Im wunderschönen alten Hörsaal des Langenbeck-Virchow-Hauses konnte Tagungsleiter
Prof. Hans Scherer, Direktor der HNO-Klinik Charité Campus Mitte in Berlin Mitte November
2006 die Teilnehmer des 6. Hennig-Symposiums begrüßen. Prof. Scherer betonte, dass
neben handfester Fortbildung im 6. Hennig-Symposium auch "heiße Themen" aufgegriffen
werden sollten, die sonst gerne ausgespart werden und über die es zwischen Neurologie
und HNO kontroverse Diskussionen gibt. Unterstützt durch die Hörsaal-Situation entwickelt
sich eine intensive Tagung und es wurde lebhaft und teils kontrovers, aber immer zielgerichtet
diskutiert. Das anfänglich kleine "Hennig-Symposium" hat sich so im Lauf der Jahre
zu einem wertvollen interdisziplinären Fortbildungskongress mit praktischen Übungen
und Kursen und zu einem Forum für Kliniker und Forscher entwickelt. Den zunehmenden
Stellenwert dieser Tagung dokumentieren auch die ständig steigenden Anmeldungen, über
mehr als 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnte sich Dr. W. Baumann, Leiter der
wissenschaftlichen Abteilung der Fa. Hennig Arzneimittel 2006 in Berlin freuen. Dies
zeige, so Baumann bei der Begrüßung, dass das Thema "Schwindel" nicht nur im semantischen,
sondern auch im wissenschaftlichen Sinn interessant sei und bleibe.
Die Rolle des Hippocampus bei der Orientierung im Raum
Die Rolle des Hippocampus bei der Orientierung im Raum
Schon seit den 50er Jahren ist in tierexperimentellen Untersuchungen belegt, wie wichtig
vestibuläre Informationen für das räumliche Navigieren und auch für das räumliche
Gedächtnis sind, betonte Prof. Michael Strupp, der diesjährige Träger des Hennig-Vertigo-Preises,
aus der Neurologischen Universitätsklinik der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
Klinische Untersuchungen an Patienten wurden dazu aber erst in den letzten Jahren
durchgeführt. Dabei hat man festgestellt, dass bei Patienten mit bilateraler Vestibulopathie
die sogenannte "path integration" gestört ist. Diese Patienten können problemlos von
einem Punkt A nach Punkt B und wieder zurück gehen, haben aber Schwierigkeiten, wenn
sie ein Dreieck vor und wieder zurück gehen sollen.
Wichtig für das räumliche Navigieren scheint auch der Hippocampus zu sein. Untersuchungen
an Ratten in einem Labyrinth zeigen, dass die so genannten "place cells" ein neuronales
Substrat der räumlichen Repräsentation darstellen. Für jeden Ort in diesem Labyrinth
gibt es eine spezielle Zelle im Hippocampus, die dann aktiv ist, wenn sich die Ratte
dort befindet. Die örtliche Information wird im Hippocampus anhand dieser "place cells"
codiert, die eng mit dem vestibulären System zusammenarbeiten - der entscheidende
"input" kommt also von vestibulären Zellen. Welche Funktion vestibuläre Informationen
und der Hippocampus in der Navigation beim Menschen haben, und ob es eine Interaktion
zwischen dem Hippocampus und dem vestibulären System gibt, ist am Menschen bisher
wenig untersucht. So haben Taxifahrer in New York einen größeren Hippocampus als Kontrollpersonen,
ein Hinweis darauf, dass sich der Hippocampus an die Anforderungen an das räumliche
Gedächtnis anpasst.
