Der Autor ist Fachleuten bekannt als wortreicher Vertreter der kleinen psychiatrischen
Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, die gegenläufig zur allgemeinen Differenzierung
und Spezialisierung in der Medizin alles können wollen und müssen. Er hat seine Ideen
dazu in diesem Buch niedergelegt.
Zunächst wundert man sich, dass man über einen relativ einfachen Sachverhalt 256 Seiten
füllen kann. Erst bei näherer Betrachtung wird offensichtlich, dass der eigentliche
Sachverhalt, frühestens ab Seite 120 zu finden ist. Bis dahin nämlich lässt sich der
Autor ausführlich aus über Kritik an Institutionen und über das Menschenbild im Allgemeinen.
Letzteres wird ausführlich beschrieben und zwar werden eine Fülle von Philosophen
herangezogen und aufgelistet, die sich zum Menschenbild Krisor's Meinung nach eindeutig
und vernünftig positiv ausgelassen haben. Wenn der Grundtenor, der von Krisor ausgefilterten
Literatur offenbar die Ansichten des Gutmenschen stützt, ist es zumindest befremdlich,
dass auch die Erkenntnis von Marx und Engels im Zusammenhang mit der Frankfurter Schule
erwähnt werden. Sicher wäre es nicht ganz falsch gewesen, gerade die Marxisten und
deren Protagonisten und deren Lehre als Beispiel dafür zu nehmen, wie auch scheinbar
hehre menschliche hochethische Forderungen und Theorien in der Praxis zu Katastrophen
führen und sich Massenmörder wie Stalin, Pol Pot u.a. sich dieser Theorien bedienten.
Man muss diesen Teil nicht unbedingt lesen, ganz abgesehen davon, dass sich die Sprache
teilweise ziemlich schwierig anhört und strapaziert wirkt: "Das Atelier ist der exemplarische
Ort, an dem sich die Enpowerment-Perspektive voll entfaltet" (Seite 120 als Beispiel).
Über Fehler sieht man diskret hinweg (Seite 70): "Bereits 1920 setzen sich Binding
und Hoche, zwei führende Psychiater, mit ihrer Schrift: "Die Freigabe der Vernichtung
lebensunwerten Lebens...". Nur einer von den beiden war Psychiater, der andere Jurist.
Ab Seite 120 geht es eigentlich erst richtig los. Zuerst werden die "gemeindepsychiatrisch-stationären
Strukturelemente" aufgelistet. Sie sollen hier nicht wiederholt werden, nur die Bemerkung
muss erlaubt sein, dass die grundsätzlich offenen Stationen natürlich dann offen gelassen
werden können, wenn hinter der offenen Tür ein hauptamtlicher Mitarbeiter des Krankenhauses
sitzt und aufpasst, wer herein oder heraus will, wie der Rezensent das öfter erlebt
hat.
In großer Aufmachung berichtet der Autor, was alles auf seiner gemeindepsychiatrischen
klinischen Abteilung passiert, wie der gemeindepsychiatrische Alltag abläuft, wie
er die Beschäftigungstherapie ersetzt durch Ateliers, wie die Patienten sogar in der
Gemeinde wirken können, usw. Alles gute Ideen, wobei man sich fragt, wer alles bei
diesem Angebot eigentlich auf der Strecke bleibt. Wo sind die Trainingsmöglichkeiten
für Industriearbeiter, die trotz Medikamenten wieder ihren Arbeitsplatz einnehmen
sollen, wie geht er denn mit den Menschen um, die eine beginnende oder fortgeschrittene
Demenz entwickeln und krankenhausbedürftig sind. Welche von diesen vielen Aktivitäten
kommen zu den Menschen, die an einer schweren Depression oder einer akuten Schizophrenie
erkrankt sind? Diese Patienten kommen entweder in dieser Klinik nicht vor - das aber
kann nicht sein, weil Krisor ausdrücklich betont, dass er sogenannte Vollversorgung
betreibt - oder aber, sie können von diesen Aktivitäten nicht erfasst werden und kommen
in dem Programm nicht vor.
Für alle, die sich für Gemeindepsychiatrie, kleine psychiatrische Abteilungen, offene
Stationen usw. interessieren, ist dieses Buch sicherlich beachtenswert.
Prof. F. Reimer, Weinsberg