Der Klinikarzt 2006; 35(2): XIII
DOI: 10.1055/s-2006-933588
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Wirkung über drei Monate - Die Spastizität lockern, bevor Umbauprozesse beginnen!

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Publication Date:
23 February 2006 (online)

 
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Die Folgen einer Spastizität für den Betroffenen sind dramatisch: Relativ schnell beginnen sich Sehnen und Muskeln zu verkürzen, dem Patienten drohen Kontrakturen, knöcherne Umbauvorgänge sowie Infektionen. Alle diese Vorgänge gehen auch mit heftigen Schmerzen einher. Insgesamt verändert eine Spastik die gesamte Persönlichkeit eines Menschen, seine Umweltwahrnehmung und Umfeldinteraktion, berichtete Prof. H. Hefter, Düsseldorf, auf der 23. Arbeitstagung für Neurologische Intensiv- und Notfallmedizin (ANIM) in Regensburg. Die Person wird demontiert, das normale Leben gerät voll in den Hintergrund. Nur eine konsequente, effektive und nachhaltige Behandlung kann verhindern, dass die Spastizität sich zu diesem fatalen Prozess entwickelt.

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Der Spastik frühzeitig und lang anhaltend entgegenwirken

Physio- und Ergotherapie spielen eine wichtige Rolle, um die Funktionalität zu verbessern, die Wirkung aber hält meist nicht längerfristig an. Orale Antispastika eignen sich vor allem bei generalisierten Spastiken, erweisen sich jedoch oft als nur eingeschränkt effektiv. Was man benötigt, wenn andere Mittel nicht zum Ziel führen, ist Botulinumtoxin, erläuterte Hefter, das man in der Muskulatur des gesamten Körpers einsetzen kann. Botulinumtoxin reduziert den pathologischen Muskelzug, es lindert die Schmerzen und verringert die Gefahr von Infektionen.

Mit einer Injektion Botulinumtoxin bessert sich die Funktionalität bis zu drei Monate lang. "Wenn es gelingt, eine stark gebeugte Hand so zu strecken, dass der Betreffende sich wieder abstützen kann, ist schon viel gewonnen," sagte Hefter. Botulinumtoxin wird intramuskulär appliziert und verursacht nahezu keine systemischen Nebenwirkungen. Dadurch eignet es sich zur Kombination mit allen anderen Therapien, die zum Teil erst so voll wirksam werden.

Therapeutisch wirksamer Bestandteil von Botulinpräparationen (BT) ist das Botulinum-Neurotoxin. Es unterbindet die Freisetzung von Acetylcholin an der neuromuskulären Synapse, erläuterte PD D. Dressler, Rostock. Dressler bezeichnet die Substanz auch als reversiblen Neuromodulator, da keine Neurone zerstört werden. Die paralytische Wirkung setzt nach drei bis fünf Tagen ein. Alle Botulinumtoxinpräparate, ganz gleich ob vom Typ A oder Typ B, zeichnen sich durch gute Gewebsverträglichkeit und das Fehlen einer systemischen Toxizität aus.

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Ein immunologisch besonders reines Botulinumtoxin

Dennoch bestehen deutliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Präparaten. Substanzen vom Typ B neigen verstärkt zu systemischen anticholinergen Nebenwirkungen. Darüber hinaus weist der Typ B möglicherweise eine höhere Antigenität auf als Typ A. Diese Bildung neutralisierender Antikörper gegen das Botulinum-Neurotoxin ist eines der größten Probleme der Therapie mit Botulinumtoxin. Denn sie führt zum partiellen oder kompletten Verlust der Wirkung dieser ansonsten hocheffizienten Behandlung. "Auch wenn dieses Problem insgesamt nicht so häufig auftritt, kann es im Einzelfall eine Katastrophe bedeuten, wenn die einzig wirksame Therapie der spastischen Syndrome dauerhaft verloren geht," erklärte Dressler.

Günstige Voraussetzungen für eine besonders niedrige Antigenität bestehen bei Xeomin®, einem Präparat vom Typ A, das im Sommer vergangenen Jahres zugelassen wurde. Diese Botulinumtoxinpräparation besitzt eine im Vergleich zu anderen erheblich gesteigerte spezifische biologische Aktivität und damit eine hohe immunologische Qualität. Deshalb dürfte die Gefahr der Antigenität bei dieser Substanz gering sein. Erstmals gelang es hiermit, nichttoxische Proteine abzutrennen und ein reines Botulinum-Neurotoxin Typ A herzustellen, was sich ebenfalls positiv auf die längerfristige Antigenität auswirken dürfte, war Dressler überzeugt.

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Auch bei kraniopharyngealen Spastiken unverzichtbar

Prof. P.W. Schönle, Magdeburg, behandelt seit einigen Jahren in der neurologischen Intensiv-Rehabilitation schwersthirngeschädigte Patienten mit kraniopharyngealen spastischen Syndromen. Zähneknirschen (Bruxismus), Kieferklemme (Trismus) und die spastische Zungenprotrusion mit Deformierung der Zähne stellen das Personal vor große Probleme bei der Ernährung der Patienten und bei der Mundhygiene. "Da es an Alternativen in der Behandlung fehlt, spielt Botulinumtoxin auch bei uns eine bedeutende Rolle," erklärte Schönle. In Verbindung mit funktionellen Verfahren fällt es sehr viel leichter, die Probleme in den Griff zu bekommen und Hypersalivation, Kau- und Schluckstörungen sowie Lippen- und Zungenmutilation zu verringern.

Botulinumtoxin lässt sich nicht nur effektiv und sicher in der lokal-fokalen Behandlung von Dystonien und Spastiken einsetzen. Dr. Chr. Kabus, Berlin, sieht auch die Anwendung als Rescuetherapie in akut bedrohlichen Situationen. Als Beispiele nannte er den Lagophthalmus, einen dystonen Stridor oder eine Dysphagie bei extremem Retrocollis. "Beides lässt sich mit Botulinumtoxin besser bewältigen", meinte Kabus.

Außerdem kann Botulinumtoxin seiner Meinung nach perioperativ eine wichtige Rolle spielen, wenn es erforderlich wird, einen akuten Circulus vitiosus aus Spastik, Fehlstellung und Schmerz zu durchbrechen.

Martin Bischoff, Planegg

Quelle: Satellitensymposium "Botulinumtoxin A bei intensivneurologischen Problemen in der Rehabilitation", veranstaltet von Merz Pharmaceuticals GmbH, Frankfurt/ Main