Strupp und sein Team untersuchten zehn Patienten (Durchschnittsalter 38 Jahre) mit
kompletter bilateraler Vestibulopathie (beidseitige Neurektomie wegen bilateraler
Akustikusneurinome bei Neurofibromatose Typ II) auf Defizite des Navigationsvermögens
und des räumlichen Gedächtnisses. Geprüft wurde auch, ob diese Störungen mit anderen
Gedächtnisstörungen einhergehen oder ob es sich dabei um eine selektive Funktionsstörung
des räumlichen Gedächtnisses handelt. Weiter ging man der Frage nach, ob sich bei
diesen Patienten neurologische Veränderungen finden und ob ähnliche Veränderungen
auch bei Patienten mit nur einseitigem chronischen Ausfall auftreten. Als Vergleich
diente eine nicht beeinträchtigte Kontrollgruppe mit ebenfalls zehn Patienten. Die
Untersuchung wurde mit dem Goldstandard "Water-Morris-Task" mittels eines PC-Programms
durchgeführt. Die Messung erfolgte im Sitzen ohne zusätzliche räumliche oder somatosensorische
Informationen. Dies hat den Vorteil, dass hierbei eine vestibuläre Information nicht
notwendig ist und man also rein das räumliche Gedächtnis testen kann.
Die Patienten mit bilateraler Vestibulopathie zeigten sowohl signifikante Defizite
des räumlichen Gedächtnisses und der Navigation (ohne weitere zusätzliche neuropsychologische
Störungen) als auch eine selektive Atrophie des Hippocampus (im Mittel -16,9 %). Bei
den Patienten mit einseitiger Neurektomie zeigten sich in den beiden Gruppen keine
signifikanten Unterschiede.
Fazit
Fazit
Patienten mit chronischem beidseitigen peripheren vestibulären Defizit haben signifikante
isolierte Störungen des räumlichen Gedächtnisses. Sonstige kognitive Leistungsdefizite
finden sich nicht. Es tritt eine selektive Atrophie des Hippocampus auf. Bei chronischem
einseitigen Defizit tritt keine dieser Störungen auf. Diese Daten zeigen die besondere
Bedeutung des vestibulären Systems für die räumliche Gedächtnisfunktion - das war
bislang beim Menschen nicht nachgewiesen. Die intakte Funktion und die Morphologie
hängen von dem wahrscheinlich tonischen Input des vestibulären Systems ab. Die Atrophie
beruht vermutlich auf einer gestörten Neuroneogenese.
Wirkung von Transmittern im vestibulären System
Wirkung von Transmittern im vestibulären System
Für einige Probleme beim Einsatz von Medikamenten an den peripheren vestibulären Organen
sind nach Prof. Arne-Wulf Scholtz aus der HNO-Klinik der Medizinischen Universität
in Innsbruck die Kalziumkanäle und die Transmitter verantwortlich. Die peripheren
vestibulären Endorgane haben zwei Typen von Haarzellen, deren Anzahl auf der Macula
und der Crista bekannt ist und bekannt sind auch drei Typen von afferenten Nervenendigungen.
Neu ist aber die Erkenntnis, dass es vestibuläre Typ-1-Haarzellfasern gibt, bei denen
der Kelch nicht wie sonst immer die Typ-1-Zellen komplett umschließt. Unbekannt ist
aber noch, ob dies pathologisch ist und wie sich die Zellen bei den peripheren vestibulären
Endorganen auf den einzelnen Arealen verteilen. Einen kleinen Anhaltspunkt gibt es,
wo eine afferente Nervenfaser sich in zwei Nervenpärchen aufteilt, dort ist das Verhältnis
von Typ-1- zu Typ-2-Zellen 1:2 bis 1:4, in anderen Arealen teilt sich eine afferente
Nervenfaser sogar in fünf Pärchen auf. Wie viele afferente und efferente Andockmuster
es bei Typ-2-Haarzellen gibt, ist aber noch offen.
Haupttransmitter für das afferente System ist das Glutamat, für das es eindeutige
biochemische, biologische und immunzytochemische Nachweise gibt. Weil hier viele gleichartige
Strukturen mit unterschiedlichen Funktionen existieren, arbeitet man nach Scholtz
jetzt mit den Synapsen und versucht, Rezeptorstrukturen zu erkennen. Glutamat besitzt
inotrope und heterotrope Rezeptoren. Zunächst war man der Auffassung, dass die Glutamat-Rezeptoren
2 und 3 und der NMDA-Rezeptor 1 die Hauptrezeptoren am vestibulären Endorgan seien.
