Impfstoffentwicklung gegen Viren
Die Impfstoffentwicklung gegen Viren hat seit den ersten Versuchen zur Pockenschutzimpfung immense Fortschritte gemacht: Nachdem die Impfstoffe der ersten Generation ausschließlich aus lebenden, attenuierten Viren bestanden, wurden für die der zweiten Generation aus Sicherheitsgründen nur noch inaktivierte Erreger verwendet. Später wurden die Immunogene auf einzelne gereinigte oder rekombinante Virusproteine reduziert. Die jüngsten Entwicklungen führten zu DNA- oder vektorbasierten Impfstoffen der vierten Generation.
Virusspezifische Antikörper und zelluläre Immunantwort
In Abhängigkeit vom verwendeten Immunogen werden unterschiedliche Immunantworten induziert, zum einen virusspezifische neutralisierende Antikörper und zum anderen eine zellvermittelte Immunantwort - oft beides gleichzeitig. Effektive Impfstoffe wie etwa die gegen Pocken, Polio, Masern oder Mumps, die eine Chronifizierung der akuten Infektion verhindern und eine lange Immunität verleihen, stimulieren beide Mechanismen des Immunsystems.
Viele Untersuchungen weisen darauf hin, dass neutralisierende Antikörper, die Zellen vor Infektionen schützen, essenziell für das Verhindern der Entstehung einer chronischen Infektion sind, während eine schon bestehende chronische Infektion durch eine virusspezifische T-Zell-Antwort kontrolliert werden kann [12].
Infektion mit Retroviren führt zu chronischer Infektion
Eine Infektion mit Retroviren, zu denen auch HIV gehört, führt fast immer zu einer chronischen Infektion. Obwohl eine Infektion mit HIV alle Mechanismen des angeborenen und des erworbenen Immunsystems, die humorale wie auch die zelluläre Immunantwort stimuliert, ist das HI-Virus in einem infizierten Individuum nach heutigem Kenntnisstand nicht mehr zu eliminieren. Auch nach jahrelanger effektiver Kontrolle der Plasmavirämie durch eine hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) taucht das Virus nach Pausieren oder Absetzen der Therapie meist schnell wieder im Blut der Patienten auf.
Wirkungsvolle Strategien, um dem Immunsystem zu entkommen
HIV ist der Prototyp eines pathogenen Agens, das wirkungsvolle Strategien entwickelt hat, um einem ansonsten äußerst wirkungsvollen Immunsystem zu entkommen: Das Virus mutiert bemerkenswert schnell und seine Oberflächenproteine sind für neutralisierende Antikörper nur schwer zugänglich. Es reduziert wichtige Oberflächenrezeptoren der Zielzellen und zerstört die Effektorzellen des Immunsystems [13]. Zudem versteckt sich das HI-Virus vor dem Immunsystem beispielsweise in ruhenden T-Zellen oder in so genannten Reservoirs wie etwa den Mikroglia und Astrozyten des Gehirns [8].
Trotz dieser Problematik versucht die internationale Impfstoffforschung seit der Entdeckung von HIV-1 vor mehr als 20 Jahren einen prophylaktischen Impfstoff zu entwickeln. Zurzeit befinden sich mehr als 30 Impfstoffe zur Prüfung in frühen klinischen Studien [5].
Prophylaktische Impfungen
Env/gp120 als Impfstoff
Bei Affen wurden lebende Viren schon früh als Impfstoff gegen das mit HIV verwandte Immundefizienzvirus SIV verwendet. Versuche mit deletierten SI-Viren zeigten veränderte Infektionsverläufe, was auf die wichtige Rolle einzelner Proteine, wie Nef, bei der Entstehung der AIDS-Erkrankung hinweist. Die bisher bei anderen Erregern erfolgreich eingesetzte Strategie einer Schutzimpfung des Menschen mit attenuierten, aber lebenden Viren verbietet sich im Fall des schnell mutierenden HIV aus Sicherheitsgründen.
Inaktivierte HI-Viren wurden dagegen bei bereits infizierten Personen als Immunstimulans eingesetzt. Da bei dem Inaktivierungsprozess jedoch das Hüllprotein (Env) verloren ging, induzierte dieser Impfstoff keine für eine schützende Immunität essenziellen, neutralisierenden Antikörper. In der Folge wurden deshalb Vakzinierungen mit dem rekombinanten Protein Env/gp120 getestet. Eine der ersten weltweiten Phase-III-Studien mit über 5000 Probanden verlief jedoch entmutigend: Im Vergleich zu einer Infektionsrate von 7 % bei den Patienten, die mit Plazebo geimpft wurden, infizierten sich 6,7 % der Studienteilnehmer unter einer Env/gp120-Vakzine („AIDSVAX”) - ein statistisch nicht signifikanter Unterschied (3).
Bedeutung der neutralisierenden Antikörper
Ein weiteres Problem bei der Impfstoffentwicklung gegen HIV-Hüllproteine ist die große Variabilität von HIV-1 mit mindestens neun Subtypen. Zudem besteht zwischen und auch innerhalb der Subtypen die Möglichkeit der Rekombination.
Außerdem ist das Env-Protein wenig immunogen, da es stark glykosiliert ist. Seine wichtigen Bindungsstellen liegen verdeckt oder sind aufgrund der sich stets verändernden Faltung des Proteins nur kurzzeitig für Antikörper zugänglich [7]. Eine Vakzinierung von Rhesusaffen mit env-DNA von einzelnen oder gemischten HIV-1-Subtypen induzierte zwar eine breite zelluläre und humorale Immunantwort, aber nur in geringem Umfang neutralisierende, gegen verschiedene Subtypen kreuzreagierende Antikörper [18].
Schon bald stellte sich die Frage, ob die Rolle der neutralisierenden Antikörper - die von Impfversuchen bei anderen viralen Infektionen hergeleitet wurde - auch für die HIV-Infektion gilt. Neutralisierende Antikörper konnten zwar in vitro und im Tiermodell eine Infektion verhindern, bei HIV-infizierten Menschen war der Nachweis jedoch bisher nur indirekt gelungen: Unter dem Selektionsdruck neutralisierender Antikörper bildeten sich sehr schnell so genannte „neutralization escape variants” durch Mutationen in den Env-Proteinen gp120/gp41 [15].
Nachdem aber gezeigt wurde, dass die passive Immunisierung mit in vitro neutralisierenden Antikörpern die Infektion in Rhesusaffen verhindern kann [9], wurden erste erfolgversprechende Therapieversuche mit monoklonalen, neutralisierenden Antikörpern bei HIV-Infizierten während der HAART-Therapiepause durchgeführt. Die passive Immunisierung mit einem Cocktail aus monoklonalen Antikörpern gegen die Env-Proteine gp120/gp41 unterdrückte die Vermehrung der Viren bei akut Infizierten häufiger als bei chronisch infizierten Probanden [20]. Hiermit war die tragende Rolle der neutralisierenden Antikörper bewiesen.
Art der Impfstoff-Applikation beeinflusst Immunogenität
Für die Immunogenität einer Vakzine ist jedoch nicht nur die Stimulierung der antikörper-, sondern auch der zellvermittelten Immunantwort entscheidend. Letztere wird unter anderem durch die Art der Applikation des Impfstoffs beeinflusst. Ein Virusprotein induziert vor allem eine antikörpervermittelte Immunantwort, während die Immunisierung mit nackter DNA [14], die Kombination mit einem Adjuvans oder einem viralen Vektor wie MVA (modifizierter Vacciniavirus Ankra), Adenovirus, adenoassoziiertes Virus, Masernvirus oder Rhinovirus auch die zelluläre Immunantwort stimuliert [6], die für die Aufrechterhaltung einer antikörperbasierten Immunantwort notwendig ist.
Therapeutische Impfungen
Immunsystem HIV-Infizierter stimulieren
Nach Ablauf der akuten HIV-Infektion stellt sich ein fragiles Gleichgewicht zwischen einem funktionierenden Immunsystem und einer Virusvermehrung auf niedrigem Niveau ein. Jede Störung dieses Gleichgewichts zugunsten der Virusreplikation kann bei guter ärztlicher Versorgung jahrelang durch die hochaktive antiretrovirale Therapie aufgefangen werden. Diese Therapie geht aber trotz aller Fortschritte mit erheblichen Nebenwirkungen wie Lipodystrophie, Myokardinfarkten und Mitochondrien-Toxizität einher und verlangt vom Patienten eine gute Compliance.
Deshalb lag es nah, nach einer therapeutischen Impfung zu suchen, die im Idealfall ohne Nebenwirkungen das Immunsystem eines HIV-Infizierten in dem Maße stabilisiert, dass über einen langen Zeitraum weder klinische Symptome noch eine Plasmavirämie auftreten und so nur eine geringe Übertragungswahrscheinlichkeit besteht. Viele Arbeitsgruppen haben sich dieses großen Problems angenommen, gilt es doch, vor allem die zelluläre Immunantwort so vorsichtig zu stimulieren, dass es nicht allein durch neue antigene Reize zu einer plötzlichen Virusvermehrung oder gar unter Druck eines stimulierten Immunsystems zur Entstehung neuer „virus escape mutants” kommt.
