Erklärung des Autors
Der Autor erhielt für die Studie „Levo-Methadon versus Methadon-Razemat” eine Aufwandsentschädigung der Firma Sanofi-Aventis auf der Grundlage des aktuellen Entschädigungsgesetzes für medizinische Gutachten (s. Deutsches Ärzteblatt 2004; 101 (24): B1466 - 1469). Eine finanzielle Zuwendung im Zusammenhang mit diesem Artikel erfolgte nicht.
Einleitung
Einleitung
In Deutschland werden als Substitutionsmittel zu
verwendet [1].
Methadon (6-Dimethylamino-4,4-diphenylheptanon) ist ein chirales (händiges) Molekül aus 2 nicht deckungsgleichen Strukturformen (Enantiomere) mit dem 6. C-Atom als Chiralitätszentrum. Die beiden Enantiomere des Methadons sind das Dextro-Methadon und das Levo-Methadon, die bei der Synthese in einem Verhältnis von 1:1 anfallen. Die Opiatwirkung wird nur durch das Levo-Methadon hervorgerufen, das Dextro-Methadon ist als Substitutionsmittel unwirksam.
Zur Methadonsubstitution wird auf internationaler Ebene das Methadon-Razemat verwendet, das in Deutschland als Fertigarzneimittel (Methaddict®) vertrieben wird oder als Lösung zubereitet werden muss. Nur in Deutschland kann Levo-Methadon zur Substitution eingesetzt werden (L-Polamidon®-Lösung zur Substitution).
Durch die „Bochumer Studie”, einer Anwendungsbeobachtung zum differenzierten Einsatz von Levo-Methadon und Methadon-Razemat, fiel eine „alte” Untersuchung zu Schlafveränderungen unter Methadon-Razemat-Substitution auf [2]. Die dort beschriebenen Veränderungen wurden in letzter Zeit als eigenständiges Krankheitsbild unabhängig von Methadon näher beschrieben. Zur Therapie dieses Krankheitsbildes können Benzodiazepine eingesetzt werden, insofern könnte eine Neubewertung der Benzodiazepinmedikation im Zusammenhang mit der Methadonsubstitution erforderlich werden.
Der vorliegende Aufsatz informiert
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zum normalen Schlaf,
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zu den gefundenen Schlafstörungen unter Methadon,
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zu dem Krankheitsbild, das der gefundenen Schlafstörung zuzuordnen ist,
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zu den Behandlungsoptionen bei diesem Krankheitsbild und
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zum Benzodiazepingebrauch bei Substituierten.
Anschließend wird das sich ergebende Bild kritisch diskutiert und die klinischen Konsequenzen daraus gezogen.
Der normale Schlaf
Der normale Schlaf
Im Schlaf können nach dem EEG mehrere Schlafstadien unterschieden werden; im Stadium A (entspanntes Wachsein) herrscht ein α-Rhythmus vor, in B (Einschlafphase) geht der α-Rhythmus zurück und es treten Θ-Wellen und Schlafspindeln auf, in C (Leichtschlaf) nimmt der Rhythmus weiter ab bis zu β-Wellen, in D (mittlere Schlaftiefe) herrschen δ-Wellen vor und K-Komplexe und in E (Tiefschlafphase) nur langsame δ-Wellen. Der sog. REM-Schlaf zeichnet sich durch die schnellen Augenbewegungen aus, einem EEG-Muster wie Stadium B und einer deutlichen Erschlaffung der peripheren Muskulatur. Dabei ist die Weckschwelle so hoch wie im Tiefschlaf. Der REM-Schlaf umfasst ca. 20 % der Schlafzeit eines Erwachsenen, der Anteil ist altersabhängig.
Im REM-Schlaf erfolgt das Träumen, allerdings kann auch außerhalb der REM-Phasen geträumt werden [3]
[4].
Schlafstörungen unter Methadon
Schlafstörungen unter Methadon
Bereits 1993 fand eine Schweizer Arbeitsgruppe eine Beeinflussung der Schlafstadien unter Methadon-Razemat. Sie führten bei 10 Alkoholikern, die seit längerer Zeit abstinent lebten, bei 5 Substituierten, die seit mindestens 2 Monaten mit Methadon-Razemat behandelt wurden und bei 10 gesunden Kontrollpersonen ein Schlaf-EEG und ein paralleles EMG durch.