Bei elektrophysiologischen und immunhistochemischen Untersuchungen in Tierexperimenten
wurde aber auch der Glutamat-Rezeptor 4 gefunden. Am Menschen konnten die Arbeitsgruppe
von Scholtz und Schrott-Fischer sowie andere Arbeitsgruppen diesen Fund nicht bestätigen,
sahen dafür aber positive Immunantworten für die Glutamat-Rezeptoren 1, 2 und 3.
Eine neuromodulierende Aktion insbesondere an den Typ-1-Haarzellen dürfte die Gamma-Buttersäure
(GABA) haben, ein weiterer, vermutlich afferenter Neurotransmitter. Vorrangig wirksam
ist hier der GABA-1-Rezeptor.
Die Substanz P, ein Neuropeptid, wird auch als afferenter Neurotransmitter bezeichnet
und ist insbesondere in den vestibulären Nervenzellen in den afferenten Nervenfasern
festgestellt worden. In den gleichen Nervenfasern wurde auch Calcitonin Gene-related
Peptide (CGRP) festgestellt, eigentlich ein efferenter Neurotransmitter.
Einer der wichtigen efferenten Neurotransmitter ist das Acetylcholin, man diskutiert
auch CGRP und GABA. Es gibt um die 500 efferente und zwischen 10 000 und 15 000
afferente Nervenfasern bei den Säugetieren. Bei der Cochlea tritt nach Scholtz eine
Hemmung der afferenten Aktivität auf, nicht aber beim vestibulären System. Problematisch
sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Spezies und die unterschiedlichen Strukturen
im peripheren Endorgan. Bei den Fischen und Säugetieren kommt es bei einer efferenten
Erregung zu einer Stimulation der Afferenzen, bei den Fröschen und Schildkröten treten
Hemmung und Stimulation auf. Auch das Acetylcholin kann man nicht immer feststellen
- hier behilft man sich damit, dass man einmal auf das synthetisierende Enzym ChAT
(Cholinacetyltransferase) eingeht, oder auf die Acetylcholinesterase, das abbauende
Enyzm. Auch hier gibt es zwei Rezeptoren (nikotinerg und muskarinerg) mit unterschiedlichen
Funktionen, der muskarine ist für die langsamen efferenten Wirkungen zuständig. Die
nikotinergen Rezeptoren setzen direkt am Ionenkanal an, dort werden durch eine Stimulation
im Bereich der Efferenzen Erregung und Hemmung in den Afferenzen ausgelöst. Immunhistochemische
Untersuchungen mit ChAT am Menschen zeigen an den Haarzelltypen 1 und auch gelegentlich
am Haarzelltyp 2 positive Immunantworten. Am vestibulären Haarzelltyp 1 ist ChAT ein
Haupttransmitter, man findet es aber auch am Typ 2 - eine Bestätigung der tierexperimentellen
Ergebnisse. Es gibt jedoch nicht nur cholinerge Nervenendigungen. Bei weiteren Untersuchungen
hat sich auch das ATP als efferenter Neurotransmitter gezeigt - ATP und Acetylcholin
finden sich in den gleichen Neuronen und synaptischen Vesikeln. ATP wirkt dabei sowohl
direkt als auch über das so genannte "Second messenger"-System.
Elektrophysiologische und morphologische Untersuchungen dürfen nicht gleichgesetzt
werden. Untersuchungen der Innsbrucker Arbeitsgruppe konnten GABA nicht als afferenten,
aber sehr wohl als efferenten Neurotransmitter feststellen. Andere Arbeitsgruppen
konnten dies bestätigen. Vor allem an den Haarzellen vom Typ 1 - selten auch am Typ
2 - sieht man positive Immunantworten.
Auch bei CGRP gibt es Differenzen zwischen den Ergebnissen am Tier und denen am Menschen.
Der Wirkungsmechanismus ist ebenfalls noch nicht ganz klar, wahrscheinlich findet
auch hier nur eine Modulation und kein direkter Angriff am Rezeptor statt.
Sicher im zentralvestibulären System nachweisbar sind die Enkephaline und diese müssten
dann, so Scholtz, eigentlich auch an den Endorganen nachweisbar sein. Auch hier fand
sich eine Einwirkung auf die Acetylcholin-Rezeptoren, Die Arbeitsgruppe von Scholtz
konnte aber in allen Endorganen keine entsprechenden Andockpunkte finden, offensichtlich
spielen die Enkephaline also dort keine Rolle.
