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DOI: 10.1055/s-2006-944828
Haftungsrechtliche Bedeutung von Leitlinien
Publication History
Publication Date:
08 December 2006 (online)


Kernaussagen
Zusammenfassend ist die haftungsrechtliche Bedeutung der Leitlinien also wie folgt zu umschreiben: Wenn sie den medizinischen Standard zum Zeitpunkt der Behandlung widerspiegeln, sind sie „grundsätzlich” im Sinne von „Ausnahmen vorbehalten” zu befolgen.
Erste Voraussetzung für eine Bindungswirkung der Richt- und Leitlinien ist also immer ihre inhaltliche Identität mit dem „Facharztstandard” bzw. „Stand der Wissenschaft”, zweite Voraussetzung, dass im konkreten Einzelfall ein Abweichen hiervon weder geboten noch zu begründen ist. Sollte dieser Sonderfall vorliegen, müssen die dafür maßgeblichen Umstände zur Vermeidung von Haftungskonsequenzen sorgfältig dokumentiert werden.
Die Erstellung von Richt- und Leitlinien hat aus der Sicht des Haftungsrechts die ärztliche Therapiefreiheit, d. h. „die Kompetenz des Arztes, die im Einzelfall ihm geeignet erscheinende diagnostische oder therapeutische Methode auszuwählen” [19], unangetastet gelassen und ihm dadurch - zusammen mit der Patientenautonomie - einen ärztlichen Handlungsspielraum für die verantwortliche Therapiewahl bewahrt, „unabhängig von der Fessel normierender Vorschriften” und fachlicher Empfehlungen. Für den Regelfall darf der Arzt, nach pflichtgemäßem und gewissenhaftem Ermessen, im Einzelfall mit seinen Eigenheiten diejenigen medizinischen Maßnahmen wählen, die nach seiner Überzeugung unter den gegebenen Umständen den größtmöglichen Nutzen für den Patienten erwarten lassen.
Das gilt im Grundsatz auch unter dem Diktat der knappen Kassen, d. h. unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Erwägungen. Wenn die Ressourcen und Einrichtungen nicht mehr für alle akut hilfsbedürftigen Patienten zugleich ausreichen, wenn nach Ausschöpfung der Finanzierungs- und Wirtschaftlichkeitsreserven auch bei bester Organisation bestimmte Leistungen nicht vorgenommen werden können und bestimmte erfolgversprechende Diagnose-, Therapie- und Hygienemaßnahmen unterbleiben müssen, reduziert sich allerdings der geltende Haftungsmaßstab bis hin zu einer unverzichtbaren Basisschwelle, die das Recht unter Sicherheitsaspekten bestimmt.
Insoweit trifft in erster Linie die Medizin eine Darlegungs- und Rechtfertigungslast, dass sie trotz aller Rationalisierungsbemühungen zu dieser Herabstufung des Standards gezwungen ist.
Vor allem die ärztlichen Gutachter dürfen daher nicht medizinische Idealstandards der Beurteilung der erforderlichen und zumutbaren Sorgfalt des Arztes zugrunde legen. Vielmehr müssen sie viel stärker als dies bislang geschieht, die durch die Einsparzwänge und Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen sich ergebenden Einschränkungen des Standards Richtern, Staatsanwälten, Rechtsanwälten und Verteidigern deutlich machen.
Insbesondere sind auch frühere Empfehlungen, Leitlinien, Richtlinien und andere Regelungen unter dem Aspekt der unabweisbaren finanziellen Grenzen zu überdenken und neu zu bewerten. Die Knappheitsfolgen dürfen jedenfalls nicht zu Lasten von Krankenhäusern, Ärzten und Pflegekräften gehen und ihre persönliche Haftung begründen.
Allerdings muss stets die durch das erlaubte Risiko markierte Standarduntergrenze eingehalten werden, die das Haftungsrecht im Interesse von Schutz und Sicherheit des Patienten unerbittlich zieht. Denn „keine zur Erfüllung des Heilauftrags wirklich indizierte Maßnahme” darf „um der Kosten willen als unwirtschaftlich abgelehnt” [20] werden. Es darf also keine ärztliche Maßnahme durchgeführt werden, deren Risiko als nicht mehr hinnehmbar anzusehen ist.
Alle Empfehlungen, alle Richtlinien und Leitlinien sollten deshalb auf die haftungsrechtlichen Folgen der Ressourcenknappheit hinweisen.