Z Orthop Ihre Grenzgeb 2005; 143(6): 604-605
DOI: 10.1055/s-2005-923493
Orthopädie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Verletzungen von Fahrradfahrern

Weitere Informationen
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PD Dr. med. Martinus Richter

Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

Hannover

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
10. Januar 2006 (online)

 
Inhaltsübersicht
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PD Dr. med. Martinus Richter

Fahrradfahrer sind wenig oder ungeschützte Verkehrsteilnehmer. Ihre hohe Vulnerabilität führt zweifellos trotz der meist geringen Eigengeschwindigkeit zu einem hohen Verletzungsrisiko. Die aktuelle Verletzungssituation von Fahrradfahrern wurde bisher aber nur ungenügend untersucht. Insbesondere wurden noch keine ausreichenden "In-depth", d.h. detaillierte unfalltechnische Untersuchungen durchgeführt. Unter Berücksichtigung mehrerer eigener unfalltechnischer und klinischer Studien mit Konzentration auf andere Verletzungssituationen waren wir der Meinung, dass auch für die Verletzungen von Fahrradfahrern eine detaillierte unfalltechnische und klinische Untersuchung nötig ist. Eine genaue Analyse der aktuellen Verletzungssituation soll eine Basis zur Verbesserung von präventiven Maßnahmen schaffen.

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Seit 30 Jahren Verkehrsunfallforschung

In einer statistischen Analyse wurden die Unfallakten von 22794 Verkehrsunfallverletzten aus den Jahren 1985 bis 2003 aus der Abteilung für Unfallforschung der Unfallchirurgischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover auf das Vorkommen von Fahrradfahrern untersucht. Die Verkehrsunfallforschung untersucht seit über 30 Jahren kontinuierlich Unfälle im Straßenverkehr mit Personenschäden im Großraum Hannover. Im Gebiet des Landkreises und der Stadt Hannover werden nach einem statistischen Stichprobenplan seit 1988 jährlich etwa 1000 Unfälle mit Personen-schaden erfasst und dokumentiert. In den Jahren 1973-1987 wurden im Schnitt 300 Unfälle pro Jahr erfasst. Die Datenerhebung beginnt am Unfallort und wird bis in die erstversorgende Klinik fortgesetzt. Die Unfallakten wurden durch wissenschaftliche Teams der Verkehrsunfallforschung der Unfallchirurgischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover erstellt. Diese Teams ! werden direkt von der Rettungsleitstelle informiert und erreichen die Unfallstelle sehr schnell in eigenen Einsatzfahrzeugen.

Bei Fahrradfahrern sind Kopf und Extremitäten erheblich verletzungsgefährdet. Helme werden ungenügend genutzt. Unfallschwerpunkte sind Kreuzungen, Einmündungen und Zufahrten. Die konsequentere Helmnutzung und Ausbau von Fahrradwegen zur Trennung der Fahrradfahrer von motorisierten Fahrzeugen sind sinnvolle präventive Maßnahmen.

Die Akten enthalten neben technischen Angaben und Auswertungen der Pkw-Deformierungen auch medizinische Angaben bezüglich der Personenschäden und deren Schweregrade. Mit Hilfe der erstversorgenden Klinik werden die Verletzungsarten registriert und dokumentiert. Die Dokumentation beinhaltet Bildmaterial vom Verletzungsaspekt sowie der dazugehörigen Röntgenaufnahmen. Fotos von der Unfallsituation, insbesondere detaillierte Aufnahmen der Unfallfahrzeuge sind zusätzlich beigefügt. Aus diesen Daten werden dann Verletzungsentstehung, -art und -ausmaß ermittelt.

Folgende Parameter wurden besonders detailliert untersucht: Kollisionsgegner, Kollisionsgeschwindigkeit (km/h), Abbreviated Injury Scale (AIS), Maximum AIS (MAIS), Inzidenz von Polytrauma (Injury Severity Score >16), Inzidenz Tod.

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Unfallsituation

Die Daten von 4264 verletzten Fahrradfahrern wurden untersucht.

55% der verletzten Fahrradfahrer waren männlich und 45% weiblich. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt des Unfalls betrug 52,0 (Spannweite: 4-83; Standardabweichung: 21,7) Jahre. 0,9% waren im Vorschulalter, 10,8% waren 6 bis 12 Jahre alt, 10,4% waren 13 bis 17 Jahre alt, 64,7% waren 18 bis 64 Jahre alt und 13,2% waren über 64 Jahre alt.

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Die wenigsten Verletzten trugen einen Helm

95,2% der untersuchten Unfälle mit verletzten Fahrradfahrern ereigneten sich innerhalb und 4,8% außerhalb geschlossener Ortschaften (Tabelle [1]). 55% benutzten vor dem Unfall Fahrradwege. 16,8% der Unfälle ereigneten sich direkt auf Fahrradwegen. 82,5% der Unfälle ereigneten sich bei Tageslicht, 5,3% während Dämmerung und 12,2% bei Dunkelheit. Kollisionsgegner waren in 65,8% Pkw, 7,2% Lkw, 7,4% andere Fahrräder, 8,8% stehende Objekte, 4,3% multiple und 6,5% andere. Die mittlere Kollisionsgeschwindigkeit betrug 21,3 (Spannweite: 0-123; Standardabweichung: 16,5) km/h. Die Kollisionsgeschwindigkeit war in 77,9% unter 31 km/h, in 4,9% zwischen 31 und 50 km/h, in 3,7% zwischen 51 und 70 km/h und in 1,5% über 70 km/h. Einen Helm benutzten 1,7% (n=78).

