Der Klinikarzt 2005; 34(10): 293-298
DOI: 10.1055/s-2005-922092
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© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Eine interdisziplinäre Aufgabe - Anästhesisten in der Notfallmedizin

An Interdisciplinary Problem - Anaesthetists in Emergency Care MedicineB. Dirks1
  • 1Universitätsklinik für Anästhesiologie, Sektion Notfallmedizin, Ulm (Direktor: Dr. Dr. B. Dirks)
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Anschrift des Verfassers

Dr. Dr. Burkhard Dirks 

Universitätsklinik für Anästhesiologie, Sektion Notfallmedizin

Prittwitzstr. 43

89075 Ulm

Publication History

Publication Date:
04 November 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Die Notfallmedizin ist eine interdisziplinäre Aufgabe zu deren wesentlichen Bestandteilen das Fachgebiet Anästhesiologie gehört. Sowohl im präklinischen als auch im klinischen Bereich sind Anästhesisten erfolgreich als Notfallmediziner tätig. Mit der Erstellung von Standardkonzepten sind die stark individualisierten Vorgehensweisen mittlerweile einer standardisierten Therapie gewichen. Im Rettungsdienst benötigt ein Notarzt in erster Linie organisatorisches Geschick, um die Aufgaben, die weit über medizinische Diagnostik und Therapie hinausgehen, zu bewältigen. In der Notfallsituation kommt es darauf an, unter schwierigen Rahmenbedingungen weit reichende Entscheidungen sowohl für die Akuttherapie als auch die Zuweisung des Patienten zu treffen. Zumindest für die häufigsten Notfälle sind Mediziner durch den Erwerb der Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin” ausreichend qualifiziert. In der Arbeit in einer interdisziplinären Notaufnahme ist das Ziel, Zeitverluste, die durch die Schnittstellenproblematik auftreten, auf ein Minimum zu reduzieren. Auch Spezialaufgaben der Notfallmedizin können von Anästhesisten wahrgenommen werden: Neben dem Einsatz in einem Intensivtransportwagen oder der medizinisch-organisatorischen Leitung großer Schadenslagen kommt auch das Amt des Ärztlichen Leiters des Rettungsdienstes, dessen Aufgabenschwerpunkt im medizinischen Qualitätsmanagement liegt, für Anästhesisten infrage.

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Summary

Emergency care medicine is an interdisciplinary service, a major element of which is the specialty of anaesthesiology. Anaesthetists are successfully active as emergency care physicians in both preclinical and clinical areas. Since the establishment of standard concepts the once highly individualised approach has been replaced by standardised therapy. Above all, an emergency physician in the medical rescue service needs the organizational skills to cope with the multifarious tasks that go well beyond merely medical diagnosis and treatment. In an emergency situation under difficult conditions, it is necessary to make consequential decisions with regard not only to the acute therapy but also to the routing of the patient. The acquisition of the additional title „emergency physician” adequately qualifies the physician to deal at least with the most common emergencies. In the interdisciplinary emergency room the aim is to minimize time loss occurring at interfaces. Anaesthetists can also take over specific emergency medical tasks: In addition to their services in an intensive care ambulance, or the medical organisation of large-scale accidents, the position of medical director of the medical rescue service, with emphasis on medical quality management is a further option for anaesthetists.

Das Spektrum der präklinischen wie der klinischen Notfallmedizin ist heute unzweifelhaft ein wesentlicher Bestandteil des Fachgebiets Anästhesiologie, die Notfallmedizin bleibt jedoch eine interdisziplinäre Aufgabe. Welch große Bedeutung das Fach Anästhesiologie für die Notfallmedizin hat, zeigt sich beispielsweise darin, dass die Notarztdienste in der Bundesrepublik zu mehr als 50 % von Anästhesisten geleistet werden - kein Fachgebiet stellt mehr Notärzte. Der interdisziplinäre Charakter ist unverkennbar: Um im Notfall internistische, chirurgische, neurologische, gynäkologische oder pädiatrische Erkrankungen behandeln zu können, muss der Notarzt oder der Arzt der Notaufnahme in der Lage sein, sich des diagnostischen, logistischen und therapeutischen Repertoires der entsprechenden Fächer bedienen zu können.