Ziel all dieser Untersuchungen ist natürlich nicht zuletzt die Entwicklung sehr gezielter
Eingriffsmöglichkeiten am Endorgan. Die Situation ist aber noch sehr verwirrend, weitere
Aufschlüsse könnten Zellmodelle geben, an denen derzeit gearbeitet wird.
Veränderungen im Kortex nach Läsionen
Veränderungen im Kortex nach Läsionen
Neben den etablierten Verfahren wie PET, SPECT, EEG steht seit Anfang der 90er Jahre
auch die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI) zur Messung funktioneller Parameter
des Kortex zur Verfügung. Hiermit können Areale mit kortikalen Reaktionen auf externe
Reize leicht den entsprechenden anatomischen Strukturen zugeordnet werden - mittlerweile
sogar ohne Einsatz von Kontrastmitteln. Im Vergleich mit PET hat die fMRI eine bessere
räumliche und zeitliche Auflösung. Mit PET und fMRI konnte in den letzten Jahren die
kortikale Repräsentation von vestibulären und okulomotorischen Arealen bei gesunden
Probanden charakterisiert werden, erklärte Prof. Marianne Dieterich aus der Neurologischen
Klinik der Universität Mainz. Dabei zeigte sich, dass vestibuläre Informationen in
einem Netzwerk von kortikalen und subkortikalen Arealen beider Hemisphären verarbeitet
werden, das vor allem im temporo-parieto-insulären Kortex liegt.
Drei Faktoren bestimmen das Aktivierungsmuster:
-
die Dominanz der nicht-dominanten Hemisphäre (rechts bei Rechtshändern, links bei
Linkshändern)
-
die Seite des stimulierten Vestibularapparates und
-
die Richtung des ausgelösten vestibulären Nystagmus.
Die Aktivierungen waren stärker bei Rechtshändern in der rechten Hemisphäre, in der
Hemisphäre ipsilateral zum stimulierten Ohr und ipsilateral der langsamen Nystagmusphase.
Neben den Aktivierungen in temporo-parieto-insulären Kortexarealen fanden sich auch
Deaktivierungen in Arealen des visuellen und somatosensorischen Kortex - Zeichen für
eine hemmenden Interaktion zwischen dem vestibulären und dem visuellen System.
Bei Erkrankungen im peripheren und zentralen vestibulären System, wie am Beispiel
einer einseitigen Neuritis vestibularis, einer bilateralen Vestibulopathie, einem
medullären Hirnstamminfarkt im Vestibulariskern und einem Thalamusinfarkt gezeigt,
ist dieses normale Aktivierungs-Deaktivierungsmuster deutlich verändert und dies wird
in den PET- und fMRI-Untersuchungen deutlich sichtbar.
Zelltod und Regeneration von Sinneszellen
Zelltod und Regeneration von Sinneszellen
Das Innenohr teilt sich in drei Bereiche, die Cochlea mit dem Corti-Organ, das Bogengangssystem
mit der Crista sowie Sacculus und Utriculus. In allen drei Bereichen finden sich Haarzellen
und so genannte "Supporting-Zellen", letztere sind für die Regeneration wichtig. Die
Anzahl der Sinneszellen bei den Säugetieren ist begrenzt, der Zelltod und die Möglichkeiten,
diesen positiv zu beeinflussen, sind deshalb von hohem Forschungsinteresse, erklärte
Dr. Birgit Mazurek aus dem Tinnnituszentrum der Charité in Berlin. Von den zwei Arten
des Zelltodes (Apoptose und Nekrose) - beide kommen im Innenohr vor - kann man therapeutisch
nur auf die Apoptose einwirken. In der frühen Phase des Zelltodes bilden sich Radikale
und Transskriptionsfaktoren wie cJun und es wird Kalzium freigesetzt. Ansatzpunkte
für die Therapie sind hier also der Einsatz von Antioxidantien oder die Blockierung
von cJun. In der späten Phase des Zelltodes kommt es zu Veränderungen in der Cytochrom-C-Freisetzung,
zu Bax- und Caspasenaktivierung. Therapieansatz hier ist die Hochregulation von antiapoptotischen
Faktoren.
Nach einer Ischämie sterben die Haarzellen in der Cochlea sowohl über einen apoptotischen
als auch über einen nekrotischen Prozess ab. Dieser Prozess konnte durch den Einsatz
von Wachstumsfaktoren wie humanem rhEPO oder rhlGF1 sowohl im nekrotischen als auch
im apoptotischen Bereich reduziert werden - nach Mazurek ein deutlicher Hinweis darauf,
dass bei Beginn des Zelltodes Apoptose und Nekrose einen gemeinsamen Pathomechanismus
haben. Die Haarzellregeneration nach Schädigung erfolgt durch Proliferation, Differenzierung,
Reifung und funktionelle Erholung. Zum Ziel könnten verschiedene Wege führen: Mitose
aus Supporting-Zellen, Konversion ohne Mitose, Stammzellen oder Vorläuferzellen, Zellreparatur
- und in allen Bereichen gibt es noch viel Forschungsbedarf und viele offene Fragen.
Derzeitiger Stand der medikamentösen Therapie des M. Menière
Derzeitiger Stand der medikamentösen Therapie des M. Menière
Bei der Menièreschen Erkrankung unterscheidet man nach Priv.-Doz. A. Hahn aus der
HNO-Klinik der Karls-Universität in Prag das akute Stadium mit dem eigentlichen Anfall,
der sehr dramatisch verlaufen kann und mit Drehschwindel, Hörverminderung, Ohrgeräuschen
und einem Druckgefühl im Ohr einhergeht, und das anfallsfreie Intervall.
Im akuten Anfall werden vor allem sedierende, meist parenteral verabreichte Arzneimittel
eingesetzt (z.B. Thiethylperazin). Auch ein Kortisonbolus (300-400 mg) und Anxiolytika
sind hilfreich. Die stationäre Aufnahme ist nur in schweren Fällen erforderlich. Bei
Patienten mit einer ausgeprägten vegetativen Symptomatik und häufigem Erbrechen muss
auf einen ausreichenden (parenteralen) Flüssigkeitsersatz geachtet werden.
Im chronischen Stadium muss eine Vertigo- und Tinnituskontrolle mit dem Ziel einer
verbesserten Labyrinthperfusion und dem Schutz der Haarzellen, sowie einer Reduzierung
der Anfallsfrequenz und einer Symptomlinderung stattfinden. In dieser Phase haben
sich Wirkstoffe wie Betahistin und eine Kombination aus Dimenhydrinat und Cinnarizin
(Arlevert®) bewährt, deren Anwendung auch über einen längeren Zeitraum hinweg erfolgen
kann. Gute Erfahrungen hat man in Prag auch mit einem so genannten "Intra Ear Catheter"
(IEC) gemacht, über den Kortikoide und Gentamycin appliziert werden können. In einer
kleinen Gruppe von zehn Patienten kam es hier bei 50 % zu einer dauerhaften Verbesserung
von Tinnitus, Hörverminderung und Schwindel.
