Z Orthop Unfall 2007; 145(2): 116-120
DOI: 10.1055/s-2007-980295
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Grundlagen der Leitlinien-Entwicklung und -Bewertung

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Publikationsdatum:
01. Juni 2007 (online)

 
Inhaltsübersicht

Die Entwicklung von Leitlinien erlebt seit Beginn der 90er Jahre einen beachtlichen Aufschwung. Dieser ist beispielsweise an der Zunahme von Publikationen zu diesem Thema in den letzten Jahren erkennbar. Es werden die Grundlagen und der aktuelle Stand der Leitlinien-Entwicklung und -Bewertung beschrieben und einige Aspekte der zukünftigen Entwicklung aufgezeigt.

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Bisherige Entwicklung

Die Gesundheitsversorgungssysteme der meisten Staaten stehen derzeit vor großen Herausforderungen: Einerseits eröffnet der medizinische Fortschritt hervorragende Chancen für eine verbesserte gesundheitliche Versorgung, andererseits wird diese Entwicklung durch die begrenzten finanziellen Ressourcen eingeschränkt. In vielen Ländern wird gegenwärtig versucht, durch Reformen der Gesundheitsversorgungssysteme auf diese Problematik zu reagieren. Dabei wird insbesondere intendiert, Über-, Unter und Fehlversorgung durch gezielte Maßnahmen zu vermeiden und die Qualität der gesundheitlichen Versorgung zu sichern. In diesem Prozess könnten Leitlinien eine zentrale Bedeutung erlangen. Dass die Entwicklung von Leitlinien seit Beginn der 90er Jahre bereits einen beachtlichen Aufschwung erlebt, wird z. B. daran erkennbar, dass sich die Anzahl der jährlichen Publikationen zum Thema "Leitlinien" nach einer Recherche in der Medline-Datenbank der National Library of Medicine und des National Institutes of Health in den letzten zehn Jahren verdreifacht hat (Abb. [1]).

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Abb. 1 Publikationen zum Thema "Leitlinien" in Medline zwischen 1995-2005

Den Anstoß für die Leitlinienentwicklung gab insbesondere die Empfehlung des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zur Erstellung von Leitlinien durch die wissenschaftlichen Gesellschaften im Jahre 1994. Darauf basierend koordiniert die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) seit 1995 die Leitlinienerstellung ihrer Mitgliedsgesellschaften und entwickelte ein umfassendes Programm zur Qualitätsförderung medizinischer Leitlinien. Zeitlich parallel begannen die ärztlichen Selbstverwaltungskörperschaften mit Aktivitäten zur Disseminierung und Implementierung evidenzbasierter Leitlinien - unter anderem zu diesem Zweck wurde 1995 das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) als gemeinsames Institut von Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) gegründet. 1999 wurde das Deutsche Leitlinien-Clearingverfahren etabliert. Im Jahr 2000 veröffentlichten AWMF und ÄZQ als Grundlage für die Methodik und Implementierung nationaler Leitlinien in Deutschland gemeinsam das Leitlinienmanual [1], und ein Jahr später beschloss der Ministerrat des Europarates unter Zustimmung der deutschen Bundesregierung Empfehlungen zur Qualitätsförderung von Leitlinien [2] [siehe 3; 4].

Trotz des international und national zunehmenden Interesses an Leitlinien bestehen in einigen Bereichen jedoch noch erhebliche Vorbehalte gegen deren Verwendung, die sich nicht selten in kritischen Äußerungen wie z. B. Leitlinien führen zur "Kochbuchmedizin" oder zum "Ende der ärztlichen Therapiefreiheit" manifestieren.

Im vorliegenden Beitrag werden die Grundlagen und der aktuelle Stand der Leitlinien-Entwicklung und -Bewertung beschrieben und dabei auch einige Aspekte der zukünftigen Entwicklung aufgezeigt.

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Begriffsbestimmung und Ziele von Leitlinien

Medizinische Leitlinien sind systematisch entwickelte Feststellungen mit dem Ziel, wichtige Entscheidungen von Ärzten und Patienten über eine angemessene Versorgung bei spezifischen gesundheitlichen Problemen zu unterstützen [2]. Dabei werden Leitlinien als "Orientierungshilfen im Sinne von ‚Handlungs- und Entscheidungskorridoren' verstanden, von denen in begründeten Fällen abgewichen werden kann oder sogar muss" [1, S. 5]. Auch der Europarat weist in diesem Zusammenhang explizit darauf hin, dass Leitlinienempfehlungen das fundierte klinische Urteil nicht ersetzen können, zumal sie sich nicht auf ein Individuum, sondern eher auf den "durchschnittlichen Patienten" beziehen. Leitlinien müssen daher in dem Sinn flexibel sein, dass sie auf individuelle Bedürfnisse zugeschnitten und Wünsche des Patienten berücksichtigt werden können [2]. Leitlinien unterscheiden sich damit in ihrem Flexibilisierungsgrad und im Grad ihrer Verbindlichkeit von Richtlinien, welche Regelungen des Handelns oder Unterlassens wiedergeben, die "von einer rechtlich legitimierten Institution konsentiert, schriftlich fixiert und veröffentlicht wurden, für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich zieht" [5, S. A 2154].

Nach der Empfehlung des Europarates besteht das vorrangige Ziel von Leitlinien in der Unterstützung und Förderung guter medizinischer Praxis [2]. Gegenüber anderen Entscheidungshilfen für Leistungserbringer ist dabei das "Besondere an Leitlinien darin zu sehen, dass die Sicherung der individuell angemessenen medizinischen Versorgung nicht intuitiv und aufgrund von impliziten und intransparenten Handlungsmaximen erfolgt, sondern auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse anhand von systematisch entwickelten und konsentierten Handlungsempfehlungen" [6, S. 1]. Als Maßnahmen der evidenzbasierten Gesundheitsversorgung [4] haben Leitlinien dabei die Aufgabe, das umfangreiche Wissen zu speziellen Versorgungsproblemen zu werten, gegensätzliche Standpunkte zu klären und unter Abwägung von Nutzen und Schaden das derzeitige Vorgehen der Wahl zu definieren [1]. Mit Hilfe von Leitlinien sollen Entscheidungen in der medizinischen Versorgung damit auf eine rationale Basis gestellt und die Position des Patienten gestärkt werden [2]. In diesem Kontext dienen Leitlinien dazu, unnötige und überholte medizinische Maßnahmen und damit unnötige Kosten zu vermeiden, unerwünschte Qualitätsschwankungen im Bereich der ärztlichen Versorgung zu vermindern und die Öffentlichkeit über notwendige und allgemein übliche ärztliche Maßnahmen bei speziellen Gesundheitsproblemen zu informieren [1]. Schließlich können Leitlinien dazu beitragen, die Qualität der Versorgung nicht nur zu verbessern, sondern auch zu messen, indem Indikatoren der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität direkt aus Leitlinien abgeleitet werden [7].

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Der Prozess der Leitlinienerstellung