Im Vordergrund steht aber in jedem Fall die Aufgabe, die Bedrohung der Vitalfunktionen symptomatisch oder kausal zu beherrschen. Das Arbeitsprinzip, auf der Basis einer Verdachtsdiagnose symptombezogen zu behandeln, ist dem Anästhesisten vertraut. Darin ist die Notfallmedizin der Intensivmedizin eng verwandt, sie benutzt auch zum großen Teil deren methodisches Repertoire. Der Anästhesist ist daher sicherlich ein geeigneter Notfallmediziner.

Als notfallmedizinisches Arbeitsfeld wird üblicherweise nur der Rettungsdienst wahrgenommen. Neben der Präklinik muss aber die klinische Notaufnahme als ebenso wichtiger Arbeitsbereich gelten. In beiden Bereichen ist die Struktur im Wandel begriffen.

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Präklinischer Arbeitsplatz

Im Rettungsdienst hat der Notfallmediziner seine feste Position als präklinisch tätiger Notarzt (etwa 1,5 Millionen Notarzteinsätze in der Bundesrepublik/Jahr). Damit ist er für die präklinische medizinische Versorgung in seinem Rettungsdienstbereich verantwortlich. Rettungsdienstbereiche sind meist identisch mit Landkreisen. In einigen Bundesländern gibt es sinnvollerweise größere Organisationseinheiten, oft auf der Basis von Rettungszweckverbänden. Die Disposition der Hilfegesuche aus diesem Bereich wird von einer Rettungsleitstelle wahrgenommen, die idealerweise Feuerwehr, Rettungsdienst mit Notarztdienst und den vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst aus einer Hand vermittelt. Die gleichzeitige Vermittlung von Notarzt und vertragsärztlichem Bereitschaftsdienst hat für die Effektivität der Hilfeleistung große Bedeutung, da der durchschnittliche Bürger kaum zwischen diesen Hilfsangeboten differenzieren kann.

Rettungswachen (Standort der Rettungswagen und Krankentransportwagen) und Notarztwachen (Standort von Notarztwagen oder Notarzteinsatzfahrzeugen) stellen die Notfallversorgung im Zuständigkeitsbereich der Leitstelle sicher. Die Rettungsmittel werden nach den jeweiligen Rettungsdienstgesetzen hilfsfristorientiert stationiert. Schließlich müssen die Rettungskräfte innerhalb der im Land festgelegten Hilfsfrist (je nach Bundesland zwischen acht und 15 Minuten) von jedem Standort aus alle Notfallorte erreichen können. Die Verwendung eines Notarzteinsatzfahrzeuges (NEF = PKW), anstelle eines Notarztwagens (Rettungswagen mit Notarzt besetzt) erlaubt für die Stationierung des Notarztes höhere Freiheitsgrade, da das Noteinsatzfahrzeug als Zubringerfahrzeug schneller und flexibler ist. Außerdem kann es, wenn sich herausstellt, dass die Begleitung durch den Notarzt unnötig ist, rechtzeitig einen weiteren Notfall in seinem Einsatzbereich anfahren.

Der Leitstellendisponent entscheidet über die Indikation für die primäre Versorgung durch einen Notarzt nach dem Notarztindikationskatalog der Bundesärztekammer, der nach Leitsymptomen (z.B. Bewusstseins-, Atmungs-, Kreislaufstörung) oder notfallbezogen (z.B. Verkehrsunfälle, Brände, Explosionen, chemische Unfälle, Schuss- oder Stichverletzung, Geiselnahme) festlegt, wann ein Notarzt benötigt wird. Ein guter Leitstellendisponent sollte diese Indikation in etwa 60 % der Fälle korrekt treffen, die Nachalarmierung zu einem übersehenen Notarzteinsatz sollte 5 % nicht überschreiten.