Attackenschwindel und Kopfschmerz bei Migräne
Attackenschwindel und Kopfschmerz bei Migräne
Der Migräneschwindel gilt heute nach Prof. Th. Lempert aus der Klinik für Neurologie
an der Schlosspark-Klinik in Berlin als eine der häufigsten Ursachen für spontane
und rezidivierende Schwindelattacken. Bei Migränepatienten liegt die Häufigkeit des
Drehschwindels nach Studien zwischen 24 % und 27 %, bei Patienten mit Spannungskopfschmerz
bei etwa 8 %. Neuhauser et al. fanden in einer Studie 2001 bei Schwindelpatienten
38 % mit Migräne. Insgesamt kann man die Häufigkeit von Migräneschwindel in der Gesamtbevölkerung
auf etwa 1 % ansetzen, in Schwindelambulanzen bei etwa 10 %, meinte Lempert. Für die
Diagnose "Migräneschwindel" gibt es sichere Kriterien (Tab. [1]). Das Auftreten aller Symptome ist jedoch nicht obligat, auch fehlen oft während
der Attacken die Kopfschmerzen. Die Attackendauer variiert dabei von Minuten bis zu
mehrere Tage (10 % Sekunden und je etwa 30 % Minuten, Stunden oder gar Tage). Im Intervall
sind die klinischen und apparativen Untersuchungsbefunde oft unauffällig, während
der akuten Attacke wird häufig ein zentraler Spontannystagmus (vertikal oder torsional)
oder ein Lagenystagmus beobachtet (anhaltend, jede Schlagebene ist möglich, häufig
erfolgt je nach Kopfposition auch ein Richtungswechsel). Periphere Störungen im Sinn
einer einseitigen Unterfunktion mit Spontannystagmus treten seltener auf. Zur Behandlung
des Migräneschwindels gibt es bislang nur vorläufige Empfehlungen (Tab. [2]).
Tab. 1 Sicherer Migräneschwindel
Tab. 2 Behandlung des Migräneschwindels: Vorläufige Empfehlungen (EL IV)
Wie wirkt Cinnarizin auf die Haarzellen?
Wie wirkt Cinnarizin auf die Haarzellen?
Über den Effekt von Cinnarizin auf die isolierten utrikulären Haarzellen des Meerschweinchens
berichtete Dr. T.A. Duong-Dinh aus der HNO-Klinik der RWTH Aachen. Für das vollständige
Verständnis der Pathophysiologie des M. Menière sind Untersuchungen an der vestibulären
Haarzelle seiner Auffassung nach unerlässlich, denn hier treten Veränderungen physiologischer
Vorgänge auf, die durch Pharmaka wie Cinnarizin beeinflusst werden können. Neben seiner
Eigenschaft als Kalziumantagonist hat Cinnarizin auch eine Wirkung auf den kalziumabhängigen
Kaliumauswärtsstrom, der für die Repolarisation der vestibulären Haarzelle verantwortlich
ist. Es hebt hier die Drucksensitivität auf, die beim endolymphatischen Hydrops eine
entscheidende Funktion haben könnte. Außerdem beeinflusst es die Transmitterausschüttung
und unterbindet damit die Signalweiterleitung an der vestibulären Haarzelle. Auch
auf die große Familie der TRP-Kanäle, die bei vielen physiologischen Vorgängen eine
entscheidende Rolle spielen - und hier vor allem auf den TRPA 1-Kanal - hat Cinnarizin
einen Einfluss. Die hier gezeigten Wirkungen bestätigen nicht nur den Einsatz von
Cinnarizin beim M. Menière, erklärt Duong-Dinh, sondern ermöglichen auch neue Therapieansätze
für eine lokale Applikation dieses Medikaments.
Migräneschwindel: Fazit für die Praxis
Migräneschwindel: Fazit für die Praxis
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Immer daran denken: Migräne ist die häufigste Ursache für rezidivierende Schwindelattacken!
Deshalb: Schwindelpatienten nach Migräne und nach Migränesymptomen während der Attacken fragen
Achtung, viele Migränepatienten haben andere Schwindelerkrankungen!
Ein Behandlungsversuch lohnt sich: Spezifisch mit Triptanen oder als Migräneprophylaxe, unspezifisch mit Antivertiginosa
in der Attacke
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Sekundärer somatoformer Schwindel
Sekundärer somatoformer Schwindel
Der somatoforme Schwindel tritt einmal als primärer somatoformer Schwindel ohne organische
Vorerkrankung und ohne organische Ursache auf und einmal als sekundärer somatoformer
Schwindel als Folge organischer Schwindelerkrankungen, erklärte Frau Priv.-Doz. Annegret
Eckhardt-Henn vom Bürgerhospital in Stuttgart. Etwa 30 % aller komplexen Schwindelsyndrome
sind somatoforme Schwindelerkrankungen (in Spezialambulanzen bis zu 50 %) und bei
ca. 20-30 % aller Patienten mit organischen Schwindelsyndromen entwickelt sich in
der Folge ein sekundärer somatoformer Schwindel. Allerdings gibt es auch Situationen,
in denen eine organische und eine somatoforme Erkrankung zusammen auftreten.
