Suchttherapie 2006; 7(2): 64-65
DOI: 10.1055/s-2006-9267
Kasuistik

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Unter Tramadol fühle ich mich wohl

Qualifizierte Entzugsbehandlung bei Tramadolabhängigkeit bei Patienten mit Depression und SomatisierungsstörungTramadol Makes Me Feel WellQualified Withdrawal Treatment for Tramadol Dependence in Patients with Depression and Somatization DisordersR. Zakhalev1 , G. Sander1
  • 1Zentrum Suchtmedizin, Klinikum Wahrendorff GmbH, Sehnde
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Roman Zakhalev, Oberarzt

Zentrum Suchtmedizin, Klinikum Wahrendorff GmbH

Rud.-Wahrendorff-Str. 22

31319 Sehnde

Email: zakhalev@wahrendorff.de

Publication History

Publication Date:
19 May 2006 (online)

Table of Contents #

Zusammenfassung

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Abstract

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Einleitung

Rückenschmerzpatienten zeigen häufig ein angst- und depressionsvermitteltes soziales Rückzugverhalten mit reduzierter Aktivität und verminderter körperlicher Belastbarkeit. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung zeigen Rückenschmerzpatienten signifikant erhöhte Angst- und Depressionswerte. Die betroffenen Personen und häufig auch die behandelnden Ärzte sind auf die Schmerzsymptomatik fixiert.

Um die Symptome zu lindern, werden in erster Linie Schmerzmittel verschrieben, so auch das Opioid Tramadol. Es ist verschreibungspflichtig, unterliegt aber nicht dem Betäubungsmittelgesetz. Bei diesem Medikament handelt es sich um einen teilweisen Agonisten an den µ-Opiatrezeptoren. Ferner wird die präsynaptische Aufnahme von Noradrenalin und Serotonin blockiert, wodurch gleichzeitig eine schmerzstillende und leicht antidepressive Wirkung erzielt wird. Die Entwicklung einer körperlichen und psychischen Abhängigkeit ist eine bekannte, aber unterschätzte Nebenwirkung, obschon sie als Warnhinweis in der Roten Liste geführt wird. Die hier vorgestellte Kasuistik beschreibt die Möglichkeit eines qualifizierten Tramadolentzugs mit medikamentöser Unterstützung durch L-Polamidon und Duloxetin.

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Anamnese und Aufnahmebefund

Die 35-jährige Frau T. kommt zur Aufnahme in Begleitung des Ehemannes nach telefonischer Voranmeldung durch den Hausarzt, der die Patientin zur stationären Therapie motiviert hatte und Tramadol nicht weiter verschreiben wollte. Türkischstämmige Patientin, in Deutschland geboren. Nach dem Realschulabschluss habe Frau K. zwei Jahre eine Lehre als Hauswirtschafterin gemacht, anschließend eine Lehre als Schneiderin, ansonsten habe sie verschiedene Jobs ausgeübt. Seit neun Monaten sei sie Hausfrau. Sie sei verheiratet und habe 2 Kinder im Alter von 8 und 10 Jahren.

Bei der Aufnahme berichtet die Patientin, dass sie „seit Jahren” an Rückenschmerzen leide, trotzdem sei es zu keiner fachärztlichen Behandlung, keiner bildgebenden Diagnostik, Krankengymnastik usw. gekommen. Vor 5 Jahren habe sie von ihrer Mutter, die auch an Rückenschmerzen leide, Tramadol „geschenkt” bekommen. Nach der Einnahme sei es nicht nur zu einer deutlichen Schmerzlinderung, sondern auch zu angenehmen Gefühlen mit Antriebssteigerung und Stimmungsverbesserung gekommen. Ohne Einnahme von Tramadol habe sie sich hilflos und antriebsgemindert gefühlt, nach der Einnahme habe sie sich „sehr wohl” gefühlt. Es sei zur regelmäßigen Einnahme von Tramadol in immer steigernden Dosierungen gekommen, vor Aufnahme in unserem Klinikum bis zu 550 mg Tramadol am Tag. Da sie vom Hausarzt nicht so große Mengen Tramadol verschrieben bekommen habe, habe sie das Medikament auf dem Schwarzmarkt gekauft, bis zu 10 Flaschen auf einmal. Ohne einen ausreichenden Vorrat zu Hause habe Frau K. sich unsicher gefühlt.