Bei den 5 Substituierten zeigten sich eine signifikant verlängerte REM-Latenz und eine fehlende Tonusererniedrigung im REM-Schlaf. Diese Störung war jedoch nicht signifikant korreliert mit vermehrten Aufwachphasen, wobei die Autoren darauf hinweisen, dass dies durch die geringe Anzahl von Testpersonen und einer großen Streuung der Zahl der Aufwachphasen verursacht sein könnte.
Die Autorengruppe vermutet aufgrund von Tierversuchen zur Aufhebung der Atonie, dass die kontinuierliche Einnahme des Opiates eine Störung der inhibitorischen Impulse auf pontiner Ebene induzieren kann. Eine vergleichbare Untersuchung liegt zu anderen Substitutionsmitteln nicht vor; 1993 war Buprenorphin in der Schweiz noch nicht zur Substitution zugelassen, Levo-Methadon ist generell in der Schweiz als Substitutionsmittel nicht zugelassen. Spätere Arbeiten zu der Thematik sind nicht zu eruieren [5].
Die REM-Schlaf-Verhaltensstörung
Die REM-Schlaf-Verhaltensstörung
Die Aufhebung der Atonie in der REM-Schlafphase ist ein eigenes Syndrom und wird als REM-Schlaf-Verhaltensstörung (engl.: REM-Sleep-Behavior-Disorder, RBD) bzw. Schenk-Syndrom bezeichnet. Dieses Phänomen wurde von Schenk et al. 1986 erstmalig vollständig beschrieben und als seltene Erkrankung hauptsächlich von Männern jenseits des 50. Lebensjahres angesehen. Es ruft lebhafte motorische Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Träumen im REM-Schlaf hervor und kann nicht selten zu Verletzungen des/r Betroffenen führen. Aufgrund der jüngeren Forschungen wurde die RBD bei einer großen Anzahl von Erkrankungen hauptsächlich neurodegenerativer Art gefunden, z. B. als Vorläufer-Symptom bei der Parkinson-Erkrankung und beim Alzheimer-Syndrom, ferner bei dem Tourette-Syndrom. Auch kann die RBD Medikamenteninduziert vorkommen, z. B. bei diversen trizyklischen Antidepressiva, bei fast sämtlichen SSRI, bei dopaminergen Substanzen und bei Beta-Blockern sowie bei einem Konsum von Alkohol oder Stimulantien, z. B. Amphetaminen. Ferner kann das Syndrom auch ohne erkennbare Ursache auftreten.
Auf der pathophysiologischen Ebene kommt es u. a. zur Ausschaltung des hemmenden serotonergen Einflusses auf den frontalen Kortex im REM-Schlaf.
Ein Zusammenhang zwischen RBD und Depression wurde bisher nicht beschrieben [6]
[7]
[8]
[9]
[10].
Der klinische Zusammenhang von Schlafstörungen und Depressionen ist jedoch bekannt: Schlafstörungen können Depressionen hervorrufen, Depressionen können Schlafstörungen als Symptom aufweisen.
Korrelierend mit diesen Überlegungen werden in einer Übersichtsarbeit von Bülow und Kirsche aus dem Jahr 1991 unter den Nebenwirkungen der Methadonbehandlung sowohl Durchschlafstörungen (ca. 60 %) aufgeführt als auch das Auftreten manifester Depressionen (ca.32 %) [11].
Interessant ist der Befund von Gehirn-Autopsien durch Ramage et al. aus England: Sie fanden Veränderungen im Gehirn von Opiat-Usern und Methadon-Razemat-Substituierten, die mit denen von Alzheimer-PatientInnen vergleichbar sind. Dabei betonen die Autoren, dass es sich um einen intravenösen Konsum gehandelt habe. Zur Erinnerung: Levo-Methadon ist in England als Substitutionsmittel nicht zugelassen [12].
Schlaf und Gedächtnis sind funktional eng miteinander gekoppelt. So wurde bereits 1924 experimentell nachgewiesen, dass Lerninhalte, die vor dem Schlafengehen gelernt wurden, besser behalten wurden als solche vor einer Wachphase [13]. Die unterschiedlichen Schlafstadien beeinflussen die Gedächtnisbildung in den unterschiedlichen Gedächtnissystemen. So ist insbesondere der REM-Schlaf für das prozedurale Gedächtnis wichtig, das das Erlernen von motorischen und sensorischen Fertigkeiten beinhaltet [14]
[15]. Insofern kann die RBD eine Bedeutung haben, die über die psychopathologische Fehlfunktion hinausgeht.
