Die erste Beschreibung der Tuberkulose des Rindes[1] (Perlsucht[2], Hirsesucht, auch Franzosenkrankheit[3] [1]) findet sich bei Maimonides im 12. Jahrhundert, relativ spät, wenn man bedenkt, dass die Tuberkulose beim Menschen seit dem Neolithikum nachgewiesen ist, bei Tieren (Schweinen) erstmals von Aristoteles beschrieben wurde [2]. Ursachen hierfür sind, dass die Tuberkulose nicht bei primitiven Rinderrassen, sondern erst bei den Kulturrassen (Stallhaltung, also bei engem Kontakt) auftritt und dass die Rindertuberkulose nicht nur als Lungenphthise, sondern eher als Tuberkulose des Euters auffällt und dann der Zusammenhang mit der Lungenphthise nicht leicht erkennbar ist. [3]
Um 1700 galt die Perlsucht ([Abb. 1]) allerdings schon als eine durchaus häufige Krankheit der Rinder, mit weiterer deutlicher Zunahme in den nächsten Jahrzehnten. Diese Zunahme war nur zum Teil real, sie ist auch durch genauere Untersuchungen der Tiere vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet.[4] 1890 waren im Deutschen Reich 25 % der Rinder perlsüchtig, 15,7 % der geschlachteten Rinder tuberkuloseverseucht.[5] [1] 1901 reagierten 80 % der Rinder tuberkulinpositiv.[6] [3]
[4] Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Befunde muss nicht eigens betont werden [5]: die Rindertuberkulose bedeutete nicht nur eine Infektionsquelle für den Menschen, vielmehr ließen die Tiere infolge ihrer Krankheit in ihrer Milch- und Fleisch-Produktion nach und konnten auch frühzeitig eingehen.[7]
Abb. 1 Perlsucht.
Abb. 2 Informationsblatt zur Bekämpfung der Rindertuberkulose.
Eine ausführliche Beschreibung der Rindertuberkulose findet sich bei Fürst [3], Francis [10] und vielen anderen. Der tuberkulöse Primärherd entsteht auch bei Rindern zu 90 % in der Lunge; die Infektion der Tiere erfolgt also in erster Linie aerogen, durch infektiöse, „offene” Tiere im gleichen Stall (oder durch den Menschen). Erst durch weitere Ausbreitung der Krankheit im infizierten Tier entstehen andere Organtuberkulosen; als infektiös gelten die der Gebärmutter, des Darmes und vor allem des Euters. [11]
Die Tuberkulose des Euters entsteht also hämatogen, in der Regel von einer primären Erkrankung der Lunge ausgehend. „Jede Tuberkulose, von der das Eutergewebe ergriffen ist, ist als offene Form der Tuberkulose zu betrachten.”, „Die Diagnose der Eutertuberkulose kann klinisch als gesichert angesehen werden, wenn ein Euterviertel und die zugehörige Euterlymphdrüse schmerzlose, nicht höher temperierte, feste, derbe, knotige Anschwellungen aufweisen.” [11]
Die Rindertuberkulose ist in Deutschland eine anzeigepflichtige Tierseuche. Heilversuche sind verboten. [12]
Im Rahmen seiner jahrelangen Tuberkuloseforschungen konnte Robert Koch die tuberkulöse Ätiologie der Rindertuberkulose aufdecken. Von mehreren Forschern wurden Befunde zusammengetragen, nach denen die Tuberkulose bei Mensch und Rind durch zwei nahe verwandte Erreger, zwei verschiedene Typen des Mykobakterium tuberculosis, verursacht wurde: den Typus humanus und den Typus bovis oder bovinus. ([3] S. 66; 13, S. 40) Koch sagte in seinem bekannten Vortrag 1882 [14]:
„Eine andere Quelle der Tbc. bildet unzweifelhaft die Tbc. der Haustiere, in erster Linie die Perlsucht. Damit ist auch die Stellung gekennzeichnet, welche die Gesundheitspflege in Zukunft gegenüber der Frage nach der Schädlichkeit des Fleisches und der Milch von perlsüchtigen Tieren einzunehmen hat. Die Perlsucht ist identisch mit der Tuberkulose des Menschen und also eine auf diesen Menschen übertragbare Krankheit.”
Eine Tuberkulose-Erkrankung des Menschen durch Mykobakterium tuberculosis Typ bovinus zeigt das gleiche Krankheitsbild wie eine durch den Typ humanus; eine Unterscheidung ist lediglich mithilfe der Typenbestimmung möglich. Die Rindertuberkulose ist üblicherweise zwischen Menschen nicht infektiös. Der Erreger muss also vom Tier (Rind) stammen und wird überwiegend durch den Genuss bakterienhaltiger Milch übertragen. [7]
[16]
[17] Der Primärherd findet sich beim Menschen demnach nicht in der Lunge, sondern im Intestinum.
