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DOI: 10.1055/s-2006-933436
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Der Beckenboden: Anatomische Grundlagen
The Pelvic Floor: Anatomical BasisPublication History
Publication Date:
20 June 2006 (online)
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Einleitung
Der Beckenboden - ein vernachlässigtes Terrain?
Sowohl im Medizinstudium als auch in der ärztlichen Ausbildung werden dem Beckenboden und den damit verbundenen Erkrankungen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Die geringe klinische Beachtung mag an folgenden Gründen liegen: (1) Die Strukturen sind präparatorisch schwer zugänglich und in ihrer komplexen Lagebeziehung zum knöchernen Becken und zu den Beckenorganen nicht einfach nachvollziehbar. (2) Eine gezielte Diagnostik setzt eine genaue Kenntnisse der Morphologie und Funktion des Beckenbodens voraus; sie hat erst in den letzten Jahren durch verbesserte bildgebende Verfahren und neurophysiologische Untersuchungstechniken eine Standardisierung erfahren. (3) Im Mittelpunkt der klinischen Behandlung beckenbodenbedingter Erkrankungen steht häufig nicht der Beckenboden selber, sondern die durch seine Schwächung provozierte funktionelle und morphologische Beeinträchtigung der darauf gelagerten Beckenorgane. (4) Aufgrund der Tatsache, dass diese Beckenorgane sowohl topographisch als auch funktionell zwar in unmittelbarer Beziehung zum Beckenboden stehen, jedoch in die Domäne unterschiedlichster Fachgebiete fallen, werden Erkrankungen des Beckenbodens und deren Folgen durch Vertreter der Urologie, Gynäkologie, Koloproktologie/Viszeralchirurgie, Gastroenterologie, Physiotherapie oder Dermatologie behandelt - und das häufig mit unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Konzepten.
Diagnostik und Therapie von Beckenbodenerkrankungen stellen somit eine Herausforderung dar, die sich nur durch ein interdisziplinäres Vorgehen Erfolg versprechend bewältigen lässt. Diese Erkenntnis hat in der klinischen Praxis bereits zur Einrichtung von fächerübergreifenden Beckenbodenzentren geführt. Unerlässliche Partner der aufgeführten Fachgebiete sind insbesondere für eine wegweisende Befunderhebung die Radiologie und Neurologie. Im Folgenden soll für alle involvierten klinischen Disziplinen eine Grundlage zum Verständnis der Anatomie des Beckenbodens gegeben werden.
Was leistet der Beckenboden?
Stammesgeschichtlich hat sich der Beckenboden ursprünglich aus der Schwanzmuskulatur der Wirbeltiere entwickelt, von denen einige gar nicht über ein eigentliches Diaphragma pelvis verfügen. Mit dem aufrechten Gang des Menschen und der Kippung des Beckens nach oben veränderten sich jedoch die anatomische Verhältnisse dergestalt, dass die Anforderungen an die untere Abschlussmuskulatur des Rumpfes anspruchsvoller wurden [20].
Der Beckenboden des Menschen ist ein komplexes System aus von Faszien eingescheideten quergestreiften und glatten Muskeln, das die Bauchhöhle nach unten bzw. den knöchernen Beckenring nach innen abschließt. Damit vermittelt der Beckenboden vor allem Halte- und Stützfunktion für die auf ihm lastenden Abdominalorgane. Der Beckenboden gehört zu den wenigen quergestreiften Muskelgruppen des Körpers, die auch in Ruhe über eine ständige Spontanaktivität verfügen und nie vollständig entspannt sind [21]. Histochemisches Korrelat dafür ist das Überwiegen von zwar langsam kontrahierenden, aber unermüdbaren Typ-I-Muskelfasern, die insbesonders innerhalb der Sphinkteren anzufinden sind [2].
Neben der Haltefunktion stellen zwei weitere Leistungen hohe und in gewisser Hinsicht gegensätzliche Anforderungen an den Beckenboden: Einerseits soll ein dauerhafter und vollständiger Verschluss für Enddarm und Harnblase gewährleistet (Stuhl- und Harnkontinenz) sein, andererseits eine kontrollierte und komplette Entleerung derselben Organe ermöglicht werden (Miktion und Defäkation). Beiden Aufgaben trägt die morphologisch-funktionelle Beschaffenheit des Beckenbodens durch ein Zusammenspiel aus unwillkürlichen und willkürlichen Sphinkteren Rechnung.
