Balint Journal 2007; 8(1): 30
DOI: 10.1055/s-2007-960688
Buchbesprechung

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Viktor von Weizsäcker, Gesammelte Schriften 10 “Pathosophie”

P. Achilles, D. Janz, M. Schrenk, C. F. v. Weizsäcker
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Publication History

Publication Date:
03 April 2007 (online)

2005. Suhrkamp, Frankfurt, 648 S., Leinen, € 45,80, ISBN 3-518-57801-4, Kartoniert, € 40,80, ISBN 3-518-57799-9

Bestimmte Bücher haben mit bestimmten Theaterstücken eines gemeinsam: bei beiden kann nur das Publikum durchfallen, respektive der Leser. Das geschieht dann, wenn etwas Außerordentliches dargeboten wird, das sich der bequemen Erfassung entzieht. Ein solches Buch ist angewiesen auf den besonderen Leser. Dieser Leser muss bereit sein, sich belehren zu lassen, muss die Fähigkeit besitzen, Hürden eingewurzelter Gewohnheiten zu nehmen, muss sich bei Verständnisschwierigkeiten in Geduld fassen, was heißt, nicht sofort (weil narzisstisch gekränkt) ein abfälliges Urteil zu fällen, um das eigene Defizit meinungsstark zu kaschieren.

Einen so gearteten Leser wünsche ich mir für das hier angezeigte Buch “Pathosophie“, den 10. und zugleich letzten Band der im Suhrkamp-Verlag erschienen Gesammelten Schriften Viktor von Weizsäckers. Darin bündelt der 1957 in Heidelberg verstorbene Mediziner seine langjährigen Erfahrungen als Arzt zu einer Krankheitslehre, bei der divergierende Bereiche so aufeinander bezogen werden, dass eine neue Sichtweise von der Komplexität des menschlichen Leibes entsteht. Schnell wird klar, dass zur Erfassung der Komplexität des menschlichen Leibes keine via regia führt, keine Abkürzung und auch kein anstrengungsloses Begreifen der weit gespannten, penibel beschriebenen Einzelheiten. Solche Art der Befriedigung wäre ja auch (um mit Ernst Bloch zu reden) als Ersparung des Einsatzes und der Schwierigkeit “genau so wenig ehrenvoll wie die Onanie“.

Statt dessen tut der Leser gut daran, sich auf eine Lektüre einzustellen, die ihn fordert und ihn, bevor sie ihn bereichert entlässt, einiges an Durchstehvermögen abverlangt. Ja, es kann sogar sein, dass er, weil der Tisch zu reich gedeckt ist, dann und wann nach Schonkost verlangt.

Das Hauptthema ist der von Krankheit bedrohte Leib des Menschen sowie die Fülle der ihn konstituierenden Gegebenheiten: sein anatomischer Bau, seine physiologischen Funktionen, seine psychologische Struktur, aber auch die auf ihn wirkenden geistigen Mächte. Dabei wird jede von ihnen für sich und in Verbindung mit den anderen untersucht. Allerdings in einer grundsätzlich nicht nach den Gesetzen der Vernunft orientierten Folgerichtigkeit, sondern in einem als antilogisch zu begreifenden Sinn: “Das Leben scheint die Logik nicht zu lieben, und im Überschwang kann es sie verachten, überrennen oder hassen“. Allein diese Formulierung, der viel vorausgeht und viel nachfolgt, verdeutlicht, dass sich Viktor von Weizsäckers “Pathosophie“ jeder kurzgefassten Begrifflichkeit entzieht. Man muss sie lesen, muss sich ihr so lange nähern - und der besondere Leser wird das tun -, bis sie als Reise verstanden werden kann, in der eine neue Landschaft entdeckt wird, zuerst fremd und voller Überraschungen, dann aber allmählich immer vertrauter, bis sie sich ganz erschließt.

Lutz Gerber, Neckarhausen