Da das Einsatzfahrzeug außer dem Notarzt nur mit einem Rettungsassistenten oder Rettungssanitäter als Fahrer besetzt ist, gehören während der Alarmfahrt auch der Funkverkehr mit der Leitstelle und das Auffinden des Einsatzortes zu den Aufgaben des Arztes. Ein gewisses organisatorisches Geschick ist nicht nur in der Klinik für den Notarzt sehr nützlich, da seine Aufgaben auch hier deutlich über die medizinische Diagnostik und Therapie hinausgehen [Tab. 1].

Im Vergleich zur gewohnten klinischen Umgebung ist die Situation am Notfallort erheblich schwieriger. So muss die Diagnostik häufig mit wesentlich einfacheren Mitteln - gelegentlich nur beschränkt auf den schnellen Einsatz der Sinne - eine ausreichend sichere Arbeitsdiagnose ermöglichen. Technisch kann der Notarzt in der Regel lediglich auf einen Monitor mit Defibrillator, ein Zwölf-Kanal-EKG, einen Schrittmacher sowie eine Pulsoximetrie, eine Spritzenpumpe und ein Transportbeatmungsgerät und, sehr selten, eine oszillometrische Blutdruckmessung zurückgreifen. Häufiger ist schon ein Kapnometer oder Kapnograf vorhanden. Die Notfallsituation macht es oft schwer, eine differenzierte, zutreffende Eigen- oder Fremdanamnese zu erheben, dennoch müssen weit reichende Entscheidungen sowohl für die Akuttherapie als auch für die Zuweisung des Patienten getroffen werden.

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Arbeitsplatz interdisziplinäre Notaufnahme

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Schnittstellenproblematik

Der Notarzt, der einen Patienten präklinisch versorgt hat und ihn der geeigneten Klinik zuführt, erfährt leider häufig bei der Übergabe des Patienten an eine spezialisierte Klinik eine gewisse Schnittstellenproblematik, die zu Zeitverlusten führt. In der Vergangenheit haben sich etliche Fachgesellschaften dieses Problems angenommen, so beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie in den Leitlinien zum Myokardinfarkt sowie die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie in den Leitlinien zur Versorgung des Polytraumas.

Aus diesem Grund hat auch der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2003 wieder gefordert, dass eine interdisziplinäre Notaufnahme vor allen Dingen in Krankenhäusern der Schwerpunkt- und Maximalversorgung zur Standardstruktur gehören müsse. Leider ist sie im Moment in Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern noch eher die Ausnahme als die Regel. Die Anästhesiologie kann für diese wichtige Aufgabe der Notfallmedizin gute Voraussetzungen bieten.

Die Schnittstellenproblematik kann nicht komplett vermieden werden, im optimalen Fall fällt sie jedoch in den Zeitraum, in dem keine Vitalbedrohung mehr für den Patienten besteht. Hierzu kann die Besetzung von Notaufnahme und Notarztdienst mit dem gleichen medizinischen Personal einen erheblichen Beitrag leisten. Arbeitet der Notarzt in der Notaufnahme eng mit der Intensivschwester und dem Rettungsassistent zusammen, reduziert dies die Schnittstellenproblematik auf ein Minimum. Unsere Nachbarn in der Schweiz haben auf diesem Gebiet eine Vorreiterrolle. Der Notarzt - auch der erfahrene Anästhesist - kann aus der Notaufnahme wichtige diagnostische und therapeutische Anregungen für die präklinische Tätigkeit mitnehmen.

