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DOI: 10.1055/s-2007-980826
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
Der Arzt zwischen Leitlinien und Therapiefreiheit - ein lösbares Dilemma
Ziel ist die Kombination von medizinischer Qualität und KosteneffizienzKorrespondenz
Dr. Reinhard Schwarz
Sana Kliniken GmbH & Co. KGaA
Gustav-Heinemann-Ring 133
81739 München
Email: r.schwarz@sana.de
Publication History
Publication Date:
28 June 2007 (online)
- Ärztliche Therapiefreiheit
- Chancen und Möglichkeiten von Leitlinien
- Skepsis auf Seiten der Ärzteschaft
- Überlagerung der Medizin durch die Ökonomie?
- Wege aus dem Dilemma
- Alle können profitieren

Wenn es um Leitlinien geht, scheiden sich oft die Geister. Viele Ärzte sehen damit ihre gesetzlich fixierte Therapiefreiheit in Gefahr und befürchten, zum Spielball der Kostenträger zu werden. Sicherlich, aus Sicht des Krankenhausmanagements zählt zu den wichtigen Aufgaben von Leitlinien, das medizinische Leistungsangebot durch spürbare Kostensenkungen effizienter zu gestalten. Doch Leitlinien bedeuten mehr als die rein wissenschaftlich begründete Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven. Sie sind eine Orientierung an einem medizinischen Standard, der ein bestimmtes Maß an Qualität gewährleistet und gerade dadurch die Effizienzvorteile erwarten lässt - und die Qualität der Behandlung meist sogar noch steigert. Gerade wenn solche medizinischen Standards nicht definiert sind, besteht aber die Gefahr, dass medizinische Leistungen zunehmend von rein wirtschaftlichen Aspekten reguliert werden. Richtig und reflektiert eingesetzt können also alle von Leitlinien profitieren - Ärzte und Kostenträger.
Die Rahmenbedingungen im deutschen Krankenhaussektor haben sich in den vergangenen Jahren so dramatisch geändert wie vermutlich noch nie zuvor. Der rasante medizinisch-technische Fortschritt und die parallel dazu stattfindenden Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur lassen die Fragestellung immer drängender werden, welche Medizin noch bezahlbar ist und wie mit dem Problem der Knappheit finanzieller Ressourcen umzugehen ist. Immens verstärkt hat sich der wirtschaftliche Druck noch durch die Einführung der Vergütung nach den "diagnosis related groups" (DRGs) und die unzweifelhaft in der stationären Versorgung vorhandenen Überkapazitäten.
Da jedoch das Ziel einer qualitativ hochwertigen und modernen medizinischen Versorgung weiterhin eine sehr hohe Priorität genießen muss, wird nach neuen Wegen gesucht, diesen Anspruch mit den aktuellen Herausforderungen in Einklang zu bringen. Ein Ansatz hierfür ist die Einführung medizinischer Leitlinien. Sie wird von ärztlicher Seite häufig mit der Sorge um die Einengung ihres Handlungsspielraums in Verbindung gebracht.
#Ärztliche Therapiefreiheit
Ein Arzt hat zunächst grundsätzlich die freie Wahl bei der Anwendung therapeutischer Behandlungsmethoden, sofern er davon überzeugt ist, damit einen Erfolg der Behandlung gewährleisten zu können. Auch juristisch liegt die Verantwortung über die Wahl der Behandlungsmethode eindeutig in der Hand des Arztes. So beschreibt § 1 Abs. 2 der Bundesärzteordnung (BÄO) den ärztlichen Beruf als eine Tätigkeit, die der Arzt nach eigenem Gewissen frei auszuüben habe. Diese Freiheit ist berufsethisch begründet und soll gewährleisten, dass der Arzt sich nicht zu einem Handeln zwingen lassen muss, das im Umgang mit Patienten seinem Gewissen widerspricht.