Durch die heute zur Verfügung stehenden Vakzine wird versucht, zum einen die Phase der erfolgreichen HAART zu verlängern und dem Patienten zum anderen regelmäßige Erholungsphasen von der nebenwirkungsreichen Therapie zu erlauben („drug holidays”). Untersuchungen mit Patienten, die sehr früh mit HAART begonnen und in der Folge ihre Therapie regelmäßig unter strikter klinischer Kontrolle unterbrochen hatten, zeigten, dass das Immunsystem durchaus zu einer HIV-spezifischen Antwort gegen die sich in der Therapiepause entwickelnden Viren in der Lage ist. Durch diese „Autoimmunsierung” konnte bei einem Teil der Patienten die Therapiepause verlängert werden.
CD4- und CD8-abhängige Immunantwort
Ein weiteres Problem ist die Komplexität des menschlichen Immunsystems. Bis heute konnte noch nicht vollkommen geklärt werden, welche immunologischen Parameter mit einem Schutz vor der AIDS-Erkrankung korrelieren („correlates of protection”) [11]. Sicher ist, dass der Erfolg einer zellulären Immunantwort von zwei T-Zelltypen abhängt: den CD8-T-Zellen und den CD4-T-Zellen.
CD8-T-Zellen begrenzen eine Infektion, indem sie infizierte Zellen erkennen und vernichten (zytotoxische T-Zellen). CD4-T-Zellen dagegen initiieren Wachstums- und Signalfaktoren für die Generierung und Erhaltung von CD8-T-Zellen und werden deshalb als Helfer-T-Zellen bezeichnet. CD8-T-Zellen wiederum erkennen virale Epitope, die von MHC-Klasse-I-Antigenen (MHC = „major histocompatibility complex”) präsentiert werden, CD4-T-Zellen dagegen diejenigen Epitope, die von MHC-Klasse-II-Antigenen präsentiert werden.
Da T-Zell-Immunantworten somit von individuellen Histokompatibilitätsantigenen abhängen, können Vakzine sehr variable, vom Empfänger abhängige Immunantworten induzieren. Viren mit hohen Mutationsraten wie das HIV können durch minimale Veränderungen der viralen Epitope, die dann nicht mehr von den entsprechenden T-Zellen erkannt werden, sehr leicht einer T-Zell-abhängigen Immunantwort entgehen („T cell escape”). Mit Vakzinierungsantigenen, die multiple Epitope enthalten, lässt sich dieser limitierende Effekt umgehen.
Während CD8-T-Zellen für die Viruskontrolle während der akuten Phase der HIV-Infektion wichtig sind [1], wird die Viruskontrolle während der chronischen Phase bei LTNPs („long-term non-progressors”) und bei Patienten, die noch während der akuten Phase mit der Therapie begonnen hatten, von CD4-T-Zellen dominiert [17]. Die Impfung chronisch infizierter HIV-Patienten mit einer MVA-HIV-Nef-Vakzine induzierte eine spezifische CD4-T-Zellantwort, die stärker war als bei akut infizierten, unbehandelten Patienten [2]
[4]. Da das CD8-T-Zell-abhängige immunologische Gedächtnis („memory response”) nur mithilfe von CD4-T-Zellen funktioniert [19], muss bei therapeutischen Vakzinierungen neben der CD8-abhängigen primär die CD4-abhängige Immunantwort beachtet werden.
Kombinationen aus DNA und viralen Vektoren
Auch bei therapeutischen Vakzinen spielt die Applikationsart des Impfantigens bei der Entwicklung einer belastbaren zellulären Immunantwort eine große Rolle. Hier wurden in den vergangenen Jahren die besten Erfahrungen mit heterologen „prime-boost”-Kombinationen aus DNA und viralen Vektoren gemacht [16].
So wird beispielsweise zuerst mit einem DNA-Plasmid, das die Information für HIV-Epitope enthält, vakziniert („prime”), gefolgt von einer Impfung mit viralen Vektoren wie etwa MVA oder Adenoviren, die HIV-Proteine exprimieren („boost”). Dadurch wird vermutlich bei der ersten Vakzinierung ein breites Repertoire an T-Zell-Klonen aktiviert, die durch den anschließenden „Boost” selektiv amplifiziert werden („memory T cells”) [11].
Immunologisches Gedächtnis geht verloren
Zahlreiche Impfstoffkandidaten befinden sich zurzeit in frühen klinischen oder vorklinischen Studien. Als geeignetes Tiermodell dienen Rhesusaffen, in denen die Infektion mit den HIV-verwandten Viren SIV bzw. SHIV (Chimäre aus SIV und HIV) ähnlich abläuft wie beim Menschen. Mehr als 20 Jahre Impfstoffforschung haben jedoch gezeigt, dass sich die Ergebnisse aus dem Tiermodell mit SIV nur eingeschränkt auf den Menschen und HIV-1 übertragen lassen.
Neue Ergebnisse aus dem Tiermodell erinnern allerdings wieder daran, nicht nur die T-Zellen des Bluts, sondern auch die der Schleimhäute als Haupteintrittspforten für HIV nicht aus den Augen zu verlieren. Denn SIV zerstört schon kurz nach der Infektion einen Großteil der Immunzellen der Schleimhäute direkt, so das Ergebnis zweier Studien. Besonders bedenklich ist der Befund, dass im gesamten Körper 30-60 % des Repertoires an CD4+-Gedächtniszellen infiziert und wohl auch zerstört werden und somit ein solcher Organismus sein immunologisches Gedächtnis zumindest teilweise verliert [10]. Auch diese Ergebnisse sprechen dafür, so früh wie möglich während der akuten HIV-Infektion zellgebundenes Virus durch Impfung oder HAART zu vernichten.
Schutz vor Infektion oder vor AIDS-Erkrankung
Langfristig scheint die Entwicklung einer therapeutischen Vakzine, die vor einer AIDS-Erkrankung schützt, realistischer zu sein als der Erfolg auf der Suche nach einer Schutzimpfung gegen die Infektion mit HIV. Dass das Immunsystem prinzipiell in der Lage ist, auch nach erfolgter Infektion über einen langen Zeitraum eine AIDS-Erkrankung zu verhindern, zeigen die seltenen Fälle der LTNPs („long-term non-progressors”), deren Immunsystem über viele Jahre hinweg auch ohne hochaktive antiretrovirale Therapie die HIV-Infektion kontrollieren kann.
Andere Fälle, wie die der langjährigen Sexualpartner von HIV-Infizierten zeigen, dass das menschliche Immunsystem durchaus in der Lage ist, eine stabile Infektion auch nach Kontakt mit HIV zu verhindern. Solange wir die „correlates of protection” nicht genau kennen, können die Unterschiede zwischen einem Schutz vor der Infektion und dem Schutz vor der AIDS-Erkrankung nicht definiert werden. In beiden Fällen könnte es sich um sehr ähnliche Immunmechanismen handeln.
Sicher ist, dass sich immunologische Erkenntnisse aus den Impfversuchen zur Prophylaxe für die Entwicklung therapeutischer Vakzine verwerten lassen und vice versa. Ein Beispiel ist die passive Immunisierung mit neutralisierenden Antikörpern, denen bisher eher eine Rolle bei der Verhinderung einer Infektion zugesprochen wurde, die aber auch die Virusvermehrung in bereits infizierten Patienten unterdrücken können [20].
Ausblick
Die Impfstoffforschung steht erstmals vor der großen Herausforderung, eine Vakzine nicht nur zur Prophylaxe, sondern auch gegen eine schon bestehende Infektion zu entwickeln. Um diesen Prozess zu beschleunigen, wurden neue Konsortien mit beachtlicher Unterstützung durch die Bill & Melinda Gates Stiftung wie „IAVI” („International AIDS Vaccine Initiative”) oder das „Global HIV/AIDS Vaccine Enterprise” gegründet. Durch eine verstärkte Koordination weltweit führender HIV/AIDS-Forschungseinrichtungen soll folgendes Programm zügig bearbeitet werden:
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Strategien zur Induktion neutralisierender Antikörper gegen unterschiedliche HI-Virusstämme und -subtypen
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Identifizierung von Impfstoffkandidaten, die eine robuste zelluläre anti-HIV-Immunität induzieren
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Untersuchung von Immunfaktoren, die im Tiermodell (Rhesusaffen) vor der Infektion mit SIV/SHIV (teilweise) schützen
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Bereitstellung aktueller Virusisolate
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Standardisierung der Laborverfahren zum Nachweis neutralisierender Antikörper bzw. HIV-spezifischer T-Zellen
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Überprüfung und Expansion der Produktionskapazitäten für Impfstoffe.
Ob es in absehbarer Zeit gelingen wird, einen wirksamen Impfstoff gegen HIV/AIDS zu entwickeln, ist ungewiss. Aber schon ein Impfstoff, der das Infektionsrisiko senkt, wäre hilfreich bei den Versuchen zur Eindämmung der AIDS-Pandemie in den Ländern, denen die finanziellen und logistischen Möglichkeiten für medikamentöse Therapien fehlen.