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Berufliche Qualifikation

Welche berufliche Qualifikation der Notarzt für diese Aufgaben mitbringen muss, ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt. In der Regel verlangen die Rettungsdienstgesetze der Länder auf unterschiedlicher Rechtslage heute noch die „Fachkunde Rettungsdienst”, eine Qualifikation mit 18-monatiger klinischer Tätigkeit, einem theoretischen Fortbildungskurs von 80 Unterrichtseinheiten und einem Einsatzpraktikum, bei dem man einen erfahrenen Notarzt bei zehn „lebensrettenden Einsätzen” begleitet. Alles in allem eine eher magere Weiterbildung angesichts der Aufgaben, die der junge Kollege anschließend, ohne klinischen Oberarzt im Hintergrund, erfolgreich bewältigen soll.

Aus diesem Grund haben nach einer Konsensuskonferenz der Bundesärztekammer einige Länder (Baden-Württemberg, Saarland, Rheinland-Pfalz, Berlin, Niedersachsen) vor einigen Jahren die Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin” eingeführt, die vor allen Dingen die praktischen Anforderungen an den zukünftigen Notfallmediziner erweitert und mit jeder Facharztbezeichnung führbar ist. Sie beinhaltet eingehende Kenntnisse und Fähigkeiten in der Notfallmedizin, die während einer Weiterbildungszeit von 24-30 Monaten erworben werden können. Neben dem notfallmedizinischen Kurs, der auch in der Fachkunde absolviert werden muss, gehört hierzu ein Nachweis über verschiedene Fertigkeiten und vor allem ein Einsatzpraktikum, das 50 Einsätze zusammen mit einem erfahrenen Kollegen umfasst [Tab. 2].

Es scheint, als würden die zukünftigen Notärzte mit diesen Weiterbildungsinhalten ausreichend auf ihre Tätigkeit vorbereitet. Der Deutsche Ärztetag hat daher die Anforderungen auch in die neue Musterweiterbildungsordnung für Ärzte übernommen, sie werden in der nächsten Zeit von den Landesärztekammern in Kraft gesetzt werden. Doch auch nach dieser Weiterbildung sind seltene Notfälle und selten erforderliche Fertigkeiten, wie beispielsweise das Legen einer Thoraxdränage, immer noch eine gewisse Herausforderung.

Immerhin darf das Fach Anästhesiologie für sich in Anspruch nehmen, den jungen Notarzt in vielen Dingen besser als andere am Notarztdienst beteiligte Fächer auf die Anforderungen vorzubereiten. So bringt er selbstverständlich aus seinem Stammfach die Voraussetzungen für die Einleitung einer Narkose, die Durchführung der Beatmung, der suffizienten Kreislauftherapie oder der Volumentherapie mit - Fertigkeiten, die in anderen Stammfächern der Notfallmedizin eher unterrepräsentiert sind. Andererseits hat ihm ein Internist sicherlich eine Menge Detailkenntnisse im Bereich der Diagnostik voraus.

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Entwicklung des Weiterbildungsstandards

Bis zu diesem Weiterbildungsstand war es ein weiter Weg und die Anästhesiologie darf für sich in Anspruch nehmen, dass sie nach der Initialzündung, die in den 50er Jahren entscheidend von Chirurgen ausging, die Weiterentwicklung der präklinischen Notfallmedizin ganz wesentlich vorangetrieben hat. Nach der Initiierung durch die Chirurgen Bauer und Friedhoff waren es Frey und später Ahnefeld, die sich kontinuierlich für eine gute Qualität der präklinischen notärztlichen Versorgung in Deutschland eingesetzt haben.

Nachdem im Jahr 1982 im Bundesangestellten-Tarifvertrag erstmals eine mindestens einjährige klinische Weiterbildung als Voraussetzung für den Notarztdienst festgeschrieben worden war, wurde ein Jahr später, nach Bayern und Baden-Württemberg, in der ganzen Bundesrepublik die Fachkunde festgeschrieben. Die Zusatzbezeichnung „Notfallmedizin” der Weiterbildungsordnung der Bundesärztekammer stellt jetzt erstmalig bundesweit eine ausreichende Weiterbildung für die Notfallmedizin sicher.

