psychoneuro 2005; 31(11): 554-562
DOI: 10.1055/s-2005-923369
Schwerpunkt

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

ADHS und Sucht

ADHD and addictionMartin Ohlmeier1 , Karsten Peters1 , Nadine Buddensiek1 , Jürgen Seifert1 , Bert te Wildt1 , Hinderk M. Emrich1 , Udo Schneider1
  • 1Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover
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Korrespondenzadresse:

Dr. med. Martin Ohlmeier

Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Oberarzt der Abteilung, Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Email: Ohlmeier.Martin@MH-Hannover.de

Publication History

Publication Date:
25 November 2005 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) hat aufgrund der hohen Prävalenz, aber auch im Hinblick auf die häufig bestehenden komorbiden Erkrankungen eine große klinische Bedeutung. So konnten verschiedene Studien zeigen, dass die ADHS auch ein bedeutender Risikofaktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung ist. In einer eigenen Studie wurden 152 erwachsene Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit (n = 91) bzw. einer multiplen Substanzabhängigkeit (n = 61) auf das Vorliegen einer ADHS untersucht. Bei 20,9 % (WURS) bzw. 23,1 % (DSM-IV Diagnosekriterien) der alkoholabhängigen Patienten ergaben sich retrospektiv Hinweise auf das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit. Bei 26,3 % der Patienten ließ sich mit Hilfe der CAARS ein Persistieren der Diagnose im Erwachsenenalter feststellen. In der Gruppe der Substanzabhängigen erfüllten 50,8 % (WURS) bzw. 54,1 % (DSM-IV) der Patienten die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit, bei 65,5 % (CAARS) persistierte die Erkrankung im Erwachsenenalter. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass bei Suchterkrankungen von einer hohen Komorbidität mit ADHS auszugehen ist, die sowohl in Form eines Alkoholmissbrauchs als auch durch den Konsum illegaler Drogen zum Ausdruck kommen kann. Die Ergebnisse unterstreichen die große Bedeutung einer frühzeitigen und adäquaten Diagnostik und Therapie der ADHS zur Prävention von Suchterkrankungen.

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Summary

Attention deficit/hyperactivity disorder (ADHD) is of great clinical importance not only because of its high prevalence but also due to the frequent comorbid illnesses that are connected with this disorder. Several studies were able to demonstrate that ADHD constitutes a significant risk factor for the exacerbation of habit-forming illnesses, i.e. addictions.

We conducted a study with 152 adult patients with alcohol dependence (n = 91), respectively, multiple substance addiction (n = 61) to determine whether or not these patients were affected by ADHD. 20,9 % (WURS), respectively, 23,1 % (DSM-IV criteria) of the alcohol-dependent patients showed evidence of retrospective ADHS affliction in childhood. With the help of CAARS ADHD was proved persistent in 26,3 % of the adult patients. In the group of substance-addicted patients 50,8 % (WURS), respectively, 54,1 % (DSM-IV) presented with diagnostic criteria for ADHS in childhood and 65,5 % (CAARS) showed evidence of ADHD persisting in adult age. These results reveal that habit-forming illnesses can be associated with a high comorbidity with ADHD, expressed in the form of alcohol abuse and also in the consumption of illegal drugs. The results underline the great importance of early and adequate diagnostics and therapy of ADHD for the prevention of habit-forming illnesses.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) galt in Deutschland nach schulmedizinischer Auffassung bisher vorwiegend als Erkrankung des Kindes- und Jugendalters. Im Zuge der steigenden Verschreibung von Stimulanzien - insbesondere von Methylphenidat (z.B. Ritalin®) - ist ADHS inzwischen zunehmend in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt [6] [15]. Die Häufigkeit der Persistenz der ADHS im Erwachsenenalter ist bislang unklar. Nach epidemiologischen Studien ist in 35-80 % von einem Persistieren von zumindest einigen Symptomen der ADHS auszugehen [1] [29]. Die Diagnose der ADHS bei Erwachsenen wird anhand der amerikanischen DSM-IV-Kriterien gestellt [9]. Die Kernsymptome der Erkrankung sind durch Aufmerksamkeitsstörungen, erhöhte Impulsivität, Hyperaktivität, Desorganisation und emotionale Instabilität gekennzeichnet, und müssen bereits in der Kindheit vor dem siebten Lebensjahr begonnen haben. Als eine mögliche Ursache der ADHS wird derzeit eine genetisch determinierte Dysfunktion des Katecholaminstoffwechsels angenommen, die insbesondere das frontostriatale System des Gehirns betrifft [22]. Der mit Hilfe bildgebender Verfahren, Positronenemissionstomografie (PET) und Singlephotonenemissionstomografie (SPECT), geführte Nachweis einer erhöhten Dopamintransporterdichte im Striatum lässt im engeren Sinne eine Störung der dopaminergen Funktionen vermuten [10] [11] [12]. Neurobiologisch ist demzufolge auch die Rede von der „Dopaminmangelhypothese”. Inzwischen gibt es einige Untersuchungen, die auch die Beteiligung anderer Neurotransmittersysteme postulieren. Die pharmakologische Behandlung der ADHS wird derzeit vor allem durch die Medikamentengruppe der Stimulanzien - insbesondere von Methylphenidat (z.B. Ritalin®) - bestimmt. Seit Dezember 2004 ist auch der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin (Strattera®) als erstes Nichtstimulans zur Behandlung des ADHS im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Darüber hinaus gibt es einige Alternativsubstanzen wie z.B. Pemolin (Tradon®) (wegen z.T. schwerer unerwünschter NW nur noch selten eingesetzt), selektive Serotonin- bzw. Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, trizyklische Antidepressiva und Betarezeptorenblocker. Die Pharmakotherapie sollte grundsätzlich i.S. eines „multimodalen Therapiekonzeptes” in Kombination mit psychotherapeutischen Therapieverfahren erfolgen.