Seit einigen Monaten hätten Familienangehörige und der Hausarzt gemerkt, dass Frau K. tramadolabhängig sei und hätten sie damit konfrontiert. Bei dem Versuch, mit dem Tramadolkonsum aufzuhören, seien vermehrtes Schwitzen, Unruhe, Antriebsminderung und Rückenschmerzen aufgetreten. Frau K. habe vom Hausarzt ersatzweise Doxepin verschrieben bekommen, nach vier Wochen habe sie das Medikament aber abgesetzt, da sie darunter sehr schläfrig geworden sei.

Die letzte Tramadoleinnahme (120 mg) sei ca. 1,5 Stunden vor der Aufnahme im Klinikum gewesen. In der Aufnahmesituation imponierte die Patientin durch Unruhe und leichte Antriebssteigerung, war ängstlich, angespannt und unsicher. Sie äußerte die Befürchtung, dass es ihr nach dem Absetzen von Tramadol schlecht gehen würde. Die körperliche Aufnahmeuntersuchung ergab bis auf eine leichte Adipositas einen unauffälligen internistischen und neurologischen Befund.

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Therapieverlauf

In der Anfangsphase wurde eine L-Polamidon-gestützte Entgiftung durchgeführt. In den ersten drei Tagen bekam die Patientin L-Polamidon in absteigender Dosierung (1 ml, 0,75 ml, 0,25 ml). Ab dem zweiten Tag wurde mit einer antidepressiven Behandlung mit Duloxetin angefangen, zuerst mit 30 mg pro Tag, nach 5 Tagen erhöhten wir auf 60 mg. Wir konnten im Verlauf keine vegetative Entzugssymptomatik beobachten. Die Patientin war zuerst deutlich antriebsgemindert und auf ihre körperliche Schmerzsymptomatik fixiert, verlangte oft eine analgetische Bedarfsmedikation (Novaminsulfon). Unter Behandlung mit dem Antidepressivum kam es zu einer langsamen Antriebssteigerung und Verbesserung des allgemeinen Befindens (Appetit, Schlaf, körperliche Aktivität) und zur Abnahme der Schmerzsymptomatik.

Frau T. konnte vollständig am hochstrukturierten Therapieprogramm der Entzugsstation teilnehmen. Sie wurde bei den Therapien zunehmend aktiver. In den Einzel- und Gruppengesprächen konnten wir mit Frau K. über ihr Suchtverhalten sprechen. Zusätzlich konnte die Patientin von einer Einzelkrankengymnastik profitieren. Im Verlauf zeigten sich keine Bewegungseinschränkungen.

Nach der dreiwöchigen stationären Behandlung wurde Frau K. in deutlich stabilisiertem Zustand entlassen. Medikamentös wurde die Einnahme von Duloxetin mit 60 mg pro Tag sowie die Fortführung der Krankengymnastik und die Einleitung einer ambulanten Psychotherapie von uns empfohlen.

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Diskussion

Eine Depression kann außer durch psychische Symptome auch durch körperliche Symptome wie diffuse oder fokussierte Schmerzsymptome in Erscheinung treten. Das in unserem Fall zur Monobehandlung verordnete Schmerzmittel Tramadol wirkt neben der Analgesie über Opiatrezeptoren durch die Hemmung der präsynaptischen Aufnahme von Noradrenalin und Serotonin auch antidepressiv. Wie der exemplarische Verlauf von Frau T. zeigt, können Patienten durch eine gezielte „Antidepressiva-Umstellung” von Tramadol auf das Antidepressivum Duloxetin profitieren. Duloxetin wirkt durch seinen dualen serotonergen und noradrenergen Mechanismus auf die gleichen Rezeptorsysteme wie Tramadol ein. Die Patienten sind über die Gefahr der gleichzeitigen Einnahme von Tramadol und einem serotonerg wirkenden Medikament aufzuklären, da die Interaktion zu einem Serotoninsyndrom führen kann.

Unsere Behandlungshypothese ist, dass sich über die Einnahme des dual wirkenden Antidepressivums Duloxetin ein spezifischer Effekt bei missbräuchlich oder abhängig Tramadol einnehmenden Patienten erzielen lässt, bei denen die Schmerzsymptomatik ein depressiver Affekt begleitet oder ihr zugrunde liegt.

Roman Zakhalev, Oberarzt

Zentrum Suchtmedizin, Klinikum Wahrendorff GmbH

Rud.-Wahrendorff-Str. 22

31319 Sehnde

Email: zakhalev@wahrendorff.de

Roman Zakhalev, Oberarzt

Zentrum Suchtmedizin, Klinikum Wahrendorff GmbH

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Email: zakhalev@wahrendorff.de