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Spezialaufgaben

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Intensivmedizin

Die Notfallmedizin umfasst über die dargestellten Schwerpunkte hinaus weitere Aufgaben. So wird an größeren Klinikstandorten immer häufiger der Einsatz eines Intensivtransportwagens erforderlich: Ist eine differenzierte Diagnostik oder Therapie notwendig, müssen intensivtherapiepflichtige Patienten erst aus der Peripherie in ein Klinikum der Schwerpunkt- oder Maximalversorgung verlegt und anschließend rückverlegt werden, um die Ressourcen am spezialisierten Krankenhaus für die nächsten Patienten möglichst schnell wieder bereitzustellen. Auf diese Aufgabe ist der Anästhesist mit seiner Kombination aus dem Aufgabenbereich Intensivmedizin und Notfallmedizin gut vorbereitet, er wird darüber hinaus durch einen dreitägigen Kurs „Intensivtransport” nach den Vorgaben der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für diese Aufgabe speziell trainiert.

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Großschadensfall

Ein weiterer Bereich, der spezielle, vor allen Dingen organisatorische Kenntnisse erfordert, ist die medizinisch-organisatorische Leitung großer Schadenslagen wie es beispielsweise Unfälle mit vielen Verletzten oder auch Notfälle mit vielen Erkrankten wie Intoxikationen in öffentlichen Einrichtungen sind. Erfahrene Notärzte und Fachärzte bereiten sich auf diese Aufgabe durch den Fachkundekurs „Leitender Notarzt” vor. Leitende Notärzte sind inzwischen in der Bundesrepublik flächendeckend berufen und kommen zum überwiegenden Anteil aus dem Fachgebiet der Anästhesiologie. Wie im OP so auch im Großschadensfall, übernimmt der Anästhesist die Aufgabe des Managers.

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Ärztlicher Leiter des Rettungsdienstes

Ein Amt mit dem in den östlichen Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland schon lange Zeit Erfahrungen vorliegen und das sich in den westlichen Bundesländern langsam durchsetzt, ist die Position des ärztlichen Leiters des Rettungsdienstes (ÄLRD). Dessen Tätigkeitsbereich liegt selbstverständlich in der Organisation, und nur ein erfahrener Not- und Facharzt mit entsprechender Fortbildung kann diese Aufgabe erfolgreich wahrnehmen.

Die Aufgabe des ärztlichen Leiters besteht im Wesentlichen im medizinischen Qualitätsmanagement. Dazu gibt es in der Bundesrepublik an einigen Stellen viel versprechende Ansätze, wie beispielsweise das einsatztaktische Qualitätsmanagement in Bayern oder das medizinische Qualitätsmanagement für Baden-Württemberg (Notarztdokumentationssystem, NADOK). Auch für diesen Aufgabenbereich sind entsprechend interessierte Anästhesisten sicherlich gut geeignet.

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Notfallmedizinischer Standard

Die Konzepte der „Evidence-Based Emergency Medicine” und die Wirkung von Qualitätsmanagementkonzepten mit der Erstellung von Standardvorgehensweisen („Standard Operation Procedures”, SOP) haben dazu geführt, dass die stark individualisierte Therapie der notfallmedizinischen „Ahnen” immer häufiger einer standardisierten Behandlung in der Notfallmedizin weicht. Für die häufigen Notfälle können deshalb heute SOPs angegeben werden, an denen ein Notarzt gemessen werden kann [Tab. 3]. Der ärztliche Verantwortliche eines Notarztstandortes oder eines Rettungsdienstbereiches gibt diese Standardkonzepte vor, die üblicherweise auf den Leitlinien der entsprechenden Fachgesellschaften basieren. Die häufigsten Notfälle, die der Notarzt präklinisch abdecken muss, sind dabei Infarkt, Rhythmusstörungen, Herzinsuffizienz, Asthmaanfall, Intoxikationen, Apoplex, Polytrauma, Schädel-Hirn-Trauma und Reanimation [Tab. 4].