Die Rechtsprechung geht sogar noch weiter: Sogar nicht allgemein übliche und experimentelle Behandlungsformen sind grundsätzlich erlaubt, auch um dadurch den wissenschaftlichen Fortschritt zu fördern. Ein Freibrief für Beliebigkeit ist dies allerdings nicht. Der Arzt unterliegt einer Sorgfaltspflicht und muss gegenüber dem Patienten und auch den Kostenträgern die Qualität der medizinischen Leistungserbringung gewährleisten. Außerdem muss die Therapiewahl in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) das Gebot der Wirtschaftlichkeit stets berücksichtigen. Gesetzlich versicherte Patienten haben (lediglich) einen Anspruch auf ausreichende, zweckmäßige und das Maß des medizinisch Notwendigen nicht überschreitende Leistungen.
In vielen Fällen gibt es mehrere übliche Behandlungsalternativen, die unterschiedliche Erfolgsaussichten haben. Die letzte Entscheidung über den einzuschlagenden Weg muss nach einer ausführlichen ärztlichen Aufklärung der Patient selbst fällen. Nur wenn er einwilligt, kann eine Therapie beginnen. Die ärztliche Therapiefreiheit hat also schon in ihrem grundlegenden Muster bestimmte Schranken. Sie definiert keinen autonomen Freiheitsbereich, der nur dem Willen des Arztes unterworfen ist. Therapiefreiheit in ihrem traditionellen Verständnis ist sowohl von der persönlichen Verantwortung des Arztes geprägt als auch von der Mitbestimmung des Patienten getragen.
#Chancen und Möglichkeiten von Leitlinien
Die Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen macht eine verstärkte Diskussion um das Setzen von Prioritäten und damit um Rationalisierung und Effizienz unumgänglich. Hierfür gibt es in dem rein medizinisch formulierten Berufsethos der Ärzte keine Anknüpfungspunkte. Gerade vor diesem Hintergrund werden Leitlinien zur Leistungsstandardisierung und Kostensenkung oft kritisch und kontrovers diskutiert.
Es ist jedoch falsch, die Einführung von Leitlinien nur vor dem Hintergrund des Kostenaspektes zu sehen. Vielmehr zielt sie darauf ab, eine effiziente medizinische Versorgung auf hohem Qualitätsniveau zu sichern, gerade weil der Rationalisierungsdruck größer wird. In diesem Rahmen kommen Leitlinien wichtige Aufgaben zu. So sollen sie die Mediziner als Orientierungshilfe in der zielführenden Ausübung des Arztberufs unterstützen. Das ist gerade für junge Ärzte sehr hilfreich (und auch notwendig). Das ständig wachsende Fachwissen kann so besser in ärztliches Handeln umgesetzt werden. Leitlinien helfen jedoch auch, gegensätzliche Standpunkte bei Krankheitsbildern zu klären und zeigen sinnvolle sowie zu vermeidende Behandlungsalternativen auf.
#Skepsis auf Seiten der Ärzteschaft
Trotz der offensichtlichen Vorteile medizinischer Leitlinien ist auf der Seite der Ärzte eine große Skepsis festzustellen. Ihre Befürchtungen beruhen dabei meist auf der Unsicherheit, inwieweit solche Leitlinien sie im konkreten Fall tatsächlich bei der Wahl der Diagnose- und Behandlungsmethoden einschränken.
Immer wieder werden neben den engeren Freiräumen bei der Behandlung die Behinderung des medizinischen Fortschritts sowie die Überlagerung des medizinischen und am Patienten ausgerichteten Handelns durch ökonomische Ziele kritisiert. Nicht zuletzt befürchtet man aufgrund der beinahe chronisch leeren Kassen eine zu enge Außensteuerung der Medizin durch die Kostenträger. Wenn auch das Risiko für eine solche Entwicklung nicht komplett auszuschließen ist, dürfen die Vorteile eines leitlinienorientierten Handelns nicht außer Acht gelassen werden.
#Überlagerung der Medizin durch die Ökonomie?
Unbestritten: Aus Sicht des Krankenhausmanagements bringen Leitlinien neben der Qualitätssicherung auch spürbare Kostensenkungen mit sich und können so eine höhere Effizienz bedingen. Leitlinien helfen vor dem Hintergrund der knappen Ressourcen bei der Rationalisierung und der Rationierung des medizinischen Leistungsangebots.
Die Befürchtungen der Klinkärzte sind zum Teil aber sicher verständlich. Denn im Wortlaut der Leitlinien ist die Effizienzabsicht meist nicht mehr zu erkennen, weshalb auch das Verhältnis von Wirtschaftlichkeit und medizinischer Notwendigkeit nicht mehr zu sehen ist. Leitlinien aus diesem Grund grundsätzlich abzulehnen bzw. nicht umzusetzen wäre jedoch falsch.
