Vor einigen Monaten polemisierte eine Osteopathieschule im Newsletter ihrer Studentenwebsite
gegen den amerikanischen Osteopathen Kenneth Lossing D.O. Dieser hatte im Rahmen der
Convocation der American Academy of Osteopathy, AAO, einen Kurs über Thermodiagnostik
gehalten. Das Ziel des Kurses, Funktionsstörungen am Menschen über Wärmeabstrahlungen
zu diagnostizieren ohne die Haut-oberfläche zu berühren, wurde als absurd und Scharlatanerie
bewertet. In der folgenden Ausgabe des Newsletters wurden Viola Fryman D.O. FAAO Quacksalbereitechniken
nachgesagt. Sie habe mit nur einer kranialen Behandlung bei einem Kind einen fehlenden
Radius und eine fehlende Gehirnhälfte „zurückgezaubert”. Die Schule fühlte sich verpflichtet,
sich von solchen Praktiken zu distanzieren. Sie wolle die Osteopathie rein halten
und zitierte dazu Dr. Andrew Tailor Still: „Keep it pure guys, keep it pure.”
Diese Veröffentlichungen fallen zwar ein wenig extrem aus, sind im Prinzip aber absolut
kein Einzelfall. In der Osteopathie beruft sich heute jeder auf A.T. Still, so wie
in zweiter Linie auf W.G. Sutherland und andere osteopathische Urväter. Aber vor allem
immer wieder Still! Still ist das moralische Fundament auf dem wir stehen, und jeder
behauptet von sich, dass er in dessen ungebrochener Tradition stehe. So wie der Schulgründer,
der die noch einzig wahre Linie der Osteopathie vertritt, die sich alleine auf Still
und Littlejohn stützt, dabei aber verschweigt, dass Littlejohn sich mit Still überworfen
hat (oder umgekehrt?), da er neben der Anatomie auf die Physiologie als Fundament
baute. Nicht, dass er sich selbst weiter in der Tradition Stills sieht, ist das Problem,
sondern der Ausschließlichkeitsanspruch, den er auf seine Lehre erhebt.
Was wollte Still wirklich? Muss man seine Bücher gelesen haben, um das zuverlässig
zu wissen? Soll man diese dann wörtlich auslegen oder muss man sie erst einer Sprachanalyse
unterziehen? Sind dann Stills Faszien wirklich dasselbe wie unsere Faszien, und was
meinen wir eigentlich, wenn wir heute von Faszien sprechen? Was hat Still mit Triune
Man gemeint? Muss man Pietist sein, um das zu verstehen? Lassen sich Begriffe wie
Triune Man eigentlich in die heutige Medizin übertragen? Welchen Stellenwert haben
Übersetzungen für das Verständnis von bestimmten Textpassagen? Ist Sekundärliteratur
über Still zulässig oder nicht? Wenn ja, wer entscheidet darüber, wie verlässlich
die anderen Autoren sind? All diese Fragen sind wichtig (abgesehen von der zweiten)
und müssen diskutiert werden. Sie werden zur Zeit auch lebhaft erörtert, und das ist
gut so. Aber letztlich wird und kann es keine abschließenden Antworten geben. Und
so wird es auch in Zukunft möglich sein, zu sagen: „Ich alleine stehe in der ungebrochenen
Tradition A.T. Stills.” Oder: „Unsere Schule alleine hält die Lehre rein.”
Es ist so wie mit der Bibel. Unter Berufung auf ihre Autorität führten ihre Anhänger
erbitterte Glaubenskriege gegeneinander. Jeder im Bewusstsein des eigenen, „richtigen”
Glaubens. Ist das die Zukunft der Osteopathie? Im Namen Stills?
Die Herausgeber