Die Behandlungsoptionen bei der RBD
Die Behandlungsoptionen bei der RBD
Die Ätiologie der RBD ist unbekannt, bei Bedarf wird symptomatisch therapiert. Mittel der ersten Wahl ist Clonazepam in kleiner Dosierung (0,5 - 1 mg) vor dem Einschlafen, womit die motorischen Aktivitäten bei bis zu 90 % der Betroffenen unterdrückt werden sowie alternativ im Einzelfall Carbamazepin, Desipramin oder Melatonin.
Nach Absetzen des Clonazepams tritt unmittelbar wieder die motorische Aktivität im REM-Schlaf auf [16]
[17].
Benzodiazepingebrauch bei Substituierten
Benzodiazepingebrauch bei Substituierten
Unter den Methadon-(Razemat-)Substituierten ist ein differenzierter Umgang mit Benzodiazepinen zu beobachten:
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Es gibt eine Gruppe von Betroffenen, die so viele Benzodiazepine wie möglich konsumieren, um sich maximal zu intoxikieren. Sie erfüllen alle Kriterien eines Benzodiazepinmissbrauchs bzw. einer -abhängigkeit. Oftmals konsumieren sie zusätzlich weitere psychotrope Substanzen mit dem gleichen Ziel.
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Ferner gibt es eine Gruppe von Betroffenen, die einen geringen Benzodiazepinkonsum betreiben und nicht durch Intoxikationszustände oder -exzesse auffallen. Oftmals behaupten sie von sich, dass sie von der Einnahme der „üblichen” Antidepressiva nicht profitieren und allein Benzodiazepine gegen ihre „Depressionen” helfen würden.
Eine substanzielle Unterscheidung dieser beiden Gruppen geschieht in der suchtmedizinischen Reflektion meist nicht, der „kontrollierte” Konsum der letzteren Gruppe auf niedrigem Niveau wird meist als Low-dose-Abhängigkeit betrachtet - und geargwöhnt, dass er sich zur „Intoxikations-Abhängigkeit” weiterentwickelt bzw. die Low-dose-Abhängigkeit nur vorgegeben wird.
Auf Seiten der substituierenden Ärzt/Innen werden manchmal Benzodiazepine als Antidepressiva der 2. Wahl gegeben, wenn Behandlungsversuche mit den „üblichen” Antidepressiva gescheitert sind. Jedoch gibt es wahrscheinlich auch einen unreflektierten Verschreibungsmodus. Das führte dazu, dass in NRW die beiden Ärztekammern und die beiden Apothekerkammern eine gemeinsame Empfehlung herausgaben: Es gibt keine Indikation zur Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger mit Benzodiazepinen; die Verordnung von Benzodiazepinen sollte nur bei entsprechenden psychiatrischen Krankheitsbildern erfolgen [18].
Der Umgang mit dem Benzodiazepinkonsum unter einer Methadonsubstitution provoziert bei den substituierenden Ärzt/Innen eine Polarisierung:
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Die einen lehnen ihn als Suchtverlagerung o. Ä. ab und sanktionieren ihn.
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Andere tolerieren ihn, wobei einige eine Fremdverschreibung akzeptieren, während andere sie selber verschreiben.
Diskussion
Diskussion
Die Datenbasis für die Schlafstörung unter Methadon ist sehr schmal: Nur Daten zu 5 (!) Betroffenen-Untersuchungen liegen vor. Allerdings ist der Befund in der kleinen Gruppe eindeutig und somit hinreichend für die Arbeitshypothese: Es gibt eine Methadonassoziierte RBD.
Die Genese der RBD insgesamt ist nicht geklärt; bei den Methadonsubstituierten müssen neben der allgemeinen Unklarheit mehrere Konstellationen diskutiert werden:
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Ist die RBD Methadoninduziert, wie sie auch durch andere Psychopharmaka induziert werden kann?
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Viele Methadonsubstituierte weisen in der Suchtanamnese einen Alkoholmissbrauch oder eine -abhängigkeit auf. Auch gibt es einen nicht unbeträchtlichen Alkoholgebrauch während der Substitution. Ist die RBD Alkohol-induziert durch einen anamnestischen oder aktuellen Alkohol-Gebrauch?
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Ist die RBD induziert durch die neurodegenerativen Veränderungen, die im Gefolge des intravenösen Konsums der Opiate auftreten?
Festgehalten werden kann jedoch, dass die RBD im Zusammenhang mit einer Methadonsubstitution vorliegen kann.