Darüber hinaus führe man sich vor Augen, dass dem weiblichen Beckenboden während des Geburtsvorganges eine Aufdehnung auf ca. 10 cm Durchmesser aufgezwungen wird, was etwa einer Verzehnfachung der Ausgangsfläche der natürlichen vaginalen Öffnung entspricht. Mit Entwicklung des kindlichen Kopfes werden dabei sämtliche Beckenbodenweichteile nahezu vollständig an die knöcherne Beckenwandung gepresst. Trotz der extremen mechanischen Belastung sollen post partum jedoch wieder möglichst volle Stütz- und Kontinenzleistung erreicht werden. Diese besonderen Fähigkeiten bzw. Ansprüche bedingen u. a., dass sich die Anatomie des Beckenbodens hinsichtlich der Form, Stärke und Innervation bei Frau und Mann deutlich unterscheidet (siehe unten). Entsprechend ist eine Beckenbodeninsuffizienz mit einem Geschlechtsverhältnis von etwa 9 : 1 weit häufiger bei Frauen als bei Männern zu beobachten [8]. Schwächungen des Beckenbodens resultieren vor allem durch mehrfache vaginale Entbindungen, dauerhaftes übermäßiges Pressen (z. B. bei Defäkationsobstruktionen oder chronischer Obstipation), operative Eingriffe im kleinen Becken (z. B. Hysterektomie) sowie bei anlage- oder altersbedingter Insuffizienz des muskulofaszialen Systems [17].
Anatomisch-funktionelle Untersuchungen zum Beckenboden
Wesentliche Beiträge zum Verständnis der funktionellen Anatomie des Beckenbodens stammen vom Chirurgen Friedrich Stelzner, nicht zuletzt aufgrund seiner entwicklungsgeschichtlichen Studien zur vergleichenden Anatomie [20]. Nach Stelzner stellt das im Zentrum des Beckenbodens sitzende anorektale Kontinenzorgan das Zusammentreffen des „viszeralen Individuums” (Mastdarm als letzter Abschnitt des Magendarmkanals) und des „somatischen Individuums” (symmetrisch angelegter Beckenboden) dar - dort, „wo sich glatte und quergestreifte Muskulatur vermählen”. Damit wird verdeutlicht, dass der Beckenboden und seine wesentlichen Funktionen der Kontinenz und Entleerung sowohl einer somatisch-willkürlichen als auch einer viszeral-unwillkürlichen Kontrolle unterliegen. Tradierte Vorstellungen über die Morphologie der analen und urethralen Sphinkteren sowie der Bindegewebsräume des kleines Beckens wurden vor allem von Fritsch et al. [6] mit Hilfe aufwendiger Scheibenplastinationstechniken überarbeitet und teilweise revidiert.
Die Weiterentwicklung und Kombination bildgebender Verfahren erlaubt es mittlerweile, die Anatomie des Beckenbodens in hoher Detailtreue wiederzugeben [22]. Neben der Endosonografie liefern die Computertomographie und insbesondere die Magnetresonanztomographie (MRT) eine hochauflösende Schnittbildanatomie sowie die Möglichkeit einer dreidimensionalen Rekonstruktion aller Beckenbodenetagen. Besondere Bedeutung kommt hierbei der dynamischen bzw. funktionellen MRT zu, mit der sowohl physiologische als auch pathologische Bewegungsabläufe (deshalb auch der Begriff „Cine”-MRT) des Beckenboden und der Beckenorgane in anatomisch wie zeitlich beeindruckender Auflösung abgebildet werden können. Insbesondere bei Beckenbodeninsuffizienz mit Vorfall der Hohlorgane des kleinen Beckens erlaubt die dynamische MRT eine nachvollziehbare Darstellung aller beteiligten Beckenkompartimente und verschafft dadurch ein anatomisch-funktionelles Verständnis für den klinischen Befund [9] [11] [19].