Suchttherapie 2006; 7(2): 43-44
DOI: 10.1055/s-2006-926789
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Themenheft „Familie”

Theme of the Issue “Family”M. Klein
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Prof. Dr. Michael Klein

Katholische Fachhochschule NRW, Kompetenzplattform Suchtforschung

Wörthstr. 10

50668 Köln

Email: Mikle@kfhnw.de

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Publication Date:
19 May 2006 (online)

Table of Contents

    Bis vor kurzem galt das Thema Familie in der Politik noch als „Gedöns”. Familienpolitiker und erst recht Familienforscher hatten kaum eine Chance gehört zu werden, geschweige denn Finanzmittel zu akquirieren. Erst die lange Zeit verschlafenen Auswirkungen des demografischen Wandels einerseits und die Folgen der Veränderungen der modernen Familie, insbesondere im Bereich der Problemlagen von Familien, haben Politiker und gesellschaftlich relevante „key persons” aufgeweckt. Diese haben inzwischen eine hektische Betriebsamkeit entwickelt. Wie steht es um das Thema „Familie” in der Suchthilfe und Suchtforschung? Sind dort Parallelen zum gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema zu finden?

    Auch in der Suchthilfe spielte das Thema Familie traditionell eine Nebenrolle. Ein wichtiger Faktor für die bisweilen fast trotzig erscheinende Individualorientierung der Suchthilfe ist natürlich auch die völlige Ausrichtung der Kosten- und Leistungsträger auf Einzelfallbehandlungen - und natürlich auch Einzelfallabrechnungen. Die Finanzierung einiger Stunden für Bezugspersonen ersetzt weder eine paar- noch eine familientherapeutische Behandlung, wie sie in ganz vielen Fällen sicher indiziert ist. Dass hier auch finanzielle und gesundheitsökonomische Ressourcen vergeudet werden, zeigen einerseits mehrgenerationale Studien - wie z. B. die qualitative Studie zur Funktionalität des Substanzkonsums in Familien von Gemeinhardt (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie) in diesem Heft - andererseits Effektivitätsstudien zur Familientherapie und systemischen Therapie, wie sie inzwischen im internationalen Bereich vorliegen. Dazu mehr im Bericht von Schindler & Gemeinhardt vom 2. Heidelberger Kongress zur systemischen Forschung in diesem Heft. Als Konsequenz in Richtung der Gesundheitspolitik und der Kosten- und Leistungsträger ist zu wünschen, dass die Individualgrenzen im Denken und Handeln (und auch in den Abrechnungssystemen) endlich flexibler werden, sodass Paar- und Familienbehandlungen zum Regelangebot in der Suchttherapie, sei es Rehabilitation, Psychotherapie oder Prävention, werden können.

    Trotz des Booms in Bezug auf Familientherapie in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren haben bei genauerer Betrachtung nur sehr wenige familientherapeutische Konzepte nachhaltigen Einzug in den Bereich der Suchttherapie gefunden. Dies liegt allerdings nicht nur am individualtherapeutischen Denken und Handeln der Kosten- und Leistungsträger, sondern auch an dem in der Vergangenheit oft zu rigiden und realitätsfernen Auftreten systemisch orientierter Repräsentanten (z. B. der therapeutischen Ausbildungsinstitute und der Fachverbände).

    Dass familienorientierte Angebote auch auf der Ebene der Gemeinde, der community, vor dem Hintergrund solider psychotherapeutischer Konzepte (wie z. B. operater Verstärkerprogramme) gut realisierbar sind, zeigt der Überblicksbeitrag von Bischof & Freyer (Universität zu Lübeck, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Arbeitsgruppe S:TEP [Substanzmissbrauch: Epidemiologie, Epidemiologie, Prävention]) zur Angehörigenarbeit bei Personen mit substanzbezogenen Störungen, dem so genannten „Community Reinforcement and Family Training” (CRAFT)-Ansatz. Dieses auf den Prinzipien des Community Reinforcement Approach CRA, dt.: dem Gemeindeverstärkungsansatz beruhende Konzept bietet aussichtsreiche Chancen zur kostenschonenden Weiterentwicklung des Suchthilfesystems in Richtung Einbezug des familiären Umfelds. Insbesondere für die schätzungsweise mehr als 1 Million Partnerinnen suchtkranker Männer steht hiermit ein international schon erprobter Ansatz bereit, der auch die oft ungünstigen, weil stigmatisierenden, Effekte des immer noch weit verbreiteten Co-Abhängigkeitskonzepts überwinden helfen könnte.

    Neben den Aspekten der Mehrgenerationalität und der Angehörigen kommt den Eltern und Kindern im Kontext familienorientierter Suchthilfe eine hervorragende Bedeutung zu. Nachdem die Suchttherapie in Heft 03/2001 bereits schwerpunktmäßig das Thema „Kinder von Suchtkranken” behandelt hat, wird dieser Aspekt nun um das Thema Elternschaft ergänzt. In ihrem Beitrag „Sucht und elterliche Stressbelastung: Das spezifische Belastungserleben in der Kindererziehung von alkoholabhängigen Müttern und substituierten opiatabhängigen Müttern” berichten Kröger, Klein & Schaunig (Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Kompetenzplattform Suchtforschung) in diesem Schwerpunktheft von einer Studie mit mehr als 200 Müttern zum Thema Stress in der Erziehung von Kindern, wenn ein Elternteil - hier die Mütter - suchtkrank ist. Es zeigt sich, dass die Mütter insbesondere durch ihr eigenes Selbstbild als unzureichende Mutter mit geringer Kompetenz, starker Isolation und wenig Unterstützung Stress erleiden. Daraus ergibt sich fast automatisch, dass auch in der Suchthilfe die Förderung der Erziehungskompetenz und insbesondere des elterlichen Selbstbildes suchtkranker Mütter eine prioritäre Aufgabe sein muss. Wo dies nicht ausreicht oder gelingt, liegt das Aufgabengebiet der Jugendhilfe, die auch ganz allgemein enger mit der Sucht- und Drogenhilfe kooperieren sollte und vice versa. Das in dem Abschnitt „Buchbesprechungen” in diesem Heft rezensierte Buch von Hinze & Jost mit dem Titel „Kindeswohl in alkoholbelasteten Familien als Aufgabe der Jugendhilfe” liefert einen Einblick in diesen Bereich und gibt insbesondere Handlungsempfehlungen für die sozialpädagogische Arbeit mit betroffenen Familien.

    Es bleibt zu wünschen, dass die Suchthilfe - Therapie, Rehabilitation und Prävention - endlich nachhaltig den Sprung über die Individualgrenzen schafft. Dort, wo es notwenig und hilfreich ist. Dass dies ein wichtiges Grundanliegen der Suchthilfe sein müsste, zeigt der Blick über den Tellerrand. Und der besteht in diesem Fall darin, dass Menschen sich fortpflanzen, sodass Familien und Generationen entstehen. Dass Suchtstörungen in Familien entstehen und weitergegeben werden, sollte nicht nur „Gedöns” oder gebetsmühlenartig vorgetragenes Grundlagenwissen der Suchthilfe, sondern Warnung und konsequenter Handlungsanlass zugleich sein.

    Prof. Dr. Michael Klein

    Katholische Fachhochschule NRW, Kompetenzplattform Suchtforschung

    Wörthstr. 10

    50668 Köln

    Email: Mikle@kfhnw.de

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    Katholische Fachhochschule NRW, Kompetenzplattform Suchtforschung

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