Prof. Dr. med. Dr. phil. Martin Hambrecht
Auch wenn an vielen Orten lokale „gemeindepsychiatrische” Initiativen engagierter
Bürger, Landesherren oder Kirchen bis ins 18. und 19. Jahrhundert zurückweisen, formierte
sich das Konzept der Gemeindepsychiatrie im deutschen Sprachraum erst in Verbindung
mit der Psychiatrieenquete 1975. Insbesondere in den angelsächsischen Ländern hatte
sich der Begriff „Community psychiatry” bereits 20 Jahre früher fest etabliert.
Community psychiatry bedeutete dabei „Psychiatry focusing on detection, prevention,
early treatment, and rehabilitation of emotional and behavioral disorders as they
develop in a community” [1]. Damit wird Community psychiatry durch ihre Inhalte definiert. Deutsche Definitionen
stellten hingegen eher Strukturen in den Mittelpunkt und kennzeichneten beispielsweise
noch 1999 „gemeindenahe Psychiatrie” als „seit 1964 praktizierte Organisationsform
psychiatrischer Behandlung. Die Leistungen psychiatrischer Krankenhäuser, niedergelassener
Ärzte, von Übergangseinrichtungen, Gesundheitsbehörden und Beratungsstellen werden
organisatorisch zusammengefasst und systematisiert” [2]. Ein Vergleich der beiden Definitionen führt zur These, dass es der deutschen Psychiatrielandschaft
an inhaltlichen Visionen mangelt und Organisationsfragen zu große Aufmerksamkeit geschenkt
wird.
In der Psychiatrieeenquete von 1975 wurden zentrale Forderungen formuliert, die unter
anderem durch mehr Gemeindepsychiatrie umgesetzt werden sollten: Gleichstellung psychisch
mit körperlich Kranken; Gemeindenähe; Kontinuität in der Behandlungskette und Schaffung
von Übergangseinrichtungen und Verkleinerung der Großkrankenhäuser, Schaffung kleinerer
Behandlungseinheiten.
Obwohl die Gemeindepsychiatrie der letzten 30 Jahre nach besten Kräften für die Realisierung
dieser Ziele arbeitete und dabei immer wieder sehr erfolgreich war, bleiben diese
Forderungen der Enquete auch heute aktuell. Die Gleichstellung der psychisch mit den
körperlich Kranken ist auf dem Papier vollzogen. Im Großen wie im Kleinen wird aber
jeden Tag deutlich, dass hier für alle Beteiligten noch viel zu tun bleibt. Ein gravierendes
Beispiel ist die Unterfinanzierung der ambulanten nervenärztlichen Versorgung. Kleine
Beispiele erleben wir immer wieder, wenn z. B. psychisch Kranke ablehnend behandelt
werden, wenn sie körperlich erkranken.
Die Gemeindenähe ist vor allem in den Flächenländern noch nicht vollständig realisiert
[3]. Wo die alten Landeskrankenhäuser noch dominieren, gibt es auch heute Anfahrtswege
von über 50 km. Gemeindenähe ist allerdings nicht nur in Kilometern zu messen. Isoliert
und damit gemeindefern können psychisch Kranke, Sucht- oder Alterskranke auch in Gettos
mitten in der Stadt leben, wenn sie keine Möglichkeit haben, am Gemeindeleben teilzuhaben.
Kontinuität in der Behandlungskette bleibt eine ebenso schwierig zu realisierende
Aufgabe angesichts der Zersplitterung der Kostenträgerlandschaft, der Aufspaltung
von Budgets und der vielerorts unübersichtlichen Vielzahl von Diensten.
Auch wenn die Psychiatriereform hinsichtlich des Versorgungssystems nicht als abgeschlossen
gelten kann [3], wurden die strukturellen Forderungen der Psychiatrieenquete noch am besten umgesetzt.