Im Mittelpunkt muss vielmehr die Frage nach deren Formulierung stehen. Für den Arzt muss ersichtlich sein, dass die Leitlinien mehr bedeuten als die rein wissenschaftlich begründete Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven. Leitlinien sind eine Orientierung an einem medizinischen Standard, der ein bestimmtes Maß an Qualität gewährleistet und gerade dadurch Effizienzvorteile erwarten lässt - und die Qualität der Behandlung zugleich meist sogar steigert.
Nicht wirtschaftliche Aspekte sind es also, welche die Entscheidungsfreiheit der Ärzte bei der Umsetzung von leitlinienorientiertem Handeln einengen, sondern vielmehr der Versuch, medizinische Qualität und betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten in Einklang zu bringen. Weder die Weiterentwicklung und Entdeckung von Behandlungsmethoden noch das Berufsethos der Ärzteschaft muss darunter leiden.
#Wege aus dem Dilemma
Die ärztliche Therapiefreiheit ist eine der wichtigsten Säulen einer innovationsorientierten und qualitativ hochwertigen Medizin. Sie dient jedoch auch - das darf nicht übersehen werden - immer wieder als Argument zur Durchsetzung berufspolitischer und letztlich auch finanzieller Ziele. Die Therapiefreiheit wurde daher in der Vergangenheit immer wieder instrumentalisiert, um unwirtschaftliches und zugleich lieb gewonnenes ärztliches Handeln zu schützen.
Geht man jedoch unvoreingenommen an das Thema der Leitlinien heran, können auch die Ärzte von deren Einführung profitieren. Gerade das Fehlen medizinischer Standards hat nämlich dazu geführt, dass die medizinische Leistungserbringung zunehmend unter rein wirtschaftlichen Aspekten reguliert wurde. Der Verzicht auf die Umsetzung von Leitlinien kann die Therapiefreiheit demnach eher bedrohen als die Einhaltung von der auf medizinischer Evidenz basierten Handlungsorientierungen, die begleitend auch wirtschaftliche Aspekte berücksichtigen.
Es empfiehlt sich deshalb, Leitlinien in Kenntnis sowohl der wirtschaftlichen als auch der medizinischen Anforderungen zu definieren, um so eine rein wirtschaftlich motivierte Standardisierung zu vermeiden, die letztlich zu Lasten der Qualität ginge. Nur so lassen sich die Ziele der Qualitätssicherung und des wirtschaftlichen Handelns bei der medizinischen Leistungserbringung gleichzeitig und gleichberechtigt erreichen.
#Alle können profitieren
Aus Sicht des Krankenhausmanagements ist es daher wünschenswert, dass die Ärzte keine Verweigerungshaltung einnehmen, sondern sich besonders engagieren, wenn es darum geht, Leitlinien zu formulieren und umzusetzen. Zwingend muss dies jedoch vor dem Hintergrund eines korrekten Verständnisses der Therapiefreiheit geschehen. Freiheit bedeutet auch für ärztliches Handeln keine individuelle Beliebigkeit. Der Orientierungsmaßstab freiheitlichen Handelns ist immer die Vernunft. Medizinisches Handeln unter dem Aspekt der Therapiefreiheit ist also selbst stets einer Prüfung zu unterziehen.
Gerade aus dieser Sicht leisten evidenzbasierte Leitlinien einen großen Dienst auch für die Ärzte. All das setzt freilich eine selbstkritische Grundhaltung des Klinikarztes voraus: Nicht der Meinung zu sein, eigentlich alles bereits zu wissen und richtig zu machen, sondern offen zu sein für ein kritisches Durchleuchten der Gewohnheiten und Handlungsweisen - im Dialog mit den Kollegen und auf der Basis gesicherter Erkenntnisse.

Korrespondenz
Dr. Reinhard Schwarz
Sana Kliniken GmbH & Co. KGaA
Gustav-Heinemann-Ring 133
81739 München
Email: r.schwarz@sana.de
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Sana Kliniken GmbH & Co. KGaA
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81739 München
Email: r.schwarz@sana.de