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Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und Suchterkrankung

Verschiedene Studien konnten zeigen, dass die ADHS einen Risikofaktor für die Entwicklung einer Suchterkrankung darstellt. Eine Komorbidität von ADHS und Alkoholismus bzw. Substanzmissbrauch wurde in bis zu 71 % beschrieben [30]. Bei Patienten mit ADHS und Substanzmissbrauch kommt es zu einem früheren Beginn und einer stärkeren Ausprägung des Substanzmissbrauchs als bei Suchtpatienten ohne ADHS. Das Durchschnittsalter bei Beginn eines Substanzmissbrauches bei ADHS-Patienten wurde in einer Studie mit 19 Jahren angegeben, während in einer Kontrollgruppe von Suchtpatienten ohne ADHS die Suchterkrankung im Durchschnitt erst im 22. Lebensjahr begann [30]. Andere Autoren beschrieben für ADHS-Patienten ein verdoppeltes Lebenszeitrisiko für eine Suchterkrankung und stellten fest, dass ADHS in Verbindung mit einer komorbiden Störung (Persönlichkeitsstörung, Depression, Angststörungen etc.) zusätzlich das Risiko einer Suchtentwicklung erhöht [2]. In diesem Zusammenhang wurde auch berichtet, dass bei einer Komorbidität von ADHS und Suchterkrankung in bis zu 71 % auch eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden kann [27].

Hinsichtlich einer Kokainabhängigkeit konnte gezeigt werden, dass bei ADHS in Verbindung mit Suchterkrankungen eine Prävalenz von 35 % vorliegt und dass der Kokaingebrauch in dieser Patientengruppe deutlich ausgeprägter ist und früher beginnt als bei Kokainabhängigen ohne ADHS [5].

Das Risiko einer Nikotinabhängigkeit scheint bei ADHS-Patienten ebenfalls erhöht zu sein. Die Koinzidenz einer Nikotinabhängigkeit bei Erwachsenen mit ADHS wird mit 40-75 % (vs. 19-26 % in der Normalpopulation) angegeben [23]. Pathophysiologisch könnte die hohe Prävalenz von Nikotinabhängigkeit bei ADHS-Patienten dadurch erklärbar sein, dass Nikotin die Neurotransmitterausschüttung (Acetylcholin, Dopamin, Serotonin) stimuliert und dadurch die Aufmerksamkeit erhöht. Nikotin scheint einen ähnlichen Effekt auf den Nucleus accumbens zu haben, wie Amphetaminderivate [24]. In einer Studie konnte eine ähnliche Wirkung auf die Dopamintransporter belegt werden, wie sie von Methylphenidat bekannt ist [16]. Verschiedene dopaminerg und noradrenerg wirksame Medikamente wie Bupropion (Zyban®, Wellbutrin®), Nortriptilen (Nortilen®), Moclobemid (Aurorix®) wirken sich interessanterweise sowohl bei der Behandlung der Nikotinabhängigkeit als auch der ADHS günstig aus. Klinischen Beobachtungen zu Folge vermindert Nikotin signifikant die Symptome bei ADHS und wird verschiedentlich sogar als mögliches Therapeutikum diskutiert [7] [17] [18].

