität von 600 bis 800 ml und der 1-Sekunden-Kapazität von 350 - 640 ml
auf [25]
[26]
[27]
[28]. Bei geringgradigen Silikosen sind die Funktionseinbußen etwa 10 %, bei höhergradigen
Silikosen etwa 20 % höher als bei gleichaltrigen Bergleuten ohne radiologisch fassbare
Veränderungen [25]
[29]
[30]. Vor diesem klinisch-wissenschaftlichen Hintergrund entspricht die stattgehabte
Belastung von 145 Feinstaubjahren der „wesentlichen Bedingung”, die zu der Erkrankung
in eine besonders enge qualitative Beziehung tritt (Becker 2004 [30]).
Zuordnung der chronischen obstruktiven Lungenkrankheit zu einer Berufskrankheit
Die zweifelsfrei im vorliegenden Erkrankungsfall bestandene chronische obstruktive
Lungenerkrankung des Steinkohlenbergmanns mit Lungenemphysem lässt sich im deutschen
Berufskrankheitenrecht sowohl der BK 4101 (Quarzstaublungenerkrankung, Silikose) als
auch der BK 4111 (Chronische obstruktive Bronchitis und/oder Emphysem von Bergleuten
unter Tage im Steinkohlenbergbau bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Dosis
von in der Regel 100 Feinstaubjahren [(mg/m³) × Jahre] zuordnen. Die Röntgenthoraxaufnahmen
und der Sektionsbefund zeigten eindeutige silikotische Veränderungen, weshalb die
BK 4101 definitionsgemäß zur Anwendung kam.
Analog einer großen Zahl gleichartiger Fälle wurde von Seiten des Unfallversicherungsträgers
kein Begutachtungsverfahren initiiert (Begründung: „Die silikotischen Lungenveränderungen
lassen noch keine Funktionsbeeinträchtigungen von Lungen- und/oder Herz-Kreislauf-System
erwarten”). Die Anerkennung einer BK 4101 erfolgte nur dem Grunde nach; eine Rentenzahlung
(MdE) bei weit fortgeschrittenem Krankheitsbild wurde abgelehnt und zwar mit der Standardformulierung:
„Es entspricht der ärztlich-wissenschaftlichen Kenntnisstand, dem die Rechtsprechung
folgt, dass silikotische Lungenveränderungen beim Fehlen silikotischer Schwielen zumindest
annähernd eine Streuung der Stufe 3 der ILO-Klassifikation erreichen müssen, um die
Lungen- oder Herz-Kreislauf-Funktion beeinträchtigen zu können.” Letztere Aussage
ist falsch. Wie oben angeführt, belegen vielmehr die nationalen und internationalen
Studien übereinstimmend, dass nicht nur radiologisch höhergradige, sondern auch gering-
und mittelgradige silikotische Befunde mit signifikanten Einschränkungen der Lungenfunktion
in restriktiver und obstruktiver Hinsicht, einer chronischen obstruktiven Atemwegserkrankung
und einem Emphysem assoziiert sind.
Minderung der Erwerbsfähigkeit
Eine offene Frage blieb die Festlegung des Beginns und die Staffelung einer rentenberechtigenden
MdE. Die am 5. 6. 1999 erstmals objektivierte Lungenfunktionseinschränkung mit respiratorischer
Partialinsuffizienz war zweifelsohne nicht erst an dem Tag der Befunderhebung entstanden,
sondern hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einen hierfür typischen langjährigen progredienten
Verlauf. Sie steht mit der seit der Beschäftigung im Steinkohlenbergbau vorgelegenen
chronischen Bronchitis in Verbindung, die - nach den fremdanamnestischen und ärztlichen
Angaben - fortschritt und ab Anfang 1995 zu einer klinisch fassbaren Leistungseinschränkung
führte. Derartig lange Latenzzeiten bis zur subjektiv wahr genommenen Leistungseinschränkung
sind nicht ungewöhnlich. In eigenen Untersuchungen fanden sich nicht selten Latenzzeiten
über 40 Jahre. Die detaillierte Auswertung der Daten von 34 begutachteten Steinkohlenbergleuten
(BK 4111) ergab im Mittel sogar eine Latenzzeit zwischen Anlegedatum und Beginn der
Behandlungsbedürftigkeit von ca. 45 Jahren. Dabei zeigte sich allerdings eine erhebliche
Streuung (vgl. Abb. [2] aus: Huber et al. [32]).
Abb. 2 Chronische Bronchitis und Atemwegstherapie in Bezug auf den Beginn der untertägigen
Beschäftigung von 34 begutachteten Steinkohlebergleuten (Raucher und Nichtraucher).
Im vorliegenden Fall waren es 48 Jahre.
Der inkorporierte quarzhaltige Kohlengrubenfeinstaub unterhält lebenslang inflammatorische,
sich zunehmend auch funktionseinschränkend auswirkende Prozesse in der Lunge.
Demnach wird die MdE wie folgt veranschlagt: Ab Anfang 1995 mit 20 %, ab März 1999
mit 40 % (erstmalige ärztliche Objektivierung einer bereits fortgeschrittenen chronischen
obstruktiven Bronchitis und eines Lungenemphysems), ab März 2001 mit 50 % (Verschlechterung
der respiratorischen Insuffizienz), ab Mai 2001 mit 60 % (Beginn pneumonischer Infiltrate),
ab Anfang 2002 mit 80 % (zunehmende Beinödeme, Orthopnoe, keine nennenswerte körperliche
Belastung mehr möglich, fast ständig Sauerstoffgabe erforderlich).
Resümee
Eine COPD des Steinkohlenbergmanns kann mit und ohne Silikose-typische Röntgenbefunde
erst nach einer langjährigen Latenzzeit zu fassbaren Leistungseinschränkungen (MdE
≥ 20 %) führen. Brückensymptome wie bronchitische Beschwerden weisen häufig auf den
ursächlichen Zusammenhang hin. Der Ausschluss von Entschädigungen radiologisch geringgradiger
Silikosen (wie es die Mörser Konvention vorgibt), sollte in Anbetracht der entgegengesetzten
Literaturaussagen und der klinischen Erfahrungen verlassen werden. Jeder Einzelfall
erfordert eine fundierte Zusammenbegutachtung mit detaillierter Berücksichtigung der
Belastungsparameter und des Krankenhausverlaufs.