Pro
Nach Auskunft aktueller Studien ist der Anteil der Menschen mit psychotischen Störungen
in deutschen Tageskliniken auf unter 20 % zurück gegangen [1]
[2]. Dies ist ein durchaus überraschender Befund, denn noch vor wenigen Jahren waren
Patienten mit diesem Krankheitsbild dort die Hauptklientel. Wie ist es zu diesem Rückgang
gekommen? Drastische epidemiologische Veränderungen sind als Ursache sehr unwahrscheinlich.
Die Prävalenz liegt weiterhin bei etwa 1 % der Bevölkerung [3]. Es muss also andere Gründe dafür geben, dass diese Patienten seltener in dieser
Behandlungsmodalität versorgt werden: Veränderte gesundheitspolitische Rahmenbedingungen
führen zu einem Wandel der Diagnosestruktur. Obwohl der besondere Nutzen einer tagesklinischen
Behandlung bei psychotischen Störungen vielfach belegt ist, gibt es unter den neuen
Rahmenbedingungen einen Druck auf die Akteure, in Tageskliniken mit größerer Priorität
Patienten mit anderen Störungsbildern zu behandeln. Da es sich aus Sicht der Menschen
mit psychotischen Störungen um keine begrüßenswerte Entwicklung handelt, kann man
von einem Verdrängungsprozess sprechen [4]
[5].
An erster Stelle ist der extreme Rückgang der Verweildauern in Kliniken und Tageskliniken
zu nennen. Dieser Rückgang ist insgesamt wünschenswert und ein Indikator für positive
Veränderungen bei der Therapie und im kommunalen Umfeld der stationären Psychiatrien,
denn die teilweise sehr langen Behandlungszeiten in den Tageskliniken waren auch Folge
des mangelhaften Ausbaustandes der komplementären und rehabilitativen Einrichtungen.
Die „Durchbehandlung” auf Kosten der Krankenkassen von der Akutversorgung bis zur
beruflichen Wiedereingliederung oder zur Übergabe an tagesstrukturierende Einrichtungen
war früher an der Tagesordnung. Nicht selten hatten Tageskliniken - gerade bei den
schwer an Schizophrenie erkrankten Menschen - die Funktion von Tagesstätten. Heute
gibt es häufig effizientere Wege der Versorgung im gemeindepsychiatrischen Verbund,
und die Managed-Care-Programme der Kostenträger bewirken, dass diese Wege auch beschritten
werden.
Trotz der extrem gesunkenen Verweildauern sind die Betten- und Platzzahlen in der
Gemeindepsychiatrie weitgehend gleich geblieben. So entsteht unter dem Zwang, diese
Behandlungskapazitäten voll auslasten zu müssen, ein „Bedarf an Patientengut”. Da
Psychoseerkrankungen anteilsmäßig gleich geblieben sind und deshalb den gestiegenen
Durchlauf nicht zu speisen vermögen, behandelt man eine neue Klientel mit anderen
Störungsbildern: Ein Teil der Veränderung des Diagnosespektrums lässt sich durch diesen
Mechanismus erklären, für das beobachtete Ausmaß des Rückgangs der Psychosen in Tageskliniken
ist das jedoch kein hinreichender Grund. Hinzu kommt, dass Menschen mit psychotischen
Störungen auch wieder stärker als früher in vollstationärer Behandlung „festgehalten”
werden. Bei Neuerkrankungen oder Rezidiven im Bereich der Schizophrenie, also im Rahmen
der Akutbehandlung, wird die Tagesklinik - als „minimal invasive” Behandlungsform
- nicht in einem Umfang genutzt wie es wünschenswert wäre, und wie es dem medizinischen
Forschungsstand entspräche [6]. Denn in den Klinikbetten sind F2-Diagnosen weiterhin (neben den F1-Diagnosen) das häufigste Krankheitsbild
[7]. Überspitzt formuliert: Unter dem Zwang, „ein Bett belegen zu müssen”, wird von
den Akteuren eine unnötige kostenintensivere Krankenhausbehandlung präferiert. Für
die kostengünstigere Krankenhausbehandlung (die Tagesklinik) wird eine neue Klientel
erschlossen, die zuvor ambulant versorgt wurde. In diesem Sinne werden Menschen mit
psychotischen Störungen aus einer für sie geeigneten (und zugleich kostengünstigeren)
Behandlungsmodalität verdrängt.
