Der Klinikarzt 2007; 36(12): 708-709
DOI: 10.1055/s-2007-1019451
Blickpunkt

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Thromboembolieprophylaxe mit niedermolekularem Heparin in der Chirurgie - Risikosituation des Patienten bestimmt Dosis und Dauer

Further Information

Publication History

Publication Date:
07 January 2008 (online)

 
Table of Contents

Dass eine effiziente perioperative Thromboembolieprophylaxe notwendig ist, ist allgemein anerkannt und entsprechend in Leitlinien verankert [1]. Die Indikation zur medikamentösen Prophylaxe ergibt sich aus Art und Umfang des operativen Eingriffs und der Verletzung sowie patientenspezifischen Risikofaktoren. Im ambulanten Bereich erhält die Thromboembolieprophylaxe ebenfalls eine immer größere Rolle, da ambulante Operationen ebenso wie kurzzeitige stationäre Behandlungen immer häufiger werden. Dies betreffe neben der präoperativen Prophylaxe auch die Weiterführung nach Entlassung aus dem Krankenhaus, erläuterten die Referenten auf dem 6. Expertenmeeting in Berlin.

#

Standardprophylaxe mit NMH - Substanzen aber nicht identisch

Trotz neuer Antithrombotika bleiben niedermolekulare Heparine (NMH) weiterhin wirksamer und risikoarmer Standard bei der Prävention venöser Thromboembolien (VTE), betonte Prof. Siegfried Rübenacker, Langenau. Nach 20 Jahren NMH-Prophylaxe in der Chirurgie besteht inzwischen eine breite evidenzbasierte Datenlage - eine wichtige Voraussetzung für die Erarbeitung der neuen S3-Leitlinie zur peri- und postoperativen Thromboseprophylaxe.

So existieren heute zum einen Empfehlungen zur medikamentösen Prophylaxe bei großen orthopädischen und unfallchirurgischen Eingriffen. Aber auch der Nutzen einer verlängerten medikamentösen Prophylaxe nach bestimmten Hochrisikooperationen (z.B. elektiver Hüftgelenkersatz) ist ebenso dokumentiert wie die Bedeutung dispositioneller Risikofaktoren [1], [4], [5].

Allerdings unterscheiden sich die verfügbaren niedermolekularen Heparine aufgrund ihrer verschiedenen Herstellungsverfahren in ihren pharmakologische Eigenschaften und ihrer klinischen Effektivität, was sich auch in einem unterschiedlichen Zulassungsstatus widerspiegele, ergänzte Rübenacker. Deshalb seien die einzelnen Substanzen auch nicht austauschbar. Vielmehr müsse deren Wirksamkeit und Verträglichkeit für jeden Wirkstoff in kontrollierten klinischen Studien in den jeweils betrachteten Indikationen nachgewiesen werden [1]. Die breiteste Zulassung hat derzeit Enoxaparin (Clexane®).

#

Niedermolekulare Heparine im Vergleich

Um die Effektivität der medikamentösen Thromboembolieprophylaxe verschiedener niedermolekularer Heparine beurteilen zu können, bedarf es also vor allem vergleichbarer Studiendaten, die jedoch nur begrenzt zur Verfügung stehen. Denn die einzelnen Studien unterscheiden sich bezüglich der eingesetzten Dosierungen, der Therapieintervalle, der Methodik oder auch ihrem Umfang und ihrer Qualität, was einen direkten Vergleich im Prinzip ausschließt.

Ferriols-Lisart und seine Coautoren haben diese Faktoren in einer Metaanalyse der einzelnen klinischen Studien bei orthopädischen Hochrisikoeingriffen jedoch berücksichtigt und ihre Analyse nach zuvor festgelegten Qualitätskriterien erstellt [2]. Sie werteten nur prospektive, randomisierte, kontrollierte Studien aus, die sich mit dem endoprothetischen Hüft- und Kniegelenkersatz - zwei standardisierten Operationsverfahren - beschäftigen. Denn solche Eingriffe eignen sich für diesen Zweck besonders gut, da sie mit einem hohen Thromboembolierisiko assoziiert sind. So beträgt die durchschnittliche Thromboserate im Rahmen einer Hüftgelenkendoprothetik 51 %, bei einer Kniegelenkendoprothetik 47 % [1], [2].

#

"Leitsubstanz" Enoxaparin

Ferriols-Lisart et al. berücksichtigten in ihrer Metaanalyse nur Studien, bei denen ein niedermolekulares gegen ein unfraktioniertes Heparin (UFH) getestet wurde. Dabei ergab sich im Vergleich für die niedermolekularen Heparine eine tendenziell höhere Effektivität (Abb. [1]; [2]).

Zoom Image

Abb. 1 Die Metaanalyse zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von verschiedenen niedermolekularen Heparinen im Vergleich zu unfraktioniertem Heparin bei orthopädischen Hochrisikoeingriffen zeigt nur für Enoxaparin eine signifikante Überlegenheit und das engste Konfidenzintervall nach [2]

Besonders vorteilhaft scheint jedoch Enoxaparin zu sein, das über alle eingeschlossenen Studien neben einer signifikant besseren Wirksamkeit gegenüber unfraktioniertem Heparin auch ein deutlich engeres Konfidenzintervall als die anderen niedermolekularen Heparine aufwies (Abb. [1]; [2]). Dazu kommt: Für Enoxaparin steht derzeit die umfangreichste Studienlage der niedermolekularen Heparine zur Verfügung. Außerdem hat der Arzneiverordnungsreport 2007 Enoxaparin erneut als Leitsubstanz der niedermolekularen Heparine bestätigt [6].

Bemerkenswert sei weiterhin, so Rübenacker in seinem Überblick, dass die deutlich höhere Effektivität von Enoxaparin gegenüber unfraktioniertem Heparin nach der Studienlage kein höheres Blutungsrisiko nach sich ziehe. Offenbar weist Enoxaparin ein relativ breites therapeutisches Fenster auf, da zwischen den Dosierungen von Enoxaparin in den USA (2 x 30 mg s.c., 12-24 Stunden postoperativ) und in Europa (40 mg s.c., zwölf Stunden vor dem Eingriff) keine Unterschiede im Blutungsrisiko bestehen, verdeutlichten die Experten.

#

Diskussionsergebnisse im Überblick

Die Experten sprachen sich für den präoperativen Beginn der VTE-Prophylaxe aus. Dieser sei schon deshalb sinnvoll, weil durch die Operation die Noxe für das Gerinnungssystem gesetzt werde. Bei einem höheren Anteil ambulanter Chirurgie und kurzzeitigen stationären Behandlungen sind demzufolge gegebenenfalls Abläufe zu implementieren, die den präoperativen Beginn der Prophylaxe sicherstellen.

Herausgestellt haben die Experten zudem die Bedeutung der risikoadaptierten Thromboseprophylaxe in der Chirurgie, weil immer mehr Patienten mit individuellen Risikofaktoren operiert werden. Diese Risikofaktoren machen deren Einordnung in die hohe Risikogruppe notwendig. Sie forderten daher, unabhängigen Risikofaktoren wie zum Beispiel einer Thrombophilie mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Deshalb könne auch bei kleinen Eingriffen bei entsprechender Risikolage des Patienten eine medikamentöse Prophylaxe notwendig werden.

#

Prof. Siegfried Rübenacker zur S3-Leitlinie für die peri- und postoperative Thromboseprophylaxe

"Die vorliegende Datenlage erlaubt die Erstellung einer S3-Leitlinie, an deren Fertigstellung mit Hochdruck gearbeitet wird. Bisher existiert nur eine S2-Leitlinie zur Thromboseprophylaxe im peri- und postoperativen Bereich aus dem Jahr 2003, die noch zahlreiche Fragen offen lässt. Deshalb ist es Ziel der neuen S3-Leitlinie, konkrete Aussagen zu spezifischen Operationen zu machen und die Empfehlungen transparent und evidenzbasiert herzuleiten. Dazu zählt auch die Entwicklung von spezifischen Instrumenten zur Risikostratifizierung. Es sind ja im Einzelfall stets Risikosituationen denkbar, die sich dann risikoerhöhend auswirken, wenn der Patient zusätzlich dispositionelle Risikofaktoren aufweist. Bei solchen Patienten kann auch eine verlängerte medikamentöse Prophylaxe notwendig werden. Wir führen nach Hochrisikoeingriffen eine medikamentöse postoperative Prophylaxe mit einmal täglich Enoxaparin 40 mg s.c. über 28 Tage durch. Da bislang noch keine generell verbindliche Empfehlung zur prolongierten Prophylaxe vorliegt, empfiehlt es sich, die Dauer der medikamentösen Prophylaxe anhand der dispositionellen Risikofaktoren, dem operativen Trauma und dem Immobilisierungsgrad des Patienten individuell zu ermitteln und zu bewerten."

#

Vorteile dienen der Patientensicherheit

Für den Alltag in der Chirurgie seien die Vorteile, die mit der Anwendung von niedermolekularen Heparinen zur Thromboseprävention verbunden sind, von hohem praktischen Nutzen, unterstrich Rübenacker. Dazu gehören

  • eine einfache Handhabung aufgrund der Einmalgabe

  • eine gut vorhersagbare Wirksamkeit

  • ihre gute Verträglichkeit.

Dies alles bedeute zusammen mit der langjährigen Erfahrung, der milliardenfachen Anwendung und der hohen Evidenz durch Studien auch ein großes Maß an Sicherheit für die Patienten. Hier müssten sich die neuen Substanzen erst beweisen, weshalb derzeit niedermolekulare Heparine weiterhin als "Goldstandard" zur Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie zu betrachten seien, schloss Rübenacker.

#

Risikoadaptierte Thromboseprophylaxe notwendig und sinnvoll

Dass die risikoadaptierte Thromboseprophylaxe kein überholtes Prinzip ist, sondern von hoher Aktualität, daran erinnerte Dr. Helmut Arbogast, München. So mache eine einheitliche NMH-Dosierung für alle Patienten schon deshalb keinen Sinn, weil zum einen Hochrisikoeingriffe nicht mit Operationen wie zum Beispiel einer Leistenhernie gleichgesetzt werden könnten. Zum anderen können dispositionelle Risikofaktoren die Thrombosegefährdung der Patienten deutlich erhöhen [1]. Schon aus diesen Gründen, so Arbogast, sei eine Risikostratifizierung notwendig, aus der sich dann die individuelle Dosierung ableiten lasse.

Bei der Wahl eines niedermolekularen Heparins zur Prophylaxe sollte der Chirurg auf die anti-Xa-Selektivität achten. Denn je höher diese- wie zum Beispiel bei Enoxaparin - ist, desto günstiger ist seine prophylaktische Wirkung und desto höher die therapeutische Breite, ergänzte Arbogast.

#

Leitlinien empfehlen eine individuelle NMH-Dosis

Die evidenzbasierten ACCP[1]-Leitlinien zur perioperativen Thromboseprophylaxe tragen dem Rechnung und empfehlen bei vorliegendem hohen Risiko niedermolekulare Heparine in einer Dosis von mindestens 3 400 I.E. anti-Xa-Einheiten täglich. Bei mittlerem Risiko reicht dagegen eine maximale Dosis von 3 400 I.E. anti-Xa täglich aus. Damit unterstreichen die Empfehlungen die Notwendigkeit unterschiedlicher NMH-Dosierungen [3]. Einige niedermolekulare Heparine entsprächen jedoch unter diesen Voraussetzungen nicht den Anforderungen an die Hochrisikoprophylaxe, meinte Arbogast