Das medizinische Qualitätsmanagement überprüft und entwickelt die leitliniengerechte vollständige Therapie weiter, idealerweise sollte dabei durch eine Vergleichsbasis auf Landesebene eine ständige Qualitätsverbesserung angestrebt werden (NADOK Baden-Württemberg). Die nationalen und internationalen Fachgesellschaften („European Resuscitation Council”, Deutsche Gesellschaft für Kardiologie, „European Society of Cardiology”, Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie) geben die Leitlinien vor und sind mittlerweile dazu übergegangen, diese etwa alle fünf Jahre zu aktualisieren. Nur so kann mit der schnellen Weiterentwicklung der Notfallmedizin standgehalten werden.

Am 13. Dezember dieses Jahres werden beispielsweise die Leitlinien des „European Resuscitation Council” zur Reanimation von Erwachsenen („Basic-Life-Support”, BLS, automatisch externer Defibrillator, AED, „Advanced-Life-Support”, ALS) und Kindern („Paediatric-Life-Support”, PLS und „Neonatal-Life-Support”, NLS) aktualisiert. Aufgabe des ärztlichen Qualitätsmanagements ist es, die Neuerungen kurzfristig in der standardisierten Therapie zu realisieren.

Die Notfallmedizin deckt im perioperativen Fach Anästhesiologie nur die erste Stunde ab. Die Herausforderung liegt dementsprechend in den schwierigen Rahmenbedingen. Wie gut das medizinische Ergebnis ist, hängt stark von den zeitlichen und räumlichen Umständen ab. Häufig können die Patienten nur symptomorientiert therapiert werden, und die wenigen Hilfsmittel zwingen die Notfallmediziner oft zur Improvisation. Aber gerade diese Kombination macht diese Aufgabe auch sehr interessant.

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Aufgaben der Notfallmedizin

Gegenstand der Notfallrettung ist es, bei Notfallpatienten Maßnahmen zur Erhaltung des Lebens oder zur Vermeidung gesundheitlicher Schäden einzuleiten, sie transportfähig zu machen und unter fachgerechter Betreuung in eine für die weitere Versorgung geeignete Einrichtung zu befördern.

Notfallpatienten sind Kranke oder Verletzte, die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind, wenn sie nicht umgehend medizinische Hilfe erhalten.

Tab. 1 Aufgaben des Notarztes im Einsatz
  • sicheres Beherrschen und adäquate Anwendung von erweiterten lebensrettenden Maßnahmen

  • Koordination des medizinischen Rettungsteams

  • medizinische Einsatzleitung am Notfallort (gegebenenfalls bis zum Eintreffen des Leitenden Notarztes)

  • Absprache mit anderen an der Rettung beteiligten Organisationen

  • Festlegung der Prioritäten

  • Anmeldung/Vorabinformation der aufnehmenden Klinik (am besten persönlich von „Arzt zu Arzt” über Funktelefon)

Tab. 2 Weiterbildungsinhalte
  • 24-30 Monate klinische Tätigkeit inklusive sechs Monate Intensivmedizin, Anästhesie oder Notfallaufnahme

  • Einzelnachweis über 25 Intubationen, 50 venöse Zugänge inklusive zentralvenöse Zugänge, Thoraxdränagen, Reanimationsstandard

  • Teilnahme an interdisziplinären Kursen über Notfallbehandlung von 80 Unterrichtseinheiten

  • Einsatzpraktikum im Notarztdienst (Notarztwagen, Rettungshubschrauber mit 50 Einsätzen)

Tab. 3 Polytrauma - Standard Operation Procedures (SOP) in Ulm

Qualitätsindikatoren

  • Optimierung des Outcome durch standardisierte Behandlung

  • Einsatz eines arztbesetzten Rettungsmittels bei jedem mehrfach verletzten Patienten unter Inanspruchnahme von Sonderrechten

  • strukturierte Versorgung des Patienten am Notfallort; Verkürzung des Zeitintervalls bis zur Klinikaufnahme durch Optimierung der präklinischen Abläufe