Eine suchtmedizinische Diskussion auf breiter Basis zur therapeutischen Funktion einer Benzodiazepinmedikation während einer Methadonsubstitution erfolgte bisher selten in der BRD. 1998 wurden Beobachtungen zum Gebrauch von Benzodiazepinen vorgestellt, die im Einzelfall eine Suizid-verhindernde Funktion nahe legten. Die Diskussion zu dem Artikel war kurz und ablehnend, weil hiermit die Legitimation eines polyvalenten Missbrauchs vermutet wurde [19]. Aktuell wird in der BRD der so genannte „Beigebrauch” wieder in seiner individuellen Funktion und Intention hinterfragt. Dabei zeigt sich, dass in der Schweiz die Diskussion deutlich intensiver geführt wird [20].
Die Differenzierung einer therapeutisch-stabilen Niedrig-Dosis Benzodiazepinmedikation und einer Benzodiazepin-low-dose-Abhängigkeit ist bei dem vermutlich vorliegenden Krankheitsbild unmöglich: Wenn das Benzodiazepin abgesetzt wird, treten unmittelbar die Krankheitserscheinungen wieder in Erscheinung - und die sind u. a. Symptome aus dem depressiven Formenkreis, wie sie auch bei einem Benzodiazepinentzugssyndrom auftreten können.
Das CYP 3A3/4 metabolisiert nicht nur Methadon, sondern auch einige Benzodiazepine. Dadurch kann es zu einer kompetitiven Hemmung des Enzyms kommen und zu einer konsekutiven Überdosierung [21].
Eine Umstellung auf Buprenorphin ist wahrscheinlich nicht hilfreich, da es keine Veröffentlichungen zum Auftreten einer RBD unter Buprenorphin gibt und es nicht ausgeschlossen werden kann, dass die im Zusammenhang mit einer Methadon-Razemat-Substitution gefundene RBD ein Gruppen-Phänomen der Opiate ist.
Falls die Option der Umstellung auf Buprenorphin dennoch gewählt wird, ist die psychopharmakologisch differierende Wirkung des Buprenorphin aufgrund des andersartigen Rezeptorbindungsverhaltens zu berücksichtigen [21].
Zusammenfassend ist es dringend erforderlich, dass das Phänomen der Methadon-Razemat-assoziierten RBD weiter untersucht und probate Therapiestrategien entwickelt werden. Ferner ist das Vorliegen einer RBD unter Levo-Methadon und Buprenorphin zu verifizieren oder zu falsifizieren.
Klinische Konsequenzen
Klinische Konsequenzen
Das als Arbeitshypothese postulierte Phänomen der Methadonassoziierten RBD muss nicht in jedem Fall therapiert werden, insbesondere wenn keine Symptomatik vorliegt. Die mangelnde Datenlage ist ein ernstzunehmender Hinderungsgrund.
Die klinischen Symptome der Durchschlafstörungen und des depressiven Syndroms können jedoch eine therapeutische Intervention auch bei mangelhafter Datenlage erforderlich machen.
Eine Verordnung von Benzodiazepinen unter Methadonsubstitution kann im Einzelfall indiziert sein als adäquate Therapie einer symptomatischen RBD. Dabei ist besonders auf die Benzodiazepin-Methadon-Interaktion zu achten, die zu einer Überdosierung führen kann.
Von dieser symptomatischen Therapie unterschieden werden muss ein Benzodiazepinmissbrauch bzw. eine -abhängigkeit, die iatrogen nicht unterstützt werden sollte.
Wahrscheinlich sind besondere Rahmenbedingungen der Vergabe sinnvoll, wenn parallel Methadon und Benzodiazepine eingesetzt werden. Dazu sollte gehören, dass die Benzodiazepine in Tagesportionen zusammen mit dem Methadon abgegeben werden und nicht die Vorratspackung bei den Betroffenen lagert. Auch wäre eine längerfristige Take-home-Verordnung nur im Einzelfall sinnvoll.
Eine prophylaktische Benzodiazepinverordnung bei Methadonsubstitution zur Verhinderung einer Symptomatik der RBD kann bei der derzeitigen Datenlage nicht empfohlen werden.
Nachtrag
Nachtrag
Im Rahmen der erwähnten „Bochumer Studie” zeigten sich bei jeweils fast ⅔ der ProbandInnen nach Umstellung von Methadon-Razemat auf Levo-Methadon eine deutliche Verbesserung des Schlafes und einer bekannten depressiven Symptomatik, sowie eine Verbesserung des Antriebs und der Stimmung.
Das Phänomen der Schlafstörung betraf vor allem die Durchschlafstörung mit mehrfachem nächtlichen Erwachen; war sie vorhanden - was nicht bei allen der Fall war -, wurde sie signifikant besser. Dieser Effekt wurde klinisch festgestellt, randomisierte Studien stehen bisher aus [22].