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DOI: 10.1055/s-2005-922826
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Information Angehöriger über HIV-infizierte Patienten - Ärztliche Schweigepflicht versus ärztliche Offenbarungspflicht?
Publication History
Publication Date:
01 December 2005 (online)
- Befugnis zur Offenbarung
- Pflicht zur Offenbarung?
- Garantenpflicht des Arztes gegenüber Lebensgefährtin
- Fehlendes Verantwortungsbewusstsein des Infizierten
- Kritik
- Richtiges Verhalten für die Praxis
Fragen zur ärztlichen Schweigepflicht stellen sich in der täglichen Praxis immer wieder. Meistens geht es darum, ob die ärztliche Schweigepflicht ausnahmsweise durchbrochen werden darf. Doch gibt es auch Konstellationen, in denen der Arzt seine ärztliche Schweigepflicht sogar durchbrechen muss? Diese Frage stellt sich insbesondere im Zusammenhang mit der Offenbarung gegenüber Angehörigen HIV-infizierter Patienten.
Schon aus ethischen Gründen wird hierbei sicherlich jeder Arzt bemüht sein, die Kollision des Persönlichkeitsrechts des HIV-Infizierten mit dem Lebensschutz des Angehörigen richtig aufzulösen. Jedenfalls aus rechtlicher Sicht ist der Arzt zu rechtmäßigem Verhalten verpflichtet. Wie in § 203 Strafgesetzbuch (StGB) kodifiziert ist, kann der Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe bestraft werden.
Im Raum stehen andererseits aber auch zivilrechtliche Schadensersatzansprüche, wenn infolge einer unterbliebenen Aufklärung über die Erkrankung eines Patienten bei einer anderen Person ein Gesundheitsschaden auftritt. Kommt der Arzt seiner Verpflichtung zur Information nicht nach und infiziert sich der Angehörige aufgrund der unterbliebenen Offenbarung, kann sich der Arzt sogar wegen Beihilfe (durch Unterlassen) zu einer Körperverletzung strafbar machen.
#Befugnis zur Offenbarung
Nicht jeder Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht wird von der Rechtsordnung missbilligt. Es gibt Fälle, bei denen der Schutz höherrangiger Rechtsgüter die Offenbarung der ärztlichen Geheimnisse rechtfertigt. Man spricht in diesem Kontext vom so genannten rechtfertigenden Notstand. Der rechtfertigende Notstand erfordert zwingend das Vorliegen bestimmter, in § 34 StGB normierter Voraussetzungen:
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Erforderlich ist eine gegenwärtige Gefahr für ein notstandsfähiges Rechtsgut. In Betracht kommen hier die Gesundheit und das Leben des Partners bei ungeschütztem Verkehr mit einem uneinsichtigen HIV-Infizierten.
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Der Geheimnisbruch darf nur zu Gunsten eines Rechtsgutes preisgegeben werden, das wesentlich überwiegt. Insoweit besteht Einigkeit darüber, dass die gefährdeten Rechtsgüter Leben und Gesundheit des von einer Infektion Bedrohten eindeutig mehr Gewicht als das ebenfalls sehr schützenswerte Vertrauen des HIV-Patienten in die Verschwiegenheit des Arztes haben.
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Eine weitere Voraussetzung ist, dass der Bruch der ärztlichen Schweigepflicht ein "angemessenes Mittel" zur Gefahrenabwehr ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn der Arzt beispielsweise zuvor alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, um die an HIV erkrankte Person zur Aufklärung ihres Ehe- oder Sexualpartners zu veranlassen. Die Offenbarung durch den Arzt kann daher nur "ultima ratio" sein.
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Der Arzt muss die angemessene Notstandshandlung mit entsprechendem Rettungswillen und in Kenntnis aller rechtfertigenden Umstände durchführen.
Liegen die Voraussetzungen des § 34 StGB vor, ist der Arzt im konkreten Fall befugt, über die eigentlich der Verschwiegenheit unterliegenden Tatsachen zu informieren.
#Pflicht zur Offenbarung?
Aus der Befugnis zur Offenbarung lässt sich eine ebensolche Rechtspflicht für den Arzt mit dem Risiko einer zivilrechtlichen Haftung oder gar einer strafrechtlichen Verantwortung im Falle eines Verstoßes selbstverständlich nicht begründen. Gesetzliche Pflichten zur Preisgabe ärztlicher Geheimnisse existieren zwar - beispielsweise im Infektionsschutzgesetz - sie umfassen aber keine namentliche Meldepflicht bei einer HIV-Infektion.
#Garantenpflicht des Arztes gegenüber Lebensgefährtin
Allerdings hat die Rechtsprechung eine Offenbarungspflicht des Arztes gegenüber der Lebensgefährtin eines HIV-Patienten bereits bejaht (Oberlandesgericht Frankfurt am Main; Urteil vom 05. Oktober 1999; Az: 8 U 67/99). In dem konkreten Fall wurde ein Arzt auf Zahlung von Schmerzensgeld verklagt, weil er es nach Auffassung der Klägerin pflichtwidrig unterlassen hatte, diese über die HIV-Infektion ihres Lebensgefährten zu informieren. Die Klägerin, die selbst eine Patientin des beklagten Arztes war, infizierte sich mit HIV.