Im Rahmen der postoperativen Prophylaxe bei Sportverletzungen nach der Gipsabnahme rieten die Experten ebenfalls, sich am individuellen Risiko des Patienten zu orientieren. Zusätzliche dispositionelle Risikofaktoren, wie eine tiefe Venenthrombose in der Anamnese, ein Alter über 70 Jahre, ein Body-Mass-Index (BMI) über 30 kg/m2, eine Tumorerkrankung oder eine Teilbelastung von weniger als 20 kp, erhöhen das Thromboserisiko deutlich.

Regina Burian, Neufahrn

Quelle: 6. Expertenmeeting "Niedermolekulare Heparine up to date 2007", Veranstalter Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Berlin

Dieser Beitrag entstand mit freundlicher Unterstützung der Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Berlin

#

Literatur

  • 01 Encke A . Haas R . Krauspe R . et al . Stationäre und ambulante Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie und der perioperativen Medizin. Interdisziplinäre Leitlinie.  Phlebologie. 2003;  32 164-169
  • 02 Ferriols-Lisart R . Ferriols-Lisart F . Jiménez-Torres V . Effectiveness and safety of bemiparin versus low-molecular-weight heparins in orthopaedic surgery.  Pharm World Sci. 2002;  24 (3) 87-94
  • 03 Geerts WH . Pineo GF . Heit JA . et al . Prevention of venous thromboembolism: the Seventh ACCP Conference on Antithrombotic and Thrombolytic Therapy.  Chest. 2004;  126 (3 Suppl) 3385-4005
  • 04 Haas S . Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie.  Chirurg. 2004;  75 (3) 323-343
  • 05 Hull RD . Pineo GF . Stein PD . et al . Extended out-of-hospital low-molecular-weight heparin prophylaxis against deep venous thrombosis in patients after elective hip arthroplasty: a systematic review.  Ann Intern Med. 2001;  135 (10) 858-869
  • 06 Schwabe U . Paffrath D . (Hrsg). Arzneiverordnungsreport 2007. Berlin: Springer, 2007. 

01 American College of Chest Physicians

#

Literatur

  • 01 Encke A . Haas R . Krauspe R . et al . Stationäre und ambulante Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie und der perioperativen Medizin. Interdisziplinäre Leitlinie.  Phlebologie. 2003;  32 164-169
  • 02 Ferriols-Lisart R . Ferriols-Lisart F . Jiménez-Torres V . Effectiveness and safety of bemiparin versus low-molecular-weight heparins in orthopaedic surgery.  Pharm World Sci. 2002;  24 (3) 87-94
  • 03 Geerts WH . Pineo GF . Heit JA . et al . Prevention of venous thromboembolism: the Seventh ACCP Conference on Antithrombotic and Thrombolytic Therapy.  Chest. 2004;  126 (3 Suppl) 3385-4005
  • 04 Haas S . Thromboembolieprophylaxe in der Chirurgie.  Chirurg. 2004;  75 (3) 323-343
  • 05 Hull RD . Pineo GF . Stein PD . et al . Extended out-of-hospital low-molecular-weight heparin prophylaxis against deep venous thrombosis in patients after elective hip arthroplasty: a systematic review.  Ann Intern Med. 2001;  135 (10) 858-869
  • 06 Schwabe U . Paffrath D . (Hrsg). Arzneiverordnungsreport 2007. Berlin: Springer, 2007. 

01 American College of Chest Physicians

 
Zoom Image

Abb. 1 Die Metaanalyse zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von verschiedenen niedermolekularen Heparinen im Vergleich zu unfraktioniertem Heparin bei orthopädischen Hochrisikoeingriffen zeigt nur für Enoxaparin eine signifikante Überlegenheit und das engste Konfidenzintervall nach [2]