Später konnte Koch nachweisen, dass bei entsprechenden Versuchen eine Tuberkuloseinfektion des Rindes durch menschliche Tuberkulose-Erreger (Typus humanus) nicht möglich sei und dass eine humane Tuberkulose trotz häufigen Genusses infizierter Milch (Typus bovinus) selten auftrete. Hieraus schloss er, im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Auffassung, „… dass die menschliche Tuberkulose von der Rindertuberkulose verschieden ist …”, „dass die schädliche Wirkung der Perlsuchtmilch und ihrer Produkte auf den Menschen nicht erwiesen ist”, und dass es nicht vorrangig sei, „irgendwelche Maßnahmen dagegen (gegen die Perlsucht)
[8]
zu ergreifen”. [18]
[19] Dieser Einschätzung wurde vehement widersprochen, sie wurde in der Folge widerlegt. [20]
[21]
[22]
[37]
Die außerordentlich umfangreiche wissenschaftliche Beschäftigung mit der Tuberkulose vor allem im Anschluss an die Kochsche Entdeckung des Tuberkulose-Erregers im Jahre 1882 führte zu einer intensiven gegenseitigen Befruchtung und Zusammenarbeit zwischen Veterinär- und Human-Medizin. So wurde die diagnostische Nutzung der Tuberkulinprobe bei Rindern schon vor der Jahrhundertwende 1900 beschrieben [3]
[5]
[11]; die Tuberkulintestung war damals das einzige sichere diagnostische Verfahren. [6] Über falsch positive und falsch negative „Tuberkulinreaktionen” wurde berichtet, eine staatliche „Kontrolle der Keimfreiheit und der Bestimmung der Wertigkeit” der im Handel befindlichen Tuberkuline gefordert. [5] Gestritten wurde über deren Anwendung, ob subkutan oder intravenös (!). Insgesamt schälte sich die intrakutane Tuberkulinprobe als diagnostische Methode der Wahl heraus.
Im Vordergrund aller Bestrebungen zur methodischen Bekämpfung der Rindertuberkulose, als deren Begründer Bernhard Bang anzusehen ist, standen bei der Häufigkeit der Krankheit natürlich die Bemühungen, die Rindertuberkulose auszumerzen. [22] Um 1900 standen sich zwei Vorschläge hierzu gegenüber. Von Ostertag forderte die einmal jährliche klinische Untersuchung aller Rinder sowie die Erfassung und Tötung der Bakterienausscheider (das „von Ostertagsche”, das „deutsche Verfahren” [11]
[15]). Hingegen waren die Forderungen Bangs wesentlich radikaler. Er forderte („Bangsches Verfahren” [15]
[23]):
-
Tuberkulinisierung des gesamten Rinderbestandes
-
Getrennte Haltung tuberkulinpositiver und -negativer Tiere sowie Ausschaltung der ersteren von der Milchproduktion[9] und ihre allmähliche Tötung
-
Vollständige tuberkulosefreie Aufzucht der Kälber
-
Regelmäßige Kontrolltuberkulinisierung der gesamten Herde [24].
Auf getrennten Experimenten Bangs, Kochs und von Behrings beruhende Versuche, die Rinder mittels Applikation von Tuberkulosebakterien oder Tuberkulin gegen die Tuberkulose zu immunisieren, also zu impfen, waren nicht erfolgreich. [25]
[26]
[27].
Verschiedene Möglichkeiten, die Milch keimfrei zu machen,[10] wurden erprobt, so die Anwendung ultravioletten Lichtes, chemischer Substanzen, vor allem die Pasteurisierung der Milch durch Erhitzen. [13] Diese Methode war nicht unbestritten; man fürchtete den Verlust an Vitaminen und sonstigen wertvollen Inhaltstoffen. [15] Erst seit 1947 musste die verkaufte Milch in Deutschland pasteurisiert sein.[11] [28]
Hinzu kamen staatliche Maßnahmen; dies beweist die Bedeutung und Dringlichkeit der Bekämpfung der Rindertuberkulose schon aus damaliger Sicht. Hier ist als erstes das Reichsviehseuchengesetz vom 26. Juni 1906 zu nennen.[12] In ihm wurde für bestimmte Formen der Tuberkulose die Anzeigepflicht eingeführt. Kennzeichnung und Absonderung der Tiere sowie Behandlung bzw. Verwendungsverbot der Milch wurden geregelt. Rinder mit „offener” Tuberkulose, d. h. äußerlich erkennbarer Erkrankung, wurden seit 1912 getötet. [22]
[29]
Gemäß der „Kaiserlichen Verordnung über die Hauptmängel und Gewährsfristen im Viehhandel” vom 27. März 1899 wurde die Tuberkulose als Gewährsmangel im Lebendviehhandel und als Hauptmangel beim Handel mit Schlachttieren eingestuft, wenn die Tuberkulose eine allgemeine Beeinträchtigung darstellte bzw. das Tier nur bedingt als Nahrungsmittel für den Menschen geeignet war. Vergleichbare Bemühungen gab es natürlich auch in anderen Ländern. [42]
Alle diese Bemühungen waren nur teilweise, nur ungenügend erfolgreich. So wurden noch 1936 in Preußen in 45 945 Beständen 412 184 Rinder einem Tuberkulintest unterzogen. Von ihnen reagierten 128 900 Tiere positiv (31,27 %). [29]
In bis zu 35 % der untersuchten Milchproben ließen sich Tuberkulosebakterien finden, in bis zu 18 % auch in pasteurisierter Milch. ([18]
[30]; s. 7) (Unklar bleibt bei der zweiten, erschreckenden Prozentzahl, ob es sich um lebende oder schon abgetötete Tuberkulosebakterien handelte.)
Die Rindertuberkulose war weiterhin eine bedeutsame Infektionsquelle für den Menschen. Nach Möllers [21] waren 10,21 % von über 93 000 menschlichen Tuberkulose-Erkrankungen der Jahre 1928 - 1952 durch den Typus bovinus verursacht; hieran starben jährlich etwa 1000 Menschen. Von den Neu-Erkrankungen an Tuberkulose des Jahres 1949 erkrankten 10 % durch den Typus bovinus, von denen 1800 Patienten starben [4]. 1954 wurde bei 12,5 % an Tuberkulose Erkrankter der Typus bovinus gefunden. [28] Etwa 50 % der Kindertuberkulosen waren durch den Typus bovinus bedingt, [4]
Ähnliche Erfahrungen wurden auch in anderen Ländern gewonnen. [1]
[7]
[28]
[31]
[32] Im Jahre 1934, vor Beginn der dortigen systematischen Bekämpfung (Verfahren nach Bang), ermittelte die schweizerische Fleischbeschaustatistik bei einheimischem Schlachtvieh, dass 23,8 % der Kühe von Tuberkulose befallen waren. [33] Die jährlichen Schäden durch die Rindertuberkulose wurden für 1937 auf 350 Millionen Reichsmark beziffert. [29]
Langsam wurde in Deutschland einsichtig, dass alle bisherigen Maßnahmen der vergangenen fünf Jahrzehnte, vor allem Impfungen und die Ausmerzung der an fortgeschrittener Tuberkulose leidenden Rinder („von Ostertagsches Verfahren”)[13], ungenügend waren und nur ein radikales Vorgehen erfolgreich sein könne. [34] Mit dem „Bangschen Verfahren” hatten die skandinavischen Länder, Großbritannien und die USA schon vor dem Zweiten Weltkrieg gute Erfahrungen gesammelt. [28] Dass man sich in Deutschland erst spät, nach dem Zweiten Weltkrieg, zu diesem Vorgehen entschloss, hatte unter anderem wirtschaftliche Gründe; außerdem hatte man zu große Hoffnungen auf die Sterilisierung der Milch gesetzt. [15]
1952 begann man in der Bundesrepublik mit einem freiwilligen, staatlich gelenkten und staatlich anerkannten Procedere gemäß der Methode nach Bang, die Rindertuberkulose zu tilgen. Voraussetzung eines solchen konzertierten Vorgehens waren gesetzliche Regelungen, die den einzelnen Bundesländern zukamen.[14]
Alle Rinder wurden in etwa dreijährigem Rhythmus tuberkulingetestet; dies geschah durch intrakutane Applikation (Testung nach Mendel-Mantoux) ([Abb. 3]) zweier Tuberkuline, „Rindertuberkulin-PPD für Tiere” (Mykobakterium bovis) und „Geflügel-PPD für Tiere” (Mykobakterium avium; Test zur Feststellung der Tuberkulose beim Geflügel und zur Durchführung der vergleichenden Tuberkulinprobe beim Rind) ([Abb. 4]). Eine Rindertuberkulose wurde angenommen, wenn der erstgenannte Test deutlich stärker positiv ausfiel als der zweite [41]. Die tuberkulinpositiven Rinder wurden von den gesunden separiert und geschlachtet („Bangsches Verfahren”; siehe oben).
Abb. 3 Intrakutane Tuberkulintestung nach Mendel-Mantoux beim Rind.
Hinzu kamen flankierende Maßnahmen:
-
Teilweise staatliche finanzielle Hilfen,
-
Bessere Bezahlung der Milch aus tuberkulosefreien Beständen,
-
Die Möglichkeit, ein Schild „Tuberkulosefreier Rinderbestand” oder „Staatlich anerkannter tuberkulosefreier Bestand” außen am Stall anzubringen ([Abb. 5]).