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Behandlung bei Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und Suchterkrankung

Verschiedene Studien belegen, dass die Behandlung von suchterkrankten ADHS-Patienten mit Stimulanzien den Substanzmissbrauch und das „craving” reduziert (19, 20, 25). Unter Therapie mit Methylphenidat wurde bei ADHS-Patienten, die einen Kokainabusus betrieben, ein vermindertes „Kokain-craving” sowie eine Besserung der ADHS-Symptomatik beschrieben [20] [28]. In anderen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass die Behandlung von Kindern mit ADHS mit Methylphenidat (MPH) die Gefahr eines späteren Substanzmissbrauchs vermindern kann [4] [13]. So konnte in einer Langzeitstudie über fünf Jahre bei Patienten mit ADHS unter Therapie mit MPH ein deutlich geringerer Suchtmittelgebrauch als bei unbehandelten ADHS-Patienten beobachtet werden [21]. Jugendliche ADHS-Patienten, die mit Stimulanzien behandelt wurden, scheinen somit ein deutlich geringeres Risiko einer Suchtentwicklung (Alkohol, Kokain und andere Drogen) zu haben bzw. betreiben einen geringeren Substanzgebrauch [4].

Es stellt sich nun die Frage, ob eine amphetaminähnliche Substanz wie Methylphenidat selbst süchtig machen kann. Hierfür gibt es derzeit keine Evidenz-basierten Hinweise. In verschiedenen Studien wurde dagegen nachgewiesen, dass bei Kindern mit ADHS die Behandlung mit Methylphenidat die Gefahr eines späteren Substanzmissbrauchs vermindern kann [4] [13]. Bei ADHS mit komorbidem Substanzmissbrauch gilt die pharmakologische Behandlung, besonders mit länger wirkenden (retardierten) Stimulanzien, trizyklischen Antidepressiva oder selektiven Serotonin-, Noradrenalin- bzw. kombinierten Wiederaufnahmehemmern (Atomoxetin, Reboxetin, Venlafaxin) als Mittel der Wahl. Die Behandlung scheint bei den Betroffenen den Substanzmissbrauch und das „craving” zu reduzieren. Bei ADHS und komorbidem Substanzmissbrauch sollte zunächst eine Behandlung der Suchterkrankung erfolgen, welche bei entsprechender klinischer Ausprägung im stationären Setting durchgeführt werden sollte. Begleitend können Selbsthilfegruppen, Psychoedukation und Psychotherapie hilfreich sein. Im Verlauf wird die pharmakologische Behandlung der ADHS und der ggf. vorliegenden komorbiden Störungen (Depression, Angststörungen etc.) empfohlen [26].

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Eigene Untersuchungen zur Prävalenz von ADHS bei Suchterkrankungen

Ziel einer eigenen Studie war es, retrospektiv zu prüfen, wie häufig bei Patienten mit einer Alkoholabhängigkeit oder einer multiplen Substanzabhängigkeit eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung in der Kindheit vorlag und ob deren Symptome aktuell persistieren. Darüber hinaus wurde die Frage nach möglichen Auswirkungen der ADHS auf den Beginn, die Art und die Ausprägung der Suchterkrankung gestellt.

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Patienten und Methoden

Es wurden insgesamt 152 Patienten (volljährige Männer und Frauen) in die Studie eingeschlossen, die sich in freiwilliger stationärer Behandlung in der suchtmedizinischen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses (Klinikum Wahrendorff) befanden. Zur diagnostischen Abgrenzung eines Alkoholabhängigkeitssyndroms (ICD: F10.2) und einer multiplen Substanzabhängigkeit (ICD: F19) (einschl. Heroin, Methadon, Kokain, Amphetamine, LSD, Halluzinogene, Cannabinoide, Benzodiazepine, Analgetika) diente neben der klinisch-psychiatrischen Untersuchung der European Addiction Severity Index (EuropASI). Die Untersuchung wurde bei Patienten mit Alkoholabhängigkeit frühestens nach 10-tägiger, bei Patienten mit multipler Substanzabhängigkeit frühestens nach 14-tägiger Entgiftungsbehandlung durchgeführt, da zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen werden konnte, dass keine Entzugssymptomatik mehr vorlag. Ausschlusskriterien waren akute Psychosen und andere Erkrankungen, die eine Einwilligungsfähigkeit der Patienten ausschlossen. Als Untersuchungsinstrumente für die retrospektive Beurteilung des Vorliegens einer ADHS in der Kindheit diente die autorisierte deutsche Übersetzung der Wender-Utah-Rating-Scale (WURS-K) [14] und die DSM-IV-Symptomcheckliste für ADHS [9]. Ergänzend erfolgte eine Einteilung der Betroffenen in diagnostischen Untergruppen nach DSM-IV (unaufmerksamer Typ, impulsiver Typ, gemischter Typ). Zur Überprüfung des Persistierens der ADHS-Symptome im Erwachsenenalter wurden die Conners Adult ADHD Rating Scales (CAARS, Long Version) [8] angewandt.