Wer ist die neue Klientel der Tageskliniken? Wie die einschlägigen Umfragen zeigen,
sind es Menschen mit folgenden Diagnosen: Ängste, Zwänge, Anpassungs- und Persönlichkeitsstörungen,
Ess- und sexuelle Funktionsstörungen sowie affektive Störungen. Diese Diagnosegruppen
waren bisher vorwiegend in Kliniken der Psychosomatik und vor allem in psychotherapeutischen
Rehabilitationskliniken der Rentenversicherungsträger anzutreffen. Sowohl die psychosomatischen
Kliniken als auch die psychotherapeutischen Reha-Kliniken haben lange Wartezeiten,
und es sind administrative Hürden zu überwinden, um einen Platz zu bekommen. Psychiatrische
Tageskliniken sind als Einrichtungen der Akutversorgung dagegen leicht erreichbar
und können ohne Antragstellung und Genehmigungsverfahren besucht werden. Es ist keinerlei
Vorbehandlung in fachärztlichen Praxen nötig - ein Einweisungsschein vom Hausarzt
genügt. Die Grenzen zwischen Akutbehandlung und Rehabilitation verschwimmen bei diesen
Erkrankungen - und dies nicht etwa, weil es neue Erkenntnisse zur besseren Behandlung
gäbe, sondern allein weil von allen Akteuren der „Weg des geringsten Widerstands”
gewählt wird. Die Verordnung von Krankenhauspflege ist unkomplizierter als die Antragstellung
für eine Rehabilitationsbehandlung. Die Krankenhausabteilungen übernehmen (in Sorge
um die Auslastung ihrer Therapieplätze) „gern die Behandlung auch der Probleme, die
eigentlich der Rehabilitation zuzuordnen sind” [8]. Die Patienten mit psychischen Problemen schließlich nehmen die Möglichkeit eines
unkomplizierten Zugangs zu gemeindenahen, vergleichsweise wenig stigmatisierten Einrichtungen
gern an.
Die in Deutschland schon heute weltweit einzigartige Zersplitterung der Zuständigkeiten
für die Behandlung von psychischen Erkrankungen wird noch ein wenig unübersichtlicher.
Demnächst haben wir nicht nur die herkömmlichen Einrichtungen der Krankenhauspsychiatrie,
der ambulanten Psychotherapie und die stationären wohnortfernen Rehabilitationseinrichtungen,
sondern dazu „ambulantisierte” wohnortnahe, teilstationäre Reha-Kliniken für Patienten
mit Depressionen und Anpassungsstörungen, Angst und somatoformen Störungen, Psychosomatikstationen
und funktionsgewandelte Tageskliniken, in denen Menschen mit Psychosen an den Rand
gedrängt sind. Ob diese Vielfalt der Angebotsformen auch ein Hinweis auf eine qualitativ
hochwertigere Versorgung impliziert, ist völlig unklar, „weil differenzielle Indikationskriterien
nicht erkennbar und die Zuweisungsprozesse zu den verschiedenen Angeboten weitgehend
nicht transparent sind. Auch im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Variablen des
Behandlungsprozesses und Behandlungserfolges fehlen Basisinformationen” [7].
Während für die an Psychosen erkrankten Menschen in einer jahrzehntelangen Forschungstradition
belegt ist, dass Tagesklinken in 20 - 40 % der Fälle eine gute Option bei der Akutbehandlung
sind, gibt es für die neuen Patientengruppen kaum Belege zur Effektivität (und Effizienz)
dieser Behandlungsform. Wenn solche fachlichen Begründungen zur Rechtfertigung des
Wandels im Diagnosespektrum fehlen, wird es schwer, die juristischen und ökonomischen
Probleme zu lösen, die mit diesem Wandel verbunden sind. Schließlich ist tagesklinische
Behandlung Krankenhaus- und Akutbehandlung, und die Zugangsvoraussetzungