Sprache · Stimme · Gehör 2006; 30(4): 144-146
DOI: 10.1055/s-2006-951750
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Entwicklungsbedingte Dyskalkulie

Developmental DyscalculiaK. Landerl1
  • 1Psychologisches Institut, Universität Tübingen
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Publication Date:
30 November 2006 (online)

In der psychologisch-pädagogischen Praxis richtet sich das Augenmerk zunehmend auf Kinder, die trotz weitgehend unauffälliger allgemeiner Entwicklung massive Schwierigkeiten im Erwerb der Rechenleistungen aufweisen. In derartigen Fällen wird eine entwicklungsbedingte Dyskalkulie, eine so genannte umschriebene Entwicklungsstörung der Rechenleistungen, diagnostiziert. Dass Rechenstörungen erst in jüngerer Zeit in den Fokus der Aufmerksamkeit treten, ist eigentlich erstaunlich; schließlich werden für entwicklungsbedingte Dyskalkulie in epidemiologischen Studien ähnlich hohe Prävalenzraten berichtet wie für die Lese-Rechtschreibschwäche [1]. Die Auswirkungen auf Schullaufbahn und berufliche Entwicklung sind möglicherweise noch massiver als im Fall der LRS. In einer aktuellen englischen Studie [2] wird etwa berichtet, dass innerhalb einer Stichprobe von 37-jährigen Männern die Arbeitslosenrate bei Personen mit adäquaten Rechen- und Leseleistungen bei 8 % lag, bei Personen mit auffällig schwachen Rechenleistungen aber bei beachtlichen 48 %. Damit lag die Arbeitslosenrate sogar höher als bei Personen mit auffällig schwachen Leseleistungen (41 %). In dieser Studie war also nahezu jeder zweite Mann mit Rechenstörungen arbeitslos. Vor dem Hintergrund dieser massiven gesellschaftlichen Relevanz ist die Vernachlässigung von Rechenstörungen in der bisherigen Forschung mindestens erstaunlich.

In der Tat werden auch in der klinischen Praxis bisher noch deutlich weniger Kinder mit Rechenstörungen als mit LRS vorgestellt. Sowohl im Bereich der Diagnose als auch in Bezug auf Interventionsmaßnahmen fehlen derzeit oft noch die Ressourcen und Kompetenzen. Betroffenen Kindern und ihren Angehörigen ist zu wünschen, dass die Unterschiede im Wissensstand in Bezug auf diese beiden Lernstörungen möglichst bald ausgeglichen werden können. Die Forschung liefert auch im Bereich der Dyskalkulie zunehmend viel versprechende Konzeptionen, die im Rahmen dieses Schwerpunktthemas im Überblick dargestellt werden sollen.

Eine Schwierigkeit für Forschung und Praxis besteht wohl darin, dass es sich bei den Rechenleistungen um ein sehr inhomogenes Konstrukt handelt, das sich aus sehr unterschiedlichen Teilkomponenten zusammensetzt. Diese umfassen so unterschiedliche Fähigkeiten wie z. B. die adäquate Übersetzung des arabischen Zahlencodes (z. B. „23”) in Zahlwörter („dreiundzwanzig”), die korrekte Durchführung von Zählprozessen oder die Ableitung des erforderlichen Rechenprozesses aus einer Textaufgabe und dessen fehlerfreie Umsetzung. Die kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren erstaunlich detaillierte Befunde zur Zahlenverarbeitung und zu den arithmetischen Leistungen Erwachsener hervorgebracht. Diese Befunde basieren zum Teil auf Patienten mit erworbenen Dyskalkulien, die nach einer Gehirnverletzungen spezifische Komponenten ihrer arithmetischen Fähigkeiten verloren haben, und zum Teil auf Studien mit bildgebenden Verfahren, die Auskunft über die Gehirnaktivität beim Rechnen geben. Diese Befunde zeigen sehr deutlich auf, dass die einzelnen Teilkomponenten arithmetischer Leistungen bei Erwachsenen zum Teil erstaunlich unabhängig voneinander funktionieren und auch sehr spezifisch gestört sein können. Aufgabe der Forschung wird es in den nächsten Jahren sein, dieses detaillierte Wissen über die Neurokognition der arithmetischen Leistungen bei Erwachsenen adäquat in Modelle des normalen und gestörten Entwicklungsverlaufs der Rechenleistungen bei Kindern zu integrieren.

Im ersten Beitrag dieses Schwerpunktthemas geben Nuerk, Graf und Willmes einen detaillierten Einblick in die „Grundlagen der Zahlenverarbeitung und des Rechnens”. Der Beitrag zeigt eindrucksvoll auf, dass bereits bei der simplen Verarbeitung von Zahlen automatisch mehrere unterschiedliche Basisrepräsentationen aktiviert werden. Bei der Lösung komplexerer Rechenaufgaben müssen diese grundlegenden Zahlenrepräsentationen kompetent zusammenwirken. Gelingt dieses komplexe Zusammenspiel nicht entsprechend, so sind Beeinträchtigungen sowohl für die Zahlenverarbeitung als auch für die darauf aufbauenden Rechenleistungen zu erwarten. Die Autoren gehen in ihren Ausführungen vom derzeit empirisch am besten fundierten und am meisten diskutierten neurokognitiven Modell der Zahlenverarbeitung und des Rechnens bei Erwachsenen aus, dem so genannten Triple-Code Modell von Dehaene [3]. Dieses Modell besagt, dass Zahlenverarbeitung in drei sehr unterschiedlichen und teils voneinander unabhängigen Codes erfolgt, nämlich einem visuell(-arabisch)en, einer semantischen Größenrepräsentation und einem verbalen Code. Nuerk und Kollegen erweitern die Konzeptionen der Arbeitsgruppe von Stanislas Dehaene um die Repräsentation des arabischen Platz × Wert-Systems. Der Erwerb des Stellenwertsystems stellt für manche Kinder ohne Zweifel eine große Hürde dar, die in der deutschen Sprache noch zusätzlich durch die Zehner-Einer Inversion bei zweistelligen Zahlworten („dreiundzwanzig”; der Einer wird zuerst gelesen obwohl er in der arabischen Zahl 23 hinten steht) erschwert wird.

Auch der zweite Beitrag von von Aster, Kucian und Martin geht vom Triple-Code Modell aus, wobei hier das Thema „Gehirnentwicklung und Dyskalkulie” im Vordergrund steht. Die drei bereits beschriebenen Codes sind im Triple-Code Modell unterschiedlichen neuroanatomischen Arealen zugeordnet, die in Form eines komplexen Netzwerks interagieren, wenn Zahlenverarbeitung oder Rechenleistungen erfolgen. Aktuelle Befunde zeigen auf, dass bestimmte Kernsysteme („core systems”) dieses Netzwerks bereits in der Kindheit, möglicherweise von Geburt an angelegt sind, dass die Ausformung dieses neurologischen Netzwerkes allerdings offenbar mehrere Jahre und intensive Auseinandersetzung mit Zahlen und arithmetischer Verarbeitung erfordert. Rechenschwache Kinder scheinen zwar weitgehend dasselbe neuroanatomische Netzwerk zu benützen wie Kinder mit unauffälliger Entwicklung der Rechenleistungen, zeigen aber eine deutliche Unteraktivierung dieses neuronalen Netzes.

Krinzinger und Kaufmann weisen in ihrem Beitrag „Rechenangst und Rechenleistung” darauf hin, dass neben neurokognitiven Faktoren selbstverständlich auch emotional-motivationale Faktoren einen sehr wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Rechenleistungen haben. Die Autorinnen zeigen den deutlich nachgewiesenen negativen korrelativen Zusammenhang zwischen Rechenangst und Rechenleistung auf. Typischerweise resultiert aus einer vorliegenden Rechenangst zumeist eine Vermeidung von rechnerischen Tätigkeiten. Besonders bei Kindern, die aufgrund schlechterer neurokognitiver Voraussetzungen eigentlich ein verstärktes Ausmaß an Training der Rechenleistungen benötigen würden, ist hier ein Teufelskreis von Lernrückstand, Misserfolgserlebnissen und emotionalen Problemen die typische Folge.

In der klinischen Praxis zeigt sich bei vielen betroffenen Kindern, dass Störungen der Rechenleistungen oft nicht isoliert, sondern in Kombination mit anderen Lern- und Entwicklungsstörungen auftreten. Besonders häufig wird eine Kombination von Dyskalkulie und Legasthenie, also einer umschriebenen Störung der Lese- und Rechtschreibleistung berichtet. Daher erörtern Fussenegger und Landerl anhand dieser beiden Störungen exemplarisch die theoretischen Konzeptionen und empirischen Befunde dieser Komorbidität und zeigen auf, dass erstaunlich wenig für eine gemeinsame Ursache dieser Störungen spricht. Vielmehr scheinen die beiden Störungen auf neurokognitiver Ebene voneinander weitgehend unabhängig zu sein. Während aktuelle Verursachungskonzeptionen der Dyskalkulie von Defiziten in der basalen Verarbeitung von Zahlen ausgehen, wird Legasthenie in der Literatur bereits weitestgehend übereinstimmend durch Probleme in der verbal-phonologischen Verarbeitung erklärt. Diese Erkenntnisse sind von hoher Relevanz für die Praxis, weil dort häufig multi-morbide Kinder vorgestellt werden und somit der Schluss naheläge, dass es sich bei Dyskalkulie und Legasthenie um eine gemeinsame Störung handeln könnte. Dies scheint nicht der Fall zu sein.

Im letzten Beitrag zeigen Galonska und Kaufmann auf, welche Konsequenzen aus all diesen Befunden für die „Intervention bei entwicklungsbedingter Dyskalkulie” abgeleitet werden können. Ebenso wie alle anderen Autoren dieses Schwerpunktthemas stellen sie die Forderung nach einer individuell auf die Bedürfnisse des jeweiligen Kindes zugeschnittenen Intervention. Voraussetzung dafür ist eine umfassende Diagnostik, die abklärt, welche Funktionsbereiche sich bisher nicht adäquat entwickeln konnten. Der Fokus einer Intervention sollte grundsätzlich im Bereich der Zahlenverarbeitung und arithmetischen Leistungen liegen. Neue, an neurokognitiven Befunden und Modellen orientierte diagnostische Verfahren wie der ZAREKI-R [4] und der TEDI-MATH [5], die die einzelnen Komponenten der basalen Zahlenverarbeitung und der arithmetischen Leistungen mit unterschiedlichen Subtests erheben, können hier wertvolle Aufschlüsse für die Erstellung eines Interventionsprogramms bieten. Der normale schulische Unterricht setzt oft basisnumerische Fähigkeiten voraus, die bei dyskalkulischen Kindern nicht selbstverständlich gegeben sind. Zum Teil muss in der Intervention auf einem wesentlich basaleren Niveau angesetzt werden, als das im normalen Unterricht erforderlich ist. Wenn zusätzliche Defizite in nicht-numerischen kognitiven Domänen (Sprachverarbeitung, Aufmerksamkeit, Exekutivfunktionen, visuell-räumliche Fähigkeiten, usw.) vorliegen, so müssen diese im Interventionsprogramm ebenfalls adäquat berücksichtigt werden. Allerdings sollte auf Basis einer Interventionsmaßnahme, die etwa auf eine Verbesserung sprachlicher Leistung abzielt, keine spezifische Verbesserung der Rechenleistungen erwartet werden, wenn diese nicht ebenfalls in ausreichendem Ausmaß im Behandlungsprogramm eingebaut sind. Last but not least müssen wie bereits erwähnt auch emotionale Beeinträchtigungen wie Rechenangst Berücksichtigung finden. Solange die Beschäftigung mit Zahlen Spaß macht, können auch Kinder mit Rechenstörungen in kleinen und systematischen Schritten ihre Rechenleistungen verbessern.

Die in diesem Heft vorliegenden Beiträge liefern damit einen guten Überblick von den kognitiven, neuronalen und emotionalen Grundlagen der entwicklungsbedingten Dyskalkulie bis hin zur maßgeschneiderten Intervention. Ziel ist ein besseres Verständnis für die Ursachen und Probleme betroffener Kinder auch in der Praxis. Dieses bessere Verständnis kann wesentlich dazu beitragen, bessere diagnostische Instrumente und in Zukunft hoffentlich auch effizientere therapeutische Maßnahmen für Dyskalkulie zu entwickeln.

Literatur

  • 1 Shalev R S, Gross-Tsur V. Developmental Dyscalculia.  Pediatric Neurology. 2001;  24(5) 337-342
  • 2 Bynner J, Parsons S. The impact of poor numeracy on employment and career progression. In Tikly C, Wolf A. (eds) The maths we need now. London; University of London Institute of Education 26-51
  • 3 Dehaene S. Varieties of numerical abilities.  Cognition. 1992;  44 1-42
  • 4 von Aster M G, Weinhold Zulauf M, Horn R. Neuropsychologische Testbatterie für Zahlenverarbeitung und Rechnen bei Kindern, revidierte Version (ZAREKI-R). Frankfurt a.M; Harcourt Test Services 2006
  • 5 Nuerk H C, Kaufmann L, Graf M, Krinzinger H, Delazer M, Willmes K. Test zur Erfassung der Zahlenverarbeitung und des Rechnens bei 4 bis 8-jährigen Kindern (TEDI-MATH). Bern; Hans Huber Verlag (in Vorbereitung)

Prof. Dr. Karin Landerl

Psychologisches Institut

Universität Tübingen

Gartenstraße 29

72074 Tübingen

Email: Karin.Landerl@uni-tuebingen.de