Patienten mit somatoformem Schwindel berichten eine längere Beschwerdedauer als Patienten
mit organischem Schwindel, sie haben deutlich mehr Arbeitsausfälle und in der Regel
sind mehr Fachgruppen involviert (solche Patienten werden gerne "weitergeschoben",
meinte Eckhardt-Henn). Auch Patienten mit sekundärem somatoformem Schwindel werden
häufig über Wochen und Monate - erfolglos - unter der Diagnose "organischer Restzustand"
nach einer organischen Erkrankung symptomatisch, z.B. mit chiropraktischen Maßnahmen,
Schwindeltraining etc. behandelt. Gar nicht selten sind diese Patienten auch auf eine
ausschließlich organische Ursache ihrer Beschwerden fixiert.
In einer Studie von Yardley et al. (1998) fühlten sich von 480 befragten Schwindelpatienten
225 nennenswert in ihren Alltagsaktivitäten beeinträchtigt - aber nur jeder vierte
Patient erhielt eine Therapie. Und bei fast jedem dritten Patienten (30 %) dauerte
der Schwindel schon länger als fünf Jahre an. Dabei leiden Patienten mit somatoformem
Schwindel unter einer signifikant stärkeren Beeinträchtigung ihrer Alltagsaktivitäten
und empfinden eine höhere Symptomschwere und -angst als Patienten mit organischen
Schwindelerkrankungen. Der organische Schwindel dient beim somatoformen Schwindel
als Angstauslöser und die Qualität der Schwindelerkrankung hat offenbar einen Einfluss
auf die spätere Symptombildung.
Besonders gefährdet in Bezug auf die Entwicklung eines späteren sekundären somatoformen
Schwindels sind Patienten mit M. Menière und solche mit vestibulärer Migräne. Möglicherweise
spielt die Unkontrollierbarkeit der Attacken und die subjektiv empfundene Qualität
der Attacken eine besondere Rolle vor allem für die spätere Entwicklung einer phobischen
Störung. Im Verlauf der Erkrankung kommt es oft zu einem Wechsel der Schwindelqualität,
z.B. vom Drehschwindel zum Schwankschwindel oder diffusen Benommenheitsschwindel.
Die durch die Läsion bedingten Symptome dienen quasi als "Modell" für die nachfolgende
Symptombildung. Häufiger werden Schwankschwindel-Symptome und Dauerschwindel beschrieben,
es treten aber auch Drehschwindelattacken mit vegetativen Symptomen wie Übelkeit,
Brechreiz, Schweißausbrüchen, Angst vor Ohnmacht, Benommenheitsgefühlen etc. auf.
Den sekundären somatoformen Schwindelsyndromen liegen am häufigsten Angststörungen
und phobische Störungen zugrunde, gefolgt von depressiven, dissoziativen und den i.e.S.
somatoformen Störungen. Patienten mit Angst- und phobischen Störungen zeigen die typischen
Symptome wie nächtliches Erwachen mit Schwindel und reaktiv empfundener Angst bis
hin zu Panik und Todesangst, Tachykardie-Anfällen, Erstickungsgefühlen, Angst vor
Ohnmacht, Schweißausbrüchen, Übelkeit, Harndrang, Durchfällen, psychomotorischer Unruhe,
Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Bei den phobischen Störungen werden die Schwindelattacken
häufig situativ ausgelöst (Warteschlangen, enge Räume etc.), dies führt zur Vermeidung
solcher Situationen und in der Folge zu einer enormen Beeinträchtigung des Alltags-
und Berufslebens dieser Patienten. Meist werden die Beschwerden - auch bei depressiven
Reaktionen - auf die Schwindelerkrankung zurückgeführt.
Grundsätzlich sollte deshalb frühzeitig differentialdiagnostisch an den "somatoformen
Schwindel" gedacht und entsprechende psychosomatische Diagnostik und ggf. eine entsprechende
psychotherapeutische und/oder psychopharmakologische Therapie eingeleitet werden.
Günther Buck