Abb. 4 Zur Tuberkulintestung verwendete Tuberkuline mit Spritze.
Erinnerungen eines betroffenen Landwirts (F. H.)
„Seit Anfang der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden meine Milchkühe in dreijährigem Rhythmus von vereidigten Veterinären („Tierwert-Testern”, „Tuberkulinisierungs-Ärzten”) tuberkulinisiert (tuberkulingetestet). Dies geschah etappenweise, pro Jahr kam ⅓ des Bestandes an die Reihe. Die Testung erfolgte an der rechten oder linken Schulter des Rindes als Einspritzung der Tuberkuline mittels einer speziellen Spritze in die Haut. Vor und 72 Stunden nach Anlegen des Testes wurde die Hautdicke im Testbereich mit einem besonderen Gerät (wie eine Schublehre) gemessen. Nicht eindeutige Ergebnisse wurden sechs Wochen später nachgetestet.
Tuberkulinpositive Rinder wurden isoliert und gekeult (geschlachtet). Dieser Prozess wurde auf mehrere Jahre verteilt, um wirtschaftliche Schäden, welche trotz der staatlichen Unterstützung nicht zu vermeiden waren, in Grenzen zu halten. Denn ein größerer Teil des Rinderbestandes ging auf diese Weise verloren; es dauerte Jahre, bis er seinen früheren Stand wieder erreichte.
Anschließend konnte der Bauernhof die Bezeichnung „tuberkulosefrei” führen. Tuberkulin-Nachtestungen erfolgten in dreijährigem Turnus bis 1997.”
Diese Aktion kostete bundesweit etwa zwei bis zweieinhalb Milliarden D-Mark. [4] Durch sie gelang es, die Tuberkulose der Rinder auszurotten. Innerhalb weniger Jahre ging die Inzidenz der Rindertuberkulose dramatisch zurück, nur Einzelfälle wurden noch diagnostiziert ([Tab. 1]). Zu Beginn der staatlichen Tuberkulose-Bekämpfungskampagne im Jahre 1952 waren nur ca. 10 % aller Betriebe mit ca. 9 % aller Tiere anerkannt tuberkulosefrei. Fünf Jahre später war der Anteil bereits auf 74 % gestiegen. Ende 1961, als das Eradikationsprogramm beendet wurde, waren es ca. 99,7 % aller Betriebe mit 99,6 % aller Tiere. [12] Zahlen aus einem großen bakteriologischen Labor über die Häufigkeit des M. bovis-Nachweises zwischen 1973 und 2001 enthält die [Tab. 2]. [35]
Tab. 1 Inzidenz (Neuerkrankungen) an Rindertuberkulose (Befallene Gehöfte pro Jahr) 1990 - 2002 [Bundesrepublik Deutschland, Tierseuchenberichte - Jahresstatistik, Inzidenz]
Jahr | Gehöfte |
1990 | 12 |
1991 | 5 |
1992 | 5 |
1993 | 7 |
1994 | 14 |
1995 | 6 |
1996 | 9 |
1997 | 6 |
1998 | 2 |
1999 | 2 |
2000 | 4 |
2001 | 4 |
2002 | 4 |
Tab. 2 Untersuchungsfrequenz und Anzahl der gefundenen M. bovis-Stämme 1973 - 2001 [35]
Periode | Zahl der untersuchten Proben | Zahl der M. bovis-Stämme |
1973 - 1977 | 86 300 | 74 |
1978 - 1982 | 81 400 | 32 |
1983 - 1987 | 52 900 | 11 |
1988 - 1992 | 37 000 | 9 |
1993 - 1997 | 42 900 | 6 |
2000 | 6569 | 1 |
2001 | 6137 | 3 |
Ab 1962 galt die Rindertuberkulose in Deutschland als ausgerottet, besiegt, wie auf der Grünen Woche am 27.01.63 bekanntgegeben wurde. [4] 1977 befand die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Bundesrepublik für frei von Rindertuberkulose.[15] Die DDR machte eine ähnliche Prozedur durch. Sie galt seit 1978 amtlich als tuberkulosefrei. Nach der Wiedervereinigung wurde die gesamte Bundesrepublik 1997 von der WHO endgültig als frei von Rindertuberkulose erklärt. [36]
In der Ausrottung der Rindertuberkulose ist die Bewältigung eines gesundheitlichen Problems allerersten Ranges zu sehen.
[39]
[40]
Abb. 5 Schild „Tuberkulosefreier Rinderbestand”.
Abb. 6 Dr Hl. Georg. Motivbild zur Tuberkulosebekämpfung.