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Tab. 1 Unfalllokalisation von 4264 verletzten Fahrradfahrern

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Verletzungsschwere

Der mittlere MAIS betrug 1,45 (Spannweite: 1-6; Standardabweichung, 0,8).. In 48% der Fälle wurden Kopfverletzungen registriert, in 5% Verletzungen der Halswirbelsäule, in 21% des Thorax, in 6% des Abdomens, in 13% des Beckens, in 46% der oberen und in 62% der unteren Extremität. Die Verletzungen des Kopfes lagen in 68% oberhalb des "Ohrniveaus", d.h. im Schutzbereich des Helmes. Die Verletzungen der unteren Extremität wurden in 80% durch direkten Anprall eines kollidierenden motorisierten Fahrzeugs verursacht. Der mittlere ISS betrug 3,87 (Spannweite: 1-75; Standardabweichung: 8,6). Die Inzidenz eines Polytrauma war 2,0% (n=84) und die Letalität betrug 1,4% (n=58).

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Korrelation zwischen Unfallsituation und Verletzungsschwere

Eine signifikante Korrelation bestand zwischen der Kollisionsgeschwindigkeit und dem AIS für alle Körperregionen, MAIS und ISS (Pearson-Test: p<0,05; r>0,5/<-0,5). Die Kollisionsgeschwindigkeit war bei polytraumatisierten und bei getöteten höher als bei nicht polytraumatisierten und überlebenden (Mittlere Kollisionsgeschwindigkeit: Polytrauma ja/nein - 50,3/20,5 km/h; Tod ja/nein - 52,3/ 20,8; t-Test jeweils p<0,001). Tabelle [2] zeigt MAIS und ISS bei verschiedenen Unfallsituationen. Eine geringere Verletzungsschwere (MAIS, ISS) wurde bei Verletzten mit Helm, mit Unfall innerhalb geschlossener Ortschaften und bei denen, die vor dem Unfall Fahrradwege benutzt hatten, festgestellt im Vergleich zu Verletzten ohne Helm, mit Unfall außerhalb geschlossener Ortschaften und bei denen, die vor dem Unfall keine Fahrradwege benutzt hatten.

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Tab. 2 Verletzungsschwere (MAIS, ISS) bei verschiedenen Unfallsituationen von 4264 verletzten Fahrradfahrern (Mittelwerte und Standardabweichungen angegeben)

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Spezielle Verletzungssituation von Fahrradfahrern

Bei verletzten Fahrradfahrern sind Kopf und Extremitäten besonders gefährdet. Fast die Hälfte der verletzten Fahrradfahrer erlitt Verletzungen des Kopfes und der oberen Extremitäten, und fast 2/3 Verletzungen der unteren Extremitäten. Diese Körperregionen sind mehr gefährdet als bei anderen Verkehrsteilnehmern. Außerdem beobachteten wir bei verletzten Fahrradfahrern auch eine höhere Verletzungsschwere (ISS, MAIS) und Letalität als bei anderen Verkehrsteilnehmern. Die Bedeutung von Kopfverletzungen wird beispielsweise durch die bekannte hohe Rate der stationären Behandlung im Vergleich zu Verletzten ohne Kopfverletzungen untermauert. Der Fahrradhelm zeigte bereits bei früheren Studien hohe präventive Wirkung.

Bei unserer Studie waren allerdings nur 1,7% der verletzten Fahrradfahrer helmgeschützt, wobei 2/3 aller Kopfverletzungen im Schutzbereich eines (nicht vorhandenen) Helms auftraten. Folglich ist auch die Helmbenutzung eine sinnvolle und wichtige Maßnahme zur Verringerung von Kopfverletzungen. Die Helme sollten selbstverständlich die SNELL- oder ANSI-Norm erfüllen. Der hohe Prozentsatz der Verletzungen der unteren Extremität bei Kollisionen mit Pkw legte eine genauere Analyse dieser Verletzungssituation nahe. Bei diesen Kollisionen werden über den Stoßstangenbereich Kräfte übertragen, die zu einem hohen Biegemoment im Bereich des Knies und des proximalen Unterschenkels führen. Eine Änderung des Fahrzeugdesigns zu glattflächigerer und eventuell sogar gepolsterter Oberfläche oder gar Außenairbags könnten diese verletzungsverursachende Kraftübertragung verringern. Andere sinnvolle präventive Maßnahmen könnten das Tragen von Protektoren wie beim Motorrad sein. Bei einer früheren Studie zeigten wir den eindeutigen präventiven Effekt dieser Protektoren.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die eindeutige präventive Potenz von Fahrradwegen. Unfallschwerpunkte waren vor allem Kreuzungsbereiche wo Fahrradfahrer in Kontakt mit motorisierten Fahrzeugen kommen können. Daher sollten genau diese Kreuzungsbereiche bestenfalls so gestaltet werden, dass die Verkehrswege von Fahrradfahrer und motorisierten Fahrzeugen bestmöglich getrennt werden.

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PD Dr. med. Martinus Richter

Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover

Carl-Neuberg-Str. 1

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PD Dr. med. Martinus Richter

Unfallchirurgische Klinik, Medizinische Hochschule Hannover

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PD Dr. med. Martinus Richter

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Tab. 1 Unfalllokalisation von 4264 verletzten Fahrradfahrern

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Tab. 2 Verletzungsschwere (MAIS, ISS) bei verschiedenen Unfallsituationen von 4264 verletzten Fahrradfahrern (Mittelwerte und Standardabweichungen angegeben)