Der Prozess der Leitlinienerstellung muss systematisch, unabhängig und transparent sein [1; 2]. Die Systematik der Leitlinienerstellung beinhaltet dabei (1) die Organisation der Leitlinien-Entwicklung, welche z. B. die Nennung der verantwortlichen Institution oder Angaben über finanzielle Unterstützung umfasst, (2) die Auswahl des Leitlinien-Themas und (3) der Leitlinien-Autoren, (4) die systematische Evidenz-Recherche, (5) die Formulierung der Empfehlungen/formalisiertes Konsensusverfahren, (6) die Begutachtung durch unabhängige Reviewer vor der Veröffentlichung und die Testung der Leitlinie in einem Pilotversuch, (7) die Präsentation, Disseminierung und Implementierung sowie (8) die planmäßige Überarbeitung der Leitlinie. Für eine detaillierte Beschreibung dieser Abschnitte der Leitlinienentwicklung, -disseminierung und -implementierung sei auf das Leitlinien-Manual verwiesen, dessen Gliederungsabschnitte sich explizit an diesen Entwicklungsschritten orientieren. Bezogen auf die wissenschaftliche Qualität von nationalen Leitlinien besteht eine wesentliche Forderung demnach in ihrer Evidenzbasierung. Eine evidenzbasierte Strategie der Leitlinienentwicklung zeichnet sich durch die systematische Aufarbeitung und Zusammenstellung der besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz, die darauf basierende Herleitung des in der Leitlinie empfohlenen Vorgehens, die Dokumentation des Zusammenhangs zwischen der jeweiligen Empfehlung und der zugehörigen Evidenz-Stufe sowie die Auswahl der evidenzbasierten Schlüsselempfehlungen aus. Letzteres erfolgt dabei mit Hilfe formalisierter Konsensverfahren [zit. nach 1]. Techniken, mit deren Hilfe die methodische Qualität und klinische Bedeutung einer Behandlungsempfehlung standardisiert und transparent gekennzeichnet werden können, sind die Angabe von Evidenzstärke und Empfehlungsklassen (grades of recommendations) [8]. Beispiele hierfür z. B. in Anlehnung an die Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ) oder das Scottish Intercollegiate Guideline Network (SIGN) finden sich im Leitlinien-Manual sowie in den Empfehlungen des Europarates [1; 2].

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Qualität und Qualitätsbewertung von Leitlinien

Die zunehmende Erstellung und Verbreitung von Leitlinien durch verschiedene Herausgeber warf verstärkt die Frage nach der Qualität der Leitlinien selbst auf. Zur gezielten Qualitätsförderung von Leitlinien in Deutschland wurden daher in den vergangenen Jahren in Anlehnung an internationale Vorbilder verschiedene Leitlinienprogramme initiiert. Grundsätzlich kann die Evaluation der Leitlinienqualität und -angemessenheit in Form der Selbstbewertung durch die Leitlinienautoren bzw. -herausgeber selbst oder mittels Peer Review-Verfahren externer Experten erfolgen [7; 8]. Exemplarisch sollen an dieser Stelle das Deutsche Leitlinien-Clearingverfahren des ÄZQ als externe Qualitätssicherung publizierter Leitlinien nationaler oder internationaler Fachgesellschaften und das Leitlinien-Clearingverfahren der AWMF als internes Qualitätsmanagement skizziert werden. Gleichzeitig sei darauf hingewiesen, dass sich auch andere Institutionen (z. B. die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin) auf diesem Gebiet engagieren.

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Das Leitlinien-Clearingverfahren der ÄZQ

Das Leitlinien-Clearingverfahren der ÄZQ wurde 1999 initiiert. Mit dem Ziel sowohl der Qualitätsförderung der Leitlinien-Entwicklung als auch der Implementierung guter Leitlinien richtete sich das Clearingverfahren gleichermaßen an Leitlinienanbieter und an Leitliniennutzer [3]. Getragen wurde diese Initiative von 1999 bis 2005 durch die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung in Kooperation mit den Spitzenverbänden der Gesetzlichen Krankenversicherungen (1999 - 2004) undder Privaten Krankenversicherungen (2002 - 2004) sowie der Gesetzlichen Rentenversicherung (2002 - 2005) und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (1999 - 2005) [6]. Mit der Novellierung des SGB V im Jahre 2003 haben sich die politischen Rahmenbedingungen des Leitlinien-Clearingverfahrens dahingehend geändert, dass die Bewertung von Leitlinien für prioritäre Versorgungsbereiche als eine der Aufgaben des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) gesetzlich festgeschrieben wurde. Eine Zusammenfassung der zwischen 1999 und 2005 erzielten Ergebnisse des Leitlinien-Clearingverfahrens des ÄZQ sowie dessen Hintergründe und Zielsetzungen findet sich in der ÄZQ-Schriftenreihe [6]:

