Notfall & Hausarztmedizin 2006; 32(7): 354
DOI: 10.1055/s-2006-948108
Blickpunkt

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Fundiertes Wissen für Rettungskräfte - Qualifizierte Hilfe bei Lkw-Unfällen

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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
08. August 2006 (online)

 
Inhaltsübersicht

Im schwärzesten Jahr der deutschen Unfallgeschichte, 1970, starben 19200 Menschen auf den Straßen der Bundesrepublik. Dass diese Zahl bis Ende 2004 auf 5800 gesenkt werden konnte, hat vielfältige Ursachen. An erster Stelle nennen die Unfallforscher eine bessere Fahrzeugtechnik. An zweiter Stelle folgt eine bessere Notfallversorgung.

Im Vergleich zu Pkw-Unfällen ist die Rettung von Personen aus Lastwagen viel aufwändiger. Die stabilere Konstruktion sowie die deutlich größeren Abmessungen der Fahrzeuge machen die Rettung eingeklemmter Personen schwieriger und komplizierter. Fahrerhauskabinen erreichen eine Höhe bis 3,70 Meter. Die Sitzflächenhöhe reicht bis zwei Meter. Besonders bei Frontlenker- Fahrgestellen ist der Fahrer aufgrund der fehlenden Knautschzone und der bei einem Lkw-Unfall auftretenden großen Energien stark gefährdet. Auffahrunfälle sind im Lkw-Bereich die weitaus überwiegende Unfallart. Oft ist der Fahrer nach einem Unfall eingeklemmt.

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Motor abstellen und Brandgefahr vermeiden

Nach Absicherung der Unfallstelle geht es in erster Linie darum, den eingeklemmten Fahrer zu befreien. Nicht selten läuft nach einem Unfall der großvolumige Dieselmotor weiter. Wenn man in zwei Meter Höhe bei einer deformierten Kabine nicht an den Zündschlüssel herankommt, kann auch die Fahrzeugbatterie abgeklemmt werden. Einigen Fahrzeugen könnte das Abklemmen der Batterie ein Absenken der pneumatisch verstellbaren Sitze verursachen, was bei dem Verletzten weitere Verletzungen nach sich ziehen könnte. Außerdem gilt es einige Sicherheitshinweise im Umgang mit Autobatterien zu beachten - von der Verätzungsgefahr bis hin zum Knallgasgemisch, Funkenbildung durch elektrostatische Entladung oder Kurzschlüssen und Brandgefahr. Gefahrgutfahrzeuge sind daher mit zwei manuellen Not-Aus-Schaltern ausgerüstet: Im Cockpit und hinter dem Fahrerhaus auf der Beifahrerseite.

Eine bessere Methode, den Motor zum Schweigen zu bringen ist, ihm CO2 in die Luftansaugung zu blasen. Dazu braucht man einen oder vielleicht auch zwei CO2-Feuerlöscher. Der Motor erhält nicht mehr genug Sauerstoff und geht aus.

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Erstzugang zum Verletzten

Die Bergung des Verletzten aus zwei Metern Höhe ist nicht einfach. Hat das Fahrerhaus eine Luftfederung, kann die Luft abgelassen werden. Man kann auch die Luftleitungen zum Federbalg durchtrennen oder mit einer spitzen Stange in den Luftfederbalg stechen. Allerdings können durch den hohen Luftdruck Teile umherfliegen. Das gilt auch beim Durchstechen der Reifen, was zudem später den Abtransport des Fahrzeugs erschwert. Da der Verletzte auch hier beim unkontrollierten Absenken des Fahrzeugs weitere Verletzungen erleiden kann, sollten besser die Ventilverschlüsse abgeschraubt werden.

Wenn sich die Fahrertür infolge der Deformation nicht mehr öffnen lässt, wird mit schwerem technischem Gerät, wie hydraulischem Spreizer und Rettungsschere der Einstieg geöffnet. Auch hier gilt es einige Details zu beachten, um unnötige Bewegungen der Kabine zu verhindern.

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Scheiben entfernen und Tür sichern

Bei Arbeiten an angrenzenden Bauteilen müssen die Scheiben entfernt werden. Scheiben können platzen und zu Verletzungen der Insassen und der Helfer führen. Schnittkanten müssen abgedeckt und vor dem Anlegen einer Steckleiter Scheibenreste auf der Fahrbahn entfernt werden. Um die Splitterwirkung einzugrenzen, hat sich die Methode mit dem Paketbandroller und dem flächendeckenden Abkleben der Scheibe gut bewährt. Bevor man sich Zugang über die Fahrertür verschafft, müssen alle Scheiben der Tür und an angrenzenden Bauteilen entfernt werden. Die Lkw-Tür hat ein sehr hohes Eigengewicht (ca. 80 kg) und muss mit einer Leine gegen Absturz gesichert werden.

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Wegdrücken der Frontpartie

Zur Befreiung einer eingeklemmten Person muss in den meisten Fällen der Raum zwischen der Brüstung (Instrumententräger, Lenkeinheit, Pedale) und dem Sitz erweitert werden. Um die Frontpartie nach vorn drücken zu können, sind Entlastungsschnitte in der Fahrerhauskarosserie notwendig. Der erste Schnitt erfolgt an der A-Säule im oberen Drittel, der zweite sollte im Schweller zwischen A- und der B-Säule erfolgen. Danach wird der erste Rettungszylinder zwischen A- und B-Säule in Höhe des Armaturenbrettes angesetzt.

Ein neuer Leitfaden für Rettungsdienste im Bereich Lkw soll dem Rettungsdienst bei der Einsatztaktik unterstützend zur Seite stehen. Einsatzkräfte können den Rettungsleitfaden für Lkw und auch Pkw im Internet kostenlos herunterladen unter: www.mercedes-benz.de/rettungsleitfaden

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Vorsicht: Airbag!

Hat das Airbagsystem nach einem Unfall ausgelöst, besteht für den Verunglückten und das Rettungspersonal keine Gefahr mehr. Hat er nicht ausgelöst, können bei nicht abgeklemmter Batterie harte Schläge im Bereich des Fahrersitzes oder das Durchtrennen elektrischer Leitungen oder gar der Lenksäule den Airbag auslösen. Dabei können lose Gegenstände oder Glassplitter umhergeschleudert werden. "Schutzvorrichtungen", die das Luftsackgewebe des Airbags durchlöchern und so einen Druckaufbau verhindern sollen, sollte man nicht einsetzen, weil bei einer Auslösung die heißen Abbrandgase ungehindert ausströmen und zu schwersten Verbrennungen führen können.

Quelle: Presseinformation der DaimlerChrysler AG, Stuttgart