  • kooperative Zusammenarbeit mit den anderen beteiligten Organisationen

  • den Patientenanforderungen angepasste rasche Krankenhauseinweisung

  • optimierte Patientenübergabe von der Präklinik zur Klinik

Prozess- und Verfahrensablauf

Anfahrt

Der Leitstelle bekannte Informationen über Größe des Unfallgeschehens sowie die Anzahl der eingesetzten Kräfte einholen. Zufahrtswege freihalten.

erster Überblick

Bei überschaubaren Ereignissen reicht die Anfahrtsphase, sonst kurzer orientierender Gang durch das Einsatzgebiet. Ermittlung der Anzahl der Verletzten nach schwer und leicht verletzt sowie Bedarf technischer Rettung.

Rückmeldung

Anzahl der Verletzten, benötigte Kräfte, technische Rettung notwendig.

Behandlungspriorität

Sichtung beginnen = Festlegen welche(r) Patient(en) im Moment vordringlich behandelt werden muss (müssen). Einteilung der vorhandenen Kräfte. Vorgehen mit anderen zuständigen Organisationen (Feuerwehr, Technisches Hilfswerk, Polizei) absprechen. Hierbei interessiert hauptsächlich das allgemeine Gefahrenpotenzial und das Vorgehen bei der Patientenrettung (Crashrettung, schonende Rettung, zeitliche Abfolge bei größeren Ereignissen).

Vital-Check

Untersuchung von Atmung, Bewusstsein und Kreislaufsituation. Befunde werden dokumentiert (Ausgangssättigung, Glasgow Coma Scale, Spontanbewegungen, Herzfrequenz, Blutdruck). Entscheidung, ob der Patient sofort unterstützende Maßnahmen benötigt (Intubation, Beatmung, Volumensubstitution, Reanimation) oder ob Zeit für eine schonende Rettung oder einen Transport im Rettungswagen besteht. Frühzeitig venösen Zugang legen.

Body-Check

Zuerst nur orientiert, dann möglichst im Fahrzeug (unter Ausschluss der Öffentlichkeit, Wärme) strukturiert. Der Patient wird entkleidet und von oben nach unten untersucht. Diagnosen, auch Verdachtsdiagnosen werden dokumentiert. Pupillen und Vitalparameter werden wiederholt beurteilt.

Versorgungsprinzipien

Halswirbelsäulen-/Wirbelsäulen-Immobilisation: grundsätzlich bei allen bewusstlosen Patienten und bei allen unklaren Situationen; polytraumatisierte Patienten gelten immer als potenziell wirbelsäulenverletzt (als Immobilisierungshilfen stehen Stiffneck, Vakuummatratze, Schaufeltrage und Kendrick-Rettungsgerät (KED) zur Verfügung).

Zugänge: möglichst zwei, einer davon großlumig; eventuell auch zentrale Punktion (mit großlumigem Katheter). Bei Kindern bis etwa acht Jahren frühzeitig an intraossären Zugang denken.

 

Analgesie: frühzeitige Schmerzbekämpfung lindert das Leiden und vermindert somit auch Stressreaktionen des Organismus. Starke Analgetika (Opiate, Ketanest im Volumenmangel). Beim Schädelhirntrauma mit Bewusstlosigkeit muss unter Ketanestgabe zum frühest möglichen Zeitpunkt die Intubation angestrebt werden. Auch bei eingeklemmten oder noch zu rettenden Personen sollte bei entsprechender Indikation eine Analgesie durchgeführt werden (Ketanest in Spontanatmung).

 

Intubation: Indikation (Kreislaufinstabilität, Bewusstseinstrübung, starke Schmerzen, zu erwartende operative Versorgung, längerer Transportweg, unklare klinische Entwicklung) großzügig stellen, bei Glasgow Coma Scale unter acht in jedem Fall.