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Ergebnisse

Bei 91 (59,9 %) der 152 untersuchten Patienten konnte nach ICD-10 und DSM-IV die Diagnose einer Alkoholabhängigkeit, bei 61 (40,1 %) die einer multiplen Substanzabhängigkeit gestellt werden.

Wie in [Abbildung 1] dargestellt, erreichten in der Gruppe der Alkoholabhängigen 19 Patienten (20,9 %) in der WURS den cut-off von 30 und erfüllten damit die Kriterien für das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit. In der ebenfalls retrospektiv angewandten DSM-IV-Symptomcheckliste ließ sich bei 21 (23,1 %) der alkoholabhängigen Patienten die ADHS-Diagnose bestätigen. Bei fünf (26,3 %) der WURS-positiven alkoholabhängigen Patienten fanden sich in den CAARS Hinweise auf das aktuelle Vorliegen von ADHS-Symptomen, und somit für das Persistieren der ADHS im Erwachsenenalter.

In der Gruppe der Patienten mit multipler Substanzabhängigkeit erreichten 31 (50,8 %) in der WURS den cut-off von 30. Bei 33 Patienten (54,1 %) sprachen die Ergebnisse der retrospektiv eingesetzten DSM-IV-Symptomcheckliste ebenfalls für das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit. In den CAARS fanden sich in dieser Gruppe bei 19 Patienten (65,5 %) Hinweise für ein aktuelles Fortbestehen von ADHS-Symptomen. Die Ergebnisse der WURS, der DSM-IV-Symptomcheckliste sowie der CAARS beider untersuchten Gruppen sind in [Abbildung 2] gegenübergestellt.

Ergänzend wurde eine diagnostische Einteilung der ADHS-Subtypen nach den Kriterien der DSM-IV vorgenommen (vgl. [Abb. 1]). Demnach erfüllten aus der Gruppe der Alkoholabhängigen 13 Patienten (14,3 %) die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen des „unaufmerksamen Typs”, zwei Patienten (2,2 %) die des „hyperaktiven” und sechs Patienten (6,6 %) die des „gemischten Typs” der ADHS. Demgegenüber fanden sich in der Gruppe der Substanzabhängigen 16 Patienten (26,2 %), welche die diagnostischen Kriterien für den „unaufmerksamen”, 3 Patienten (4,9 %) für den „hyperaktiven” und 14 (23 %) für den „gemischten Typ” erfüllten.

Hinsichtlich der Art des Substanzmittelabusus ließ sich feststellen, dass bei den ADHS-Betroffenen in etwas höherem Maß Kokain (74,2 % versus 73,3 %) und deutlich mehr Cannabis (100 % versus 83,3 %) konsumiert wurde. Auch der Heroinkonsum war bei der ADHS-Gruppe höher (83,9 % versus 70,0 %), der Amphetamingebrauch dagegen etwas geringer (32,3 % versus 40,0 %) (vgl. [Abb. 3]).

In beiden untersuchten Gruppen ließ sich darüber hinaus nachweisen, dass bei einer Komorbidität mit ADHS der Substanzmittelgebrauch deutlich früher begann. In [Abbildung 4] ist das Alter des Erstgebrauchs der verschiedenen Substanzen für die Gruppe der Substanzmittelabhängigen mit und ohne komorbide Erkrankung dargestellt.

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Diskussion und Zusammenfassung

Die vorliegenden Studienergebnisse konnten zeigen, dass die Patienten einer großen suchtmedizinischen psychiatrischen Abteilung überproportional häufig die diagnostischen Kriterien der DSM-IV für das Vorliegen einer ADHS erfüllen. Sowohl in der Gruppe der Alkoholabhängigen als auch in der Gruppe der Patienten mit einer multiplen Substanzabhängigkeit ließ sich retrospektiv in einem hohen Prozentsatz eine ADHS in der Kindheit diagnostizieren, die zum Teil noch im Erwachsenenalter persistiert.

Die untersuchten alkoholabhängigen Patienten erfüllten in 20,9 % (WURS) bzw. in 23,1 % (DSM-IV) die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer ADHS in der Kindheit und in 26,3 % (CAARS) das Persistieren des Störungsbildes.

