Orthopädie und Unfallchirurgie up2date 2007; 2(1): 1-20
DOI: 10.1055/s-2007-966177
Schultergürtel und obere Extremität

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Distale Radiusfrakturen

T.  Uzdil1 , K.  H.  Winker1
  • 1Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Notfallzentrum Helios-Klinikum Erfurt
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Publication Date:
27 February 2007 (online)

Einleitung

Epidemiologie und Ätiologie

Von regionalen Unterschieden abgesehen, ist jeder sechste Knochenbruch beim Menschen eine distale Radiusfraktur [17]. Sie ist damit die häufigste Frakturform am Menschen überhaupt und betrifft mit einer Inzidenz von 2 : 1000 in 80 % der Fälle das weibliche Geschlecht über 50 Jahre [8]. Der hohe Anteil an postmenopausaler Osteoporose wird dafür mitverantwortlich gemacht [25]. Ein zweiter Häufigkeitsgipfel wird beim jüngeren männlichen Geschlecht im Rahmen von Hochrasanztraumen beobachtet.

Je nach Stellung der Handwurzel zum distalen Radius kommt es in 90 % der Fälle zu Extensions- und in 10 % zu Flexionsfrakturen. Die Bruchform ist dabei von der Stärke und der Richtung des wirkenden Kraftvektors abhängig. Extensionsfrakturen (Abb. [1]) entstehen bei einer Überstreckstellung vom Karpus zu distalem Radius von 40 - 90°; darüber hinaus kommt es zu Luxationen und Luxationsfrakturen der Handwurzel, darunter zu Unterarmbrüchen. Bei gebeugtem Handgelenk kommt es dagegen zu palmaren Absprengungen bzw. Flexionsfrakturen (Abb. [2]).

Abb. 1 Beispiel einer distalen Radiusextensionsfraktur AO-Typ 23 C2 mit Osteoporose. Abb. 2 Die Stellung der Handwurzel zum distalen Radius bestimmt den Frakturtyp. A: Luxation/Luxationsfraktur, B: Extensionsfraktur, C: Unterarmfraktur, D: Flexionsfraktur.

Anatomische Vorbemerkungen

Der distale Radius bildet das radiokarpale sowie radioulnare Gelenk und ist Widerlager für den Discus triangularis sowie die kräftigen dorsalen und palmaren extrinsischen Bandverbindungen. Er ist dadurch Hauptpfeiler der karpalen Kraftübertragung und nimmt bei einer Traumatisierung über 3 anatomische Säulen verschiedene Kraftvektoren auf (Abb. [3], Abb. [4]). Die radiale Säule wird durch den Processus styloideus radii und die Fossa scaphoidea gebildet. Zentral werden die Kräfte über die Fossa lunata und den radialen Anteil des distalen Radioulnargelenkes (DRUG) aufgenommen; die ulnare Säule verläuft über den ulnokarpalen Komplex [20]. Dieser wird durch den triangulären fibrokartilaginären Komplex (TFCC), extrinsische Bänder und die distale Ulna gebildet. Radial und zentral werden rund 80 % der axialen Kräfte abgefangen. Die radiokarpale Gelenkfläche besitzt eine Ulnarinklination mit einem radioulnaren Winkel von ca. 25° und eine Palmarinklination mit einem dorsopalmaren Winkel von 10° (Abb. [5] [6] [7]).

Abb. 3 Anatomie distaler Unterarm (Quelle: Schunke et al. Prometheus - Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Stuttgart: Georg Thieme Verlag, 2004). Abb. 4 3-Säulen-Modell nach D. Rikli 20 (Quelle: OP-Journal 1/2003, Thieme Verlag). Abb. 5 Bestimmung der Ulnarinklination des distalen Radius (Quelle: OP-Journal 1/2003, Thieme Verlag). Abb. 6 Bestimmung der Palmarinklination des distalen Radius (Quelle: OP-Journal 2/2003, Thieme Verlag). Abb. 7 Schematische Darstellung zur Bestimmung der radialen Länge am distalen Radius und der Ulnarvarianz (Quelle: OP-Journal 2/2003, Thieme Verlag).

Die komplexe Biomechanik gründet sich auf ein harmonisches Zusammenspiel der gelenkbildenden Komponenten und ermöglicht eine multidirektionale Funktion inkl. der Pro- und Supinationsbewegungen. Eine Veränderung der Gelenkwinkel und Achsenverhältnisse hat zwangsläufig eine funktionelle Einschränkung zur Folge [9].

Hierbei hat das Längenverhältnis zwischen Radius und Ulna, also die Verletzung des DRUG, trotz seiner anatomischen Plus- und Minusvarianten einen höherwertigen Einfluss auf die posttraumatische Beweglichkeit im Handgelenk als dorsopalmare und radioulnare Winkelfehlstellungen. Bereits Gelenkstufen > 1 mm, radiale Verkürzungen > 2 mm und dorsopalmare Verkippungen von > 10° stellen eine Präarthrose dar 13.

Klassifikation

Nach Erstbeschreibung der Extensionsfrakturen am distalen Radius durch Pouteau im Jahre 1783 erfolgte 1814 die erste vereinfachte Klassifikation durch Colles [4]. Die Flexionsfrakturen wurden 1847 erstmals durch Smith beschrieben. Seit dieser Zeit sind eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur Klassifizierung des Ausmaßes radiokarpaler Gelenkschädigungen erarbeitet worden. Ziel war es neben der Beurteilung der knöchernen Läsion auch eine Aussage zur Stabilität nach Reposition sowie eine therapeutische Konsequenz und Prognose abzuleiten. Neben Klassifikationen von Frykman, Sarmiento, Thomas, Melone und anderen hat sich im deutschsprachigen Raum die AO-Klassifikation durchgesetzt (Abb. [8], Abb. [9]). Sie besitzt den Vorteil der direkten Umsetzbarkeit in eine therapeutische Strategie. Wir unterscheiden A-, B- und C-Frakturen, wobei A-Frakturen radiokarpal immer extraartikuläre Brüche sind. Die B-Frakturen sind partielle und die C-Frakturen vollständige radiokarpale Gelenkbrüche. A2-, A3- sowie C1- bis C3-Frakturen sind dabei reine Extensionsfrakturen und die B3-Frakturen stellen neben möglichen Mischformen reine Flexionsfrakturen dar.

Abb. 8 Klassifikation nach Melone 12 zur Beurteilung von instabilen Schlüsselfragmenten (Quelle: Aktuelle Traumatologie 3/2005). Abb. 9 AO-Klassifikation nach Müller 14 zur Beurteilung von Art und Umfang der Gelenkbeteiligung am distalen Unterarm (Quelle: Aktuelle Traumatologie 3/2005, Thieme Verlag).

Eine weitere wichtige Differenzierung ist die Einteilung in stabile und instabile distale Radiusfrakturen. Aus dieser lässt sich dann unter Berücksichtigung der AO-Klassifikation direkt ein Behandlungsverfahren ableiten oder ausschließen. Hierbei haben sich die Instabilitätskriterien nach Jupiter bewährt [6]. Zwei von sechs Kriterien, wie die Verkippung der radiokarpalen Gelenkfläche über 20°, eine Radiusverkürzung über 2 mm, dislozierter Abbruch des Processus styloideus ulnae, eine metaphysäre (dorsale) Trümmerzone, eine dislozierte intraartikuläre Fraktur und eine radioulnare Dislokation, begründen die Instabilität.

Dislozierte Flexionsfrakturen sind immer instabil. Hintergrund Instabilitätskriterien nach Jupiter 6 Dorsalkippung > 20° axiale Einstauchung > 2 mm metaphysäre Trümmerzone assoziierte Ulnafraktur, Abbruch Processus styloideus dislozierte intraartikuläre Fraktur radioulnare Instabilität

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Dr. med. Torsten Uzdil

Oberarzt
Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie, Notfallzentrum

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