 

Narkoseeinleitung: immer Crusheinleitung (ausreichende Narkosetiefe, Analgesie, Muskelrelaxation), auf Kreislaufprobleme gefasst sein (Volumenstatus!).

 

Beatmung: Der Polytraumatisierte befindet sich in einer Stresssituation! In der Anfangsphase immer 100 % Sauerstoffbeatmung. Normoventilation (Faustregel: pro 10 x 10 ml/kgKG Atemminutenvolumen). Möglichst Kapnometrie (unzuverlässig bei Thoraxtrauma!), immer Sauerstoffsättigung.

 

Monitoring: EKG, Sauerstoffsättigung, Blutdruck, Pupillenkontrollen, Auskultation, Neurologie, evtl. Kapnometrie.

 

Neurostatus: Glasgow Coma Scale und initialer Neurostatus.

 

Infusionstherapie: Volumenverlust auf Basis der Kreislaufparameter und Verletzungsmuster schätzen, Infusionstherapie daran ausrichten. Ziel: Blutdruck systolisch 100 mmHg, vor allem bei begleitendem Schädel-Hirn-Trauma, mindestens 70 mmHg; bei Patienten ohne Schädel-Hirn-Trauma keine Normwerte anstreben (Unterhalten der Blutung). Beim isolierten Schädel-Hirn-Trauma sollten Normwerte angestrebt werden. Dabei ist zwischen Hirnprotektion und durch den höheren Blutdruck ausgelöster vermehrter Blutung abzuwägen. In der Anfangsphase Verhältnis Volumenersatzlösung/Ringerlaktat 1:1, später 1:2. Bei hypovolämischem Schock ist die „Small Volume Resuscitation” indiziert (Dosierung: Hyperhaes, 4 ml/kgKG als einmalige Bolusgabe). Im Anschluss Fortsetzung der Therapie mit kolloidalen Volumenersatzmitteln.

 

Weiterführen der Narkose: Im weiteren Verlauf auf ausreichende Analgesie und Narkosetiefe achten.

Zeitmanagement

Die Versorgung des Patienten sollte zügig aber ohne Hektik ablaufen. Unter normalen Bedingungen, also ohne aufwändige Rettungsaktionen, ist eine Zeitspanne vom Eintreffen am Unfallort bis zur Aufnahme des Patienten in der Klinik von unter einer Stunde einzuhalten. Hierbei ist bei zu erwartenden Transportwegen über 30 Minuten rechtzeitig an die Alarmierung eines Rettungshubschraubers zu denken.

Klinikumsauswahl

Polytraumata, aber auch Patienten mit unklarer Situationen, werden primär einem Polytraumazentrum zugewiesen. Ist eine Stabilisierung vor Ort und während der Fahrt nicht zu erreichen, muss das nächstgelegene Krankenhaus mit Allgemeinchirurgie angefahren werden (vor allem bei abdomineller Blutung).

Transport

Der Transport des Patienten erfolgt zügig, jedoch in der Regel ohne Sondersignal.

Tab. 4 Häufigkeit von Notfalldiagnosen im Rettungsbereich Ulm 2004

Diagnose

LQ

Angina pectoris

432

Krampfleiden

349

Rhythmusstörung

342

Herzinfarkt

316

absolute Arrhythmie

295

Lähmungssyndrom,

278

Apoplex obere/untere Extremitäten,

263

Weichteile äußere Kopfverletzung

242

Blutzuckerentgleisung

211

Extremitäten-Fraktur

176

Hypotension, Herzinsuffizienz

174

Hypotonie

172

Alkoholkrankheit

152

Schädel-Hirn-Trauma

145

Lungenödem

140

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Anschrift des Verfassers

Dr. Dr. Burkhard Dirks 

Universitätsklinik für Anästhesiologie, Sektion Notfallmedizin

Prittwitzstr. 43

89075 Ulm

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Dr. Dr. Burkhard Dirks 

Universitätsklinik für Anästhesiologie, Sektion Notfallmedizin

Prittwitzstr. 43

89075 Ulm