Häuser sind leichter zu bauen als Herzen umzustimmen. Übergangseinrichtungen (Tageskliniken,
betreute Wohn- und Arbeitsformen) wurden in den Ballungsgebieten geschaffen, fehlen
aber in vielen ländlichen Regionen. Teilweise durch Umsetzung in psychiatrische Heime,
teilweise aber auch durch Abtretung von Pflichtversorgungsgebieten an Abteilungspsychiatrien
wurden die ehemaligen psychiatrischen Großkrankenhäuser deutlich verkleinert. Heute
verfügen die 202 Fachkrankenhäuser für Psychiatrie und Psychotherapie im Mittel über
144 Betten. Die 220 Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern haben im Mittel 81 Betten.
Insgesamt gibt es über 8000 Tagesklinikplätze, sodass knapp 20 % aller Klinikplätze
in Tageskliniken vorgehalten werden.
Gemeindepsychiatrie heute
Gemeindepsychiatrie heute
Wenn wir Gemeindepsychiatrie als angewandte Sozialpsychiatrie verstehen, dann wird
deutlich, warum die Diskussion um die Gemeindepsychiatrie immer eine politische Debatte
war und ist. Diese Debatte hat sich in den zurückliegenden 30 Jahren deutlich gewandelt.
War es damals allgemein akzeptiert, dass Sozialpsychiatrie auch gesellschaftspolitische
Ziele verfolgt, so müssen wir in den zurückliegenden Jahren eine Entpolitisierung
der Diskussion feststellen. Wurde in den 60er- und 70er-Jahren noch explizit der Abbau
von Ungleichheiten, gelebte Solidarität und soziale Gerechtigkeit eingefordert, so
stehen heute Verwaltungsbegriffe wie „Zielgruppenmanagement” oder „Ressourcenallokation”
im Mittelpunkt.
Was aber ist nun zeitgemäß in der Gemeindepsychiatrie? - Ist man schon modern, wenn
man managt und nicht mehr verwaltet? Ist man modern, wenn man personenzentriert umfangreiche
Rehabilitationspläne zu Papier bringt? [3] In die Mottenkiste gehören zweifellos Begriffe wie „extramurale Dienste” oder auch
„komplementäre Dienste”, die die Sichtweise einer überkommenen auf Großkrankenhäuser
zentrierten, in Anstaltsmauern eingefriedeten Psychiatrie illustrieren. Heute verbringt
der chronisch psychisch Kranke (hoffentlich) den allergrößten Teil seines Lebens außerhalb
des Krankenhauses, sodass in einer modernen Gemeindepsychiatrie allenfalls das Krankenhaus
als „komplementär” zu bezeichnen ist. Der stationäre Bereich kann vor dem Hintergrund
erzwungenermaßen sinkender Verweildauern meist nur die Funktion der Krisenintervention
übernehmen. Die eigentliche Versorgung hingegen geschieht im außerstationären Bereich.
Gemeindepsychiatrie beinhaltet immer auch die Forderung, dass sich Kommunen mitverantwortlich
für die psychiatrische Versorgung im Sinne der Daseinsfürsorge für ihre Bürger mit
ihren Grundbedürfnissen fühlen. Hier wurde in den zurückliegenden Jahrzehnten viel
erreicht. Angesichts der zunehmenden Zersplitterung der Dienste werden Aufgaben der
Vernetzung und Koordination immer wichtiger. Da Kommunen im Idealfall keine eigenen
ökonomischen Interessen haben, sollten diese Aufgaben auch bei den Kommunen verbleiben.
Daneben spielen Kommunen für chronisch psychisch Kranke eine wichtige Rolle in der
Daseinsfürsorge durch die Gewährung von Transferleistungen, aber auch bei der immer
wichtigeren Aufgabe der Wohnungsversorgung für psychisch kranke Wohnungslose, deren
Hilfebedarf und Anzahl zunehmende Probleme stellt.
Die Rolle der einzelnen Akteure innerhalb der Gemeindepsychiatrie hat sich in den
letzten Jahren gewandelt und wird sich weiter wandeln. Aufgrund der gesundheitspolitisch
gewollten Strangulation der niedergelassenen Psychiater wird es diesen auch bei größtem
Einsatz kaum noch möglich sein, eine echte Rolle in der sozialpsychiatrischen Versorgung
zu spielen. Auf die Dauer kann sich kein niedergelassener Kollege den unbezahlten
Extraeinsatz erlauben, der hier notwendig wäre. Niedergelassene Psychiater und Psychotherapeuten
werden sich aber weiterhin um die mündigen, kooperativen, d. h. letztlich weniger
schwer Kranken kümmern. Komplexe, nur multidisziplinär zu versorgende Krankheiten
und Behinderungen werden hingegen zunehmend in den Ambulanzen der Krankenhäuser oder
arbeitsteilig durch verschiedene Dienste geleistet werden.
Dabei wird die Versorgungssituation für chronisch Kranke immer komplexer und auch
für die Profis oft nicht mehr zu überblicken. Allein innerhalb der Kommune sind schon
bis zu vier Dienststellen mit einem einzigen Patienten befasst: Betreuungsstelle,
Sozialpsychiatrischer Dienst, Sozialamt, Wohnungsamt. Dazu kommt dann die behandelnde
Arztpraxis oder Klinikambulanz, der gesetzliche Betreuer, der Träger für das betreute
Wohnen, evtl. eine Rehabilitationswerkstatt bzw. die Agentur für Arbeit, möglicherweise
ein Psychotherapeut und vorübergehend die Hilfeplankonferenz, eine Krankenhausstation
oder Tagesklinik. Der Abstimmungsbedarf steigt. Immer mehr Sitzungen werden erforderlich.
Wir sprechen mehr über den Patienten als mit dem Patienten. Die typische Antwort des
Versorgungssystems: mehr Bürokratie, mehr Pläne, mehr Formalismus. Nötig ist eine
radikale Vereinfachung: trägerübergreifende Zusammenfassung von Dienststellen und
weitreichende Kompetenzen für die Hauptbezugsperson, den „Case manager”.
Mit dem politisch gewollten Bedeutungsverlust der niedergelassenen Ärzteschaft stellt
sich zunehmend die Frage nach der Versorgung am Abend, in der Nacht und am Wochenende.
Die Mitarbeiter in der psychiatrischen Versorgung haben hier unterschiedliche Bedürfnisse
und zeigen durchaus eine unterschiedliche Mentalität in Abhängigkeit von der Institution,
in der sie arbeiten. Das „Dienstzeitdenken” ist in den unterschiedlichen Kulturen
Krankenhaus, Praxis und öffentlicher Verwaltung sehr unterschiedlich ausgeprägt, was
zweifellos in der zunehmend notwendigen vernetzten Versorgung einige Anpassungsleistungen
erfordern wird.
Separat bezahlte psychiatrische Notdienste bieten hier die Möglichkeit das Dienstzeitdenken
zu überwinden, benötigen jedoch eine eigene Finanzierung, die angesichts der knappen
öffentlichen Kassen im Wesentlichen nur über Spenden und freiwillige Zuwendungen möglich
ist. Letztlich ist eine echte Deinstitutionalisierung aber auch 30 Jahre nach der
Psychiatrieenquete nur möglich, wenn sie mit einer entsprechenden Flexibilisierung
der Arbeitszeiten der Mitarbeiter für eine ambulante Versorgung rund um die Uhr einhergeht.
Bedarfsbezogener Mitteleinsatz
Bedarfsbezogener Mitteleinsatz
Hier schließt sich eine weitere Forderung einer modernen Gemeindepsychiatrie an: Der
personenzentrierte Ansatz [4] kann nicht nur von denen erwartet werden, die behandeln, beraten, begleiten oder
beim Wohnen und in der Freizeit betreuen, sondern muss auch von denjenigen wahrgenommen
werden, die diese Leistungen finanzieren. Moderne Gemeindepsychiatrie heißt Koordination
- Koordination aber nicht nur aufseiten der Leistungsanbieter, sondern auch aufseiten
der Kostenträger.
Realität ist heute eine extreme Zersplitterung der Kostenträger, deren nachvollziehbares
Eigeninteresse darin besteht, möglichst nachzuweisen, dass man nicht zuständig ist. So beschäftigen einzelne Krankenkassen eigens Berater mit dem Ziel,
Leistungen in den Bereich der Rehabilitation zu verschieben, weil diese von den Rentenversicherern
zu finanzieren ist. Umgekehrt verschleppen Kostenträger Entscheidungen über geschützte
Wohnformen, sodass Krankenkassen für Patienten ohne Wohnperspektive weiter im Krankenhaus
aufkommen müssen. Alltag sind auch die zahlreichen Konflikte zwischen örtlichen und
überörtlichen Sozialhilfeträgern über die Zuständigkeit bei der Versorgung psychisch
kranker Wohnungsloser. Hier könnten viele Stunden Sozialarbeit nützlicher eingesetzt
werden als in ermüdender Korrespondenz mit den verschiedensten Institutionen. Gemeindepsychiatrie
muss deshalb fordern, dass die Kostenträger sich an einen Tisch setzen und hier ebenso
personenzentriert zusammenarbeiten, wie dies von den Leistungsanbietern mit Recht
gefordert und realisiert wird.
Bestand vor 30 Jahren ein enormer Nachholbedarf auf nahezu allen Gebieten der Versorgung
psychisch Kranker, so geht es heute um eine faire Verteilung der zur Verfügung stehenden
Ressourcen. Wie kann dies gelingen? Epidemiologische Daten können dazu beitragen,
den Hilfebedarf abzuschätzen. Was brauchen 300 000 durch Schizophrenie chronisch behinderte
Menschen, 2,5 Mio Alkoholkranke, 8 Mio depressive Menschen und über 1 Mio Demenzkranke?
Nicht nur die Häufigkeit, sondern auch das Ausmaß der Krankheitsschwere und der resultierenden
dauerhaften sozialen Behinderung sind zu berücksichtigen.
Vor dem Hintergrund der zentralen Forderung der Psychiatrieenquete nach Enthospitalisierung
und gemeindenaher Versorgung chronisch Kranker war das gemeindepsychiatrische Hilfesystem
traditionell vor allem auf schizophrene Psychosen hin ausgerichtet. Suchterkrankungen
werden in einem separaten System versorgt und die in den letzten Jahren zunehmend
in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückten Demenzerkrankungen wiederum in einem
anderen Hilfesystem. Diese Hilfesysteme unterscheiden sich nicht nur in ihrem Personal
und therapeutischen Institutionen, sondern auch in den jeweils zuständigen Verwaltungen
und deren spezielle gesetzlichen Regelungen und Verwaltungsvorschriften, z. B. für
Fördermittel.
Die Probleme, die aus diesen abgetrennten Hilfesystemen resultieren, werden zunehmend
deutlich. Wir beobachten in den letzten Jahren eine Verschiebung des Diagnosespektrums,
so dass die Zuordnung zu den drei Hauptgruppen (Psychose, Sucht, Gerontopsychiatrie)
immer schwieriger wird. Insbesondere bei der Doppeldiagnose von Psychose und Sucht,
bei den Persönlichkeitsstörungen und bei den alt werdenden psychisch Kranken wächst
der Bedarf. Es entsteht die zwingende Notwendigkeit zur Zusammenarbeit zwischen den
bislang separierten Hilfesystemen. Die Beharrungskräfte innerhalb der jeweiligen Systeme
haben sich hierauf noch nicht ausreichend eingestellt. Die Fördermittel für Jugendhilfe,
Altenhilfe, Sozialpsychiatrie oder auch Psychosomatik werden noch immer separat verwaltet.
Auch vonseiten der Kostenträger besteht der Wunsch nach Trennung, um die Zuständigkeiten
besser abgrenzen zu können. Dies wird jedoch den Bedürfnissen der Betroffenen immer
weniger gerecht.
Die Grundbedürfnisse sind zwar relativ ähnlich: Wohnen, Beschäftigung, Freizeitgestaltung,
medizinische und psychologische Therapie werden von allen Diagnosegruppen nachgefragt.
Aufgrund der unterschiedlichen Defizite und Verhaltensauffälligkeiten werden jedoch
jeweils besondere Erfahrungen von den Betreuungspersonen verlangt, die sich angesichts
der wachsenden Zahl von Doppel- und Dreifachdiagnosen komplexeren Aufgaben gegenüber
sehen. Die Anforderungen an die Flexibilität der Mitarbeiter und an ihre Qualifikation
steigen demnach. Hier hat die Allgemeinpsychiatrie, zumal als Abteilung am Allgemeinkrankenhaus,
einen Erfahrungsvorsprung, weil sie sich traditionell mit allen Diagnosegruppen und
mit komplexen Problemstellungen auseinanderzusetzen hat. Im Bereich der ambulanten
bzw. gemeindepsychiatrischen Versorgung besteht hingegen Nachholbedarf.
Stigma und Ghettobildung
Stigma und Ghettobildung
Gemeindepsychiatrie arbeitet im selben Umfeld, in dem auch soziales Stigma erlebt
und erlitten wird. Moderne Gemeindepsychiatrie muss sich deshalb mit Ausgrenzung,
Abwertung, Entmenschlichung psychisch Kranker auseinandersetzen. Stigmatisierung umfasst
aber nicht nur ausgrenzende Verhaltensweisen, sondern auch die damit einhergehenden
Gedanken und Gefühle: Vorurteile, Ängste, Aggressionen gegenüber dem Fremden, dem
Anderen, dem Unvorhersehbaren - C. G. Jung hätte gesagt, „dem Schatten” in uns allen.
Stigmatisierung hat also eine psychologische Funktion für den Stigmatisierer, und
das ist einer der Gründe, weshalb jahrelange engagierte Öffentlichkeitsarbeit es nicht
vermocht hat, die Stigmatisierung psychisch Kranker zu beenden. Bei großen Umfragen
denken beim Stichwort „Schizophrenie” viele Befragte an Gefahr und Gewalt, aber nur
wenige an Behandlung. Die Bevölkerung ist zwar besser informiert, die soziale Distanz
zu psychischen Kranken hat aber eher noch zugenommen. Allgemeine Aufklärung ist zwecklos.
Da macht eine einzige Schlagzeile die bescheidenen Fortschritte mühsamer Kampagnen
im Handumdrehen zunichte. Aber lokale Aktionen mit direkter Begegnung zum Beispiel
von Schülern mit psychisch Kranken [5] und der Möglichkeit zu emotionalem Lernen ist sinnvoll.
Wie reagiert ein Mensch, der Stigmatisierung erlebt? Diese „zweite Krankheit”, wie
Asmus Finzen [6] das Stigma nannte, resultiert in Hoffnungs- und Hilflosigkeit und in Depression.
Aus Selbstschutz kommt es verständlicherweise zum Rückzug und zum Zusammenschluss
mit ebenfalls Betroffenen. Die Interessen der gesunden Mehrheit und der betroffenen
Minderheit führen zu einer Ghettoisierung chronisch psychisch Kranker, die wir also
gemeindepsychiatrische Subkultur heute in allen Städten vorfinden. Moderne Gemeindepsychiatrie
muss als Realität akzeptieren, dass viele chronisch Kranke sich ein Netz von Betreuungspersonen
und Therapeuten als Ersatz für ein „normales soziales Netz” schaffen und im Übrigen
fast nur Kontakt zu anderen Betroffenen pflegen. Viele erleben nur noch hier Verständnis
und Akzeptanz anstelle von Ablehnung und Stigmatisierung.
Vor diesem Hintergrund sind Integrationsangebote zwar nötig, forcierte Integration
trägt hingegen das Risiko einer Dekompensation in sich. In diesem Kontext steht die
aktuelle Diskussion [7], die sich aus der Etablierung spezieller Angebote für chronisch psychisch Kranke,
z. B. im Bereich von Arbeiten und Wohnen, ergeben hat. Zunehmend wird infrage gestellt,
dass separate Werkstätten für Rehabilitation oder Wohnheime für psychisch Kranke geschaffen
und erhalten werden. Vielmehr wird von verschiedenen Autoren gefordert, stärker die
allgemeinen Angebote innerhalb einer Kommune in Anspruch zu nehmen und z. B. betreute
Arbeitsplätze in ganz normalen Firmen oder für die Freizeit Integrationsangebote in
normalen Sportvereinen zu schaffen, statt eigene Sportgruppen für psychisch Kranke
ins Leben zu rufen. Nur so bestehe eine Chance zur Integration.
Moderne Gemeindepsychiatrie bietet jedoch ein breites Angebot, damit je nach sozialer
Kompetenz dem psychisch Kranken die Möglichkeit gegeben ist, sich entweder in eigene
„Reservate” zurückzuziehen oder aber unter entsprechender psychosozialer Begleitung
wie jeder andere Bürger Arbeits-, Wohn- oder Freizeitmöglichkeiten in der Kommune
wahrzunehmen. Demnach brauchen wir weiterhin sowohl separate als auch integrierte
Angebote.