Noch deutlichere Untersuchungsergebnisse hinsichtlich des Vorkommens der ADHS fanden sich in der Gruppe mit einer multiplen Substanzabhängigkeit. In 50,8 % (WURS) bzw. in 54,1 % (DSM-IV) war hier von dem Vorliegen einer ADHS in der Kindheit auszugehen, welche in 65,5 % (CAARS) persistierte. Diese Ergebnisse waren ebenfalls hochsignifikant. Demzufolge scheint - insbesondere in der Gruppe der Substanzabhängigen - die ADHS auch zu einem hohen Prozentsatz bis in das Erwachsenenalter zu persistieren.

Ausgehend von einer Prävalenz der ADHS im Kindesalter von 8-10 %, einem Persistieren der ADHS-Symptomatik in bis zu 80 % und einer Prävalenz der ADHS im Erwachsenenalter von 2-6 %, belegen unsere Daten - vergleichbar mit bereits vorliegenden Studienergebnissen - ein deutlich erhöhtes Vorkommen der ADHS bei Suchtpatienten. Somit kann ADHS auch nach unseren Daten als ein erheblicher Risikofaktor für eine Suchtentwicklung angesehen werden. In beiden Gruppen fand sich darüber hinaus ein signifikant geringeres Alter bei Erstgebrauch der Droge, wenn eine ADHS vorlag. Die ADHS kann also auch als Risikofaktor für einen „frühen Einstieg” gewertet werden.

Warum es eine so hohe Koinzidenz von ADHS, Suchterkrankungen und komorbiden Störungen gibt, kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen ist insbesondere bei den hyperaktiven und impulskontrollgestörten ADHS-Patienten bzw. bei den Patienten vom „gemischten Typ” von einer erhöhten „Experimentier- und Risikofreudigkeit” mit Drogen und Alkohol auszugehen - was u.a. auch den in der Untersuchung deutlich gewordenen stärkeren Gebrauch der „Hochrisikodroge” Heroin erklären könnte -, zum anderen zeigen die klinischen Erfahrungen, dass betroffene Patienten im Sinne einer „Selbstmedikation” insbesondere bei Cannabis- und Kokainkonsum von einer - zumindest scheinbaren - Besserung der ADHS-spezifischen Symptome berichten. Dementsprechend dürften auch die vorliegenden Untersuchungsbefunde mit einem deutlich höheren Cannabis- und einem - zumindest tendenziell - höheren Kokainkonsum in der ADHS-Gruppe zu interpretieren sein. Diese Hypothese wird u.a. auch durch die Studien von Volkow et al. (31) unterstützt, welche feststellten, dass bei ADHS vermehrt Kokainabusus vorkommt, und Patienten nach Konsum von einer deutlichen Symptomreduktion berichteten. So ergaben sich in unserer Untersuchung in der Gruppe der Substanzabhängigen signifikant höhere Werte für den „unaufmerksamen” und den „gemischten Typ”. Der isolierte „hyperaktive Typ” war in beiden Gruppen vergleichsweise unterrepräsentiert. Diese Ergebnisse scheinen im Hinblick auf die vorliegende Literatur durchaus plausibel. Die Überrepräsentanz in der Gruppe der Substanzabhängigen und das hohe Vorkommen des „gemischten Typs”, welcher die Kriterien der Unaufmerksamkeit und der Hyperaktivität subsumiert, lassen in dieser Gruppe eine erhöhte Risikobereitschaft vermuten. Patienten vom „unaufmerksamen Typ” benutzen die Substanz vermutlich primär zur Stimulation.

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Resümee

Wie im Vorausgegangenen deutlich wurde, kann die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nicht als „neues Krankheitsbild”, sondern als ein psychopathologisches Syndrom vermutlich multifaktorieller Genese verstanden werden. Die diagnostische Abgrenzung von anderen psychiatrischen Erkrankungen kann schwierig sein, was die Notwendigkeit einer kritischen und sorgfältigen Diagnosestellung unterstreicht. Die ADHS ist, besonders in Verbindung mit Komorbidität, ein Risikofaktor für Substanzmissbrauch. Insofern scheint auch im Hinblick auf die Ergebnisse unserer Studie eine frühzeitige Diagnose und Behandlung - die i.S. eines „multimodalen Therapieansatzes” pharmakologische und psychotherapeutische Behandlungskonzepte beinhalten sollte - besonders wichtig und kann die Wahrscheinlichkeit einer Suchtentwicklung reduzieren.

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Abb. 1

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Abb. 2

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Abb. 3

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Abb. 4

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Korrespondenzadresse:

Dr. med. Martin Ohlmeier

Facharzt für Neurologie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

Oberarzt der Abteilung, Klinische Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinischen Hochschule Hannover (MHH)

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Email: Ohlmeier.Martin@MH-Hannover.de

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