Im Mittelpunkt des Clearingverfahrens standen die systematische Recherche und die Qualitäts- sowie Angemessenheitsbewertung von Leitlinien zu ausgewählten Versorgungsbereichen durch unabhängige Expertengruppen. Die Ergebnisse dieser Analysen wurden in Form allgemein zugänglicher Leitlinien-Clearingberichte zur Verfügung gestellt. Zwischen 1999 und 2004 wurden insgesamt 15 Clearingverfahren durchgeführt, insgesamt wurden dabei 261 Leitlinien bewertet. Mit der (1) Identifizierung und Darlegung der besten verfügbaren Leitlinien, (2) Verbreitung der Methodologie und Nutzung evidenzbasierter Leitlinien, (3) Motivation der Fachgesellschaften zur Optimierung ihrer Leitlinien, (4) Implementierung des Leitliniengedankens im Bereich der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen, (5) Etablierung eines nationalen Forums zum Austausch über evidenzbasierte Gesundheitsversorgung und (6) internationalen Platzierung der deutschen Leitlinienszene wurden entsprechend dem Abschlussbericht die ursprünglich verfolgten Ziele des Clearingverfahrens weitgehend erreicht [6, S. 66].

Gleichzeitig wird in dem Bericht darauf verwiesen, dass eine Neuausrichtung des bisherigen Verfahrens erforderlich sei, die den veränderten fachlichen und politischen Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen habe. Als fachliche Rahmenbedingungen werden dabei die weite Verbreitung der Kenntnisse über gute Leitlinienqualität und evidenzbasierte Medizin, eine konsequente Weiterentwicklung der Leitlinienmethodik gemeinsam durch die AWMF und das ÄZQ, die Globalisierung der Leitlinienarbeit durch internationale Kooperation im Rahmen des Guidelines International Network, der zunehmende Bedarf an Aussagen zur inhaltlichen Angemessenheit (ergänzend zur formalen Qualitätsdarlegung) sowie ein zunehmender Bedarf an Nationalen Versorgungsleitlinien genannt (siehe Abschnitt 6).

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Leitlinienbewertung durch die AWMF

Ausgehend von einer kontinuierlichen Qualitätsverbesserung von Leitlinien besteht das Konzept der AWMF zur Leitlinienentwicklung in einem "Drei-Stufen-Plan": Auf der ersten Entwicklungsstufe ("Expertengruppe", S1) erarbeitet eine repräsentativ zusammengesetzte Expertengruppe der wissenschaftlich medizinischen Fachgesellschaft im informellen Konsens eine Leitlinie, die vom Vorstand der Fachgesellschaft verabschiedet wird. Auf der zweiten Entwicklungsstufe ("formale Konsensfindung", S2) werden vorhandene Leitlinien der Stufe 1 in einem bewährten formalen Konsensverfahren beraten und als Leitlinie der Stufe 2 verabschiedet. Formale Konsensmethoden sind dabei nominaler Gruppenprozess, Delphimethode und Konsensuskonferenz. Ab Entwicklungsstufe 2 sind die Leitlinien als evidenzbasierte Konsensleitlinien anzusehen. Leitlinien der dritten Entwicklungsstufe (S3) schließlich umfassen fünf Elemente der systematischen Erstellung: Konsens, Logik (klinischer Algorithmus), Evidenzbasierung, Entscheidungsanalyse und Outcome-Analyse [9; 10]. Leitlinien der dritten Entwicklungsstufe sollten dabei explizit folgenden Qualitätskriterien genügen: Validität, Reliabilität, Reproduzierbarkeit, repräsentative Entwicklung, klinische Anwendbarkeit, klinische Flexibilität, Klarheit, genaue Dokumentation, planmäßige Überprüfung, Überprüfung der Anwendung und Kosten-Nutzen-Verhältnis [5; 10]. Unter www.leitlinien.net sind die methodischen Empfehlungen der AWMF zur Erarbeitung von Leitlinien in Form einer "Leitlinie für Leitlinien" zusammengefasst.

Im November 2006 waren im Datenbanksystem der AWMF 867 Leitlinien gelistet, zusätzlich waren 110 Leitlinienprojekte angemeldet. Die Verteilung der vorhandenen Leitlinien nach den Kategorien S1 bis S3 zeigt die Abbildung 2 (Abb. [2]).

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Abb. 2 Verteilung von S1, S2 und S3-Leitlinien im System der AWMF (Nov. 2006)

Die Qualität der AWMF-Leitlinien sowie die Validität des Dreistufenkonzepts wurde in einer deskriptiven Querschnittstudie überprüft, in die 445 S1-Leitlinien, 121 S2-Leitlinien und 17 S3-Leitlinien, die zwischen 1997 und 2002 erstellt oder aktualisiert wurden, einbezogen wurden. Hierbei zeigte sich zum einen, dass die Verteilung der Entwicklungsstufen S1-S3 über alle Leitlinien hinweg im Zeitverlauf einen Trend zur Qualitätsverbesserung aufweist, und dass die Anzahl der S2- und S3-Leitlinien kontinuierlich zunimmt. Zum anderen wird aus der Studie geschlussfolgert, dass sich der Prozess der graduellen Steigerung der Anforderungen von S1 zu S3 bewährt habe, und dass die Validität der S1-S3-Klassifikation belegt werden konnte: Die methodische Qualität der Leitlinien steigt über die Entwicklungsstufen S1 bis S3 kontinuierlich an. Aus den Studienergebnissen werden jedoch auch Bereiche mit Optimierungspotenzial aufgezeigt. So erfolgt die Diskussion möglicher Interessenskonflikte ausschließlich in S3-Leitlinien, eine externe Begutachtung wird nur in 18 % der Leitlinienberichte beschrieben, und eine Pilottestung wird lediglich in 3 % der Fälle angegeben. Schließlich wird die Verantwortlichkeit für die Fortschreibung und Aktualisierung der Leitlinie nur in 8 % der Leitlinien benannt. Inhaltlich existiert im Hinblick auf die verstärkte Berücksichtigung der Patientenzielgruppe sowie hinsichtlich der Abwägung und Bewertung von Nutzen, Kosten und Risiken Verbesserungspotenzial, und ferner finden die Implementierung und Nennung messbarer Kriterien zur Überprüfung der Effektivität der Leitlinien im Hinblick auf angestrebte Versorgungsergebnisse zu wenig Beachtung [11].

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Das formale Leitlinienbewertungsinstrument DELBI

Zur formalisierten Bewertung der methodischen Qualität von Leitlinien wurde im Jahr 2005 gemeinsam von der AWMF und dem ÄZQ das "Deutsche Instrument zur methodischen Leitlinien-Bewertung (DELBI)" veröffentlicht (siehe www.leitlinien.net). DELBI ist eine Weiterentwicklung der Checkliste "Methodische Qualität von Leitlinien" des ÄZQ, das sowohl nationale Erfahrungen von AWMF und ÄZQ als auch internationale Erfahrungen z. B. der AGREE Collaboration (Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation) oder des internationalen Leitlinien-Netzwerks G-I-N berücksichtigt.

Unter "Qualität medizinischer Leitlinien" wird im Rahmen von DELBI subsumiert, dass erstens bestimmte Faktoren bei der Leitlinienentwicklung angemessen berücksichtigt worden sind (interne Validität, s.u.), dass zweitens die Empfehlungen in der Praxis umsetzbar sind, und dass drittens die Empfehlungen die Versorgung günstig beeinflussen können (externe Validität). Die zu berücksichtigenden Faktoren bei der Leitlinienentwicklung werden dabei mittels folgender fünf Komponenten konkretisiert:

  • systematische Auswahl und Bewertung der Evidenz

  • strukturierte Konsensusfindung

  • Orientierung am Ergebnis für den Patienten ("Outcome-Bewertung")

  • Abwägung von Nutzen und Risiken ("Entscheidungsanalysen") und

  • Nachvollziehbarkeit des Versorgungsablaufs ("Algorithmische Logik").

Die methodische Qualität und Praktikabilität einer Leitlinie wird insgesamt mittels 29 Kriterien gemessen, welche 7 Domänen zugeordnet sind. Während die Domänen 1-6 denjenigen des AGREE-Instruments entsprechen, enthält die Domäne 7 spezifische Anforderungen für das deutsche Gesundheitssystem. Konkret werden folgende Bereiche abgedeckt: Geltungsbereich und Zweck, Beteiligung von Interessengruppen, Methodologische Exaktheit der Leitlinienentwicklung, Klarheit und Gestaltung, Anwendbarkeit, Redaktionelle Unabhängigkeit und Anwendbarkeit im deutschen Gesundheitssystem. Im Rahmen der Domäne "Beteiligung von Interessengruppen" wird dabei u. a. explizit gefordert, dass auch Patienten/Angehörige in die Entwicklung einer Leitlinie einbezogen werden.

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Leitlinienimplementierung

Wenngleich Leitlinien in den vergangenen Jahren zunehmende Bedeutung in der Gesundheitsversorgung erlangten, ist deren Einsatz im ärztlichen Alltag und ihr Einfluss auf die Versorgungsqualität dennoch begrenzt [12]. Diese Feststellung gilt auf internationaler wie auch nationaler Ebene. So zeigte z. B. eine Fragebogenstudie an über 11 000 Internisten und Allgemeinmedizinern zur Thema "Diagnostik und Therapie der arteriellen Hypertonie", dass nur 18,8 % der Allgemeinmediziner und 26,6 % der Internisten eine adäquate Leitlinienkenntnis zeigten [13], und auch in einer aktuellen Studie zur Umsetzung von Leitlinien bei selteneren Erkrankungen wird evident, dass die Veröffentlichung von Leitlinien ärztliches Handeln nicht ausreichend beeinflusst [14]. Aspekte, die zu dieser Situation beitragen, liegen nach Selbmann & Kopp [12] u. a. in der fehlenden Identifikation mit neuen Verfahrensvorschlägen, an deren Entwicklung man nicht selbst beteiligt war, in der Befürchtung des Verlusts von Verantwortung und Entscheidungsfreiheit, in der Wahrnehmung von Leitlinien als "Kochbuchmedizin", im Festhalten an bislang gemachten Erfahrungen und im Vertrauen in bisherige Behandlungsweisen.

Damit Leitlinien in der Praxis wirksam werden, wird in der Literatur daher zunehmend darauf fokussiert, dass neben der methodischen und fachlichen Qualität von Leitlinien und deren Verfügbarkeit in Zukunft der Disseminierung und Implementierung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte (z. B. [3; 4; 12]), und auch der Europarat stellt heraus, dass die bloße Erstellung einer Leitlinie einer "Verschwendung von Ressourcen" gleichkomme, wenn man auf die Planung der übrigen Phasen verzichtet. Entsprechend sollten Erstellung, Disseminierung und Implementierung einer Leitlinie "Hand in Hand" gehen, und die Verbreitung der Leitlinie sollte bereits als Bestandteil des Erstellungsprozesses geplant werden [2]. Schließlich hebt auch das Leitlinienbewertungsinstrument DELBI zur Förderung der Implementierungsthematik im Kontext zweier Domänen explizit auf die Unterstützung der Implementierung ab.

Als Disseminierungs- und Implementierungsstrategien kommen Interventionen auf der edukativen, finanziellen, organisatorischen und regulativen Ebene in Betracht (zit. nach [2]). Konkret werden in der Literatur folgende überregionale sowie teilweise einrichtungsbezogene Interventionsstrategien genannt: Die Erstellung von Anwender- und Patientenversionen von Leitlinien, die Anpassung nationaler Leitlinien an lokale Besonderheiten, die Durchführung einer Einführungsplanung inklusive Barrierenanalyse oder Qualitätszirkel, die Ableitung von Qualitätsindikatoren zur Messung von Leitlinienkonformität und Versorgungsqualität, die regelmäßige Fortschreibung der Leitlinie und die Einbindung von Leitlinien in bestehende Projekte des Qualitätsmanagements sowie in die Ausbildung von Angehörigen verschiedener Gesundheitsberufe bzw. in Fort- und Weiterbildungsprogramme [3; 4; 12]. Als die wirkungsvollsten Implementierungsstrategien nennt der Europarat computergestützte Erinnerungssysteme, wissenschaftliche Einzelberatungen bzw. persönliche Fortbildungsbesuche eines Experten, der den Leistungserbringer direkt in der Praxisumgebung berät sowie die Anwendung vielschichtiger Implementierungsmaßnahmen bzw. die Kombination unterschiedlicher Strategien [2]. Insbesondere in Bezug auf Letzteres herrscht - auch in der aktuellen - Literatur weitgehend Konsens [z. B. 15]. Von einer klaren Evidenzlage im Hinblick auf effektive Implementierungsstrategien kann insgesamt jedoch nicht gesprochen werden. So kommen Grimshaw et al. [16] in ihrem Health-Technology-Report (HTA) unter Zugrundelegung von 235 Studien zu dem Schluss, dass "there is an imperfect evidence base to support decisions about which guideline dissemination and implementation strategies are likely to be efficient under different circumstances" (S. IV).

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Aktuelle Entwicklungen und Perspektiven

Seit 2002 existiert mit dem internationalen Leitlinien-Netzwerk G-I-N (The Guidelines International Network) ein Kommunikationsforum, welches sich durch die Unterstützung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der systematischen Entwicklung von Leitlinien und ihrer Anwendung um die Qualitätsentwicklung der Gesundheitsversorgung bemüht [17]. G-I-N verfolgt dabei u. a. folgende Ziele: Förderung von Informationsaustausch, Verbesserung und Harmonisierung der Methodik zur systematischen Leitlinienentwicklung, Verbesserung der Methodik zur Verbreitung, Implementierung und Evaluation medizinischer Leitlinien und Vernetzung von Organisationen zur verbesserten Koordination mit anderen Qualitätsinitiativen im Gesundheitswesen. Unter www.g-i-n.net sind die weltweit größte Leitliniensammlung sowie weitere nützliche Materialien verfügbar.

Neben den in diesem Beitrag fokussierten Praxisleitlinien wurde ebenfalls 2002 von der Bundesärztekammer das Programm für nationale Versorgungsleitlinien (NVL-Programm) initiiert. Dieses seit 2003 gemeinsam von BÄK, AWMF und KBV getragene Programm zielt darauf ab, die Qualität und Transparenz in der strukturierten medizinischen Versorgung (Disease Management, Integrierte Versorgung) zu fördern, indem zu ausgesuchten Erkrankungen hoher Prävalenz unter Berücksichtigung der Methoden der evidenzbasierten Medizin versorgungsbereichsübergreifende Leitlinien entwickelt und implementiert werden [18]. Der "Mehrwert" nationaler Versorgungsleitlinien wird dabei insbesondere in der Überwindung von Fachgebietsgrenzen bei der Definition evidenzbasierter medizinischer Standards und in der inhaltlichen Verknüpfung von ärztlichen Leitlinien und Patientenleitlinien gesehen [19]. Derzeit existieren Versorgungsleitlinien zu den Themen Asthma, COPD, Typ-2-Diabetes und KHK. NVLs zu den Themen Depression, Herzinsuffizienz, Rückenschmerz sowie Diabetische Nephropathie und Diabetische Neuropathie sind in Arbeit (siehe www.versorgungsleitlinien.de).

Literatur beim Verfasser

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Dr. phil. Dipl. Psych. Manuela Glattacker

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Prof. Dr. med. Wilfried H. Jäckel

Prof. Dr. Wilfried H. Jäckel

Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin, Universitätsklinikum Freiburg (im Breisgau)

eMail: wilfried.jaeckel@uniklinik-freiburg.de

 
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Abb. 1 Publikationen zum Thema "Leitlinien" in Medline zwischen 1995-2005

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Abb. 2 Verteilung von S1, S2 und S3-Leitlinien im System der AWMF (Nov. 2006)

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Dr. phil. Dipl. Psych. Manuela Glattacker

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Prof. Dr. med. Wilfried H. Jäckel