In dieser besonderen Konstellation begründeten die Richter eine Offenbarungspflicht des Arztes mit dessen Garantenpflicht gegenüber der von ihm ebenfalls behandelten Klägerin. Aufgrund des Behandlungsverhältnisses zwischen dem Arzt und der klagenden Lebensgefährtin sei der Arzt verpflichtet gewesen, Gesundheitsgefahren und -schädigungen auch von dieser abzuwenden. In einem solchen Fall sei es die Aufgabe des Arztes, die dadurch entstehende Pflichtenkollision richtig aufzulösen. Je nach dem Ergebnis der Güterabwägung zwischen Lebens- und Gesundheitsschutz des einen und Vertrauensschutz des anderen kann sich für den Arzt daraus eine Offenbarungspflicht ergeben.
#Fehlendes Verantwortungsbewusstsein des Infizierten
In dem vorliegenden Fall gelangten die Richter zu der Einschätzung, der beklagte Arzt hätte keinen begründeten Anlass gehabt, dem Verantwortungsbewusstsein des an HIV Erkrankten gegenüber seiner Lebensgefährtin zu trauen. Schließlich habe sich der infizierte Partner uneinsichtig hinsichtlich Maßnahmen zum Schutz seiner Partnerin vor einer möglichen Infektion gezeigt, da er nachdrücklich um ein Verschweigen der Erkrankung gegenüber seiner Lebensgefährtin gebeten habe. Insoweit bestehe ein allgemeiner Erfahrungssatz, dass "bei solchen Patienten ein verdrängendes Verhalten überdurchschnittlich normal" sei.
Auf das Versprechen des HIV-Infizierten, er werde Kondome benutzen, durfte sich der Arzt vor dem Hintergrund der Verantwortlichkeit für die Sicherheit seiner Patientin nicht verlassen. Nach alledem sei die Güterabwägung des Arztes in dem konkreten Fall fehlerhaft gewesen und diesem daher vorzuwerfen. Nach richtiger Güterabwägung hätte der Arzt einsehen müssen, dass er die Patientin nicht der Gefahr hätte aussetzen dürfen, sich an AIDS zu infizieren. Er wäre daher zur Aufklärung gegenüber der Patientin verpflichtet gewesen.
#Kritik
Das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt und die dieser Entscheidung folgenden Rechtsauffassungen sind in der juristischen Literatur umstritten. Der täglichen Praxis des Arztes bescheren sie mehr Verunsicherung als klare Handlungsempfehlungen. Dem Arzt wird nicht nur das Erkennen, sondern zugleich das Auflösen einer Pflichtenkollision aufgebürdet. Da es weitere gesetzliche Vorgaben dazu nicht gibt, wird von dem Arzt erwartet, dass er sein Verhalten anhand der hierzu ergangenen Rechtsprechung bestimmt. Doch - und das wird hierbei übersehen - für den juristischen Laien ist die Judikatur häufig gar nicht transparent.
Gefährdet ist außerdem das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten. Wenn der Patient nicht auf die Verschwiegenheit des Arztes vertrauen kann, besteht die Gefahr, dass er sich ihm gar nicht mehr anvertraut. Daraus können sich unter Umständen noch viel größere Gefahren für Dritte ergeben.
Neben den unklaren Grenzen der Offenbarungspflicht berufen sich die Kritiker zu Recht auch auf den Gesetzgeber, der zwar dem HIV-Infizierten eine Rechtspflicht auferlegt hat, andere nicht zu gefährden, jedoch für Ärzte keine namentliche Meldepflicht bei HIV-Infektionen oder AIDS-Erkrankungen im Infektionsschutzgesetz festgelegt hat. Für andere Infektionen wurden hier ausdrückliche Meldepflichten kodifiziert. Spricht dies nicht dafür, dass der Gesetzgeber dem Arzt bewusst keine Offenbarungspflicht auferlegen wollte?
#Richtiges Verhalten für die Praxis
Ob nun eine bloße Befugnis oder sogar eine Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht besteht, ist bislang ein juristischer Streit, der dem Arzt im konkreten Fall wenig weiterhilft. Fest steht, der Bruch der ärztlichen Schweigepflicht sollte "ultima ratio" sein. Stets sollten zunächst in einem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten sein Gesundheitszustand und die Risiken, die sich aufgrund seiner Erkrankung für Dritte ergeben können, besprochen werden. Erst wenn sich für den Arzt aufgrund des Gesprächs gravierende Anhaltspunkte für eine Uneinsichtigkeit ergeben, sollte er den Bruch der ärztlichen Schweigepflicht als Mittel zur Gefahrenabwehr in Betracht ziehen.
Je nachdem, worin die Uneinsichtigkeit begründet ist, wie etwa ein Schamgefühl bei der Mitteilung, kann der Arzt zunächst seine Hilfe bei der Aufklärung der Angehörigen anbieten und den HIV-Patienten zu diesem Zweck um eine Entbindung von der Schweigepflicht bitten. Dies wäre ein sicherer Weg, um eine rechtswidrige Schweigepflichtverletzung zu vermeiden.
Nur wenn sich der Patient auch damit nicht einverstanden erklärt, muss der Arzt bei großer Ansteckungsgefahr für den Partner oder Dritte ernsthaft erwägen, selbst einzuschreiten. Nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main soll dies aber nur gelten, sofern der Partner oder Dritte ebenfalls zu den Patienten des Arztes gehören. Wegen der unklaren Rechtslage und dem Risiko einer rechtlich fehlerhaften Entscheidung, empfiehlt es sich jedoch, sich zuvor Rat bei einem Rechtskundigen einzuholen.
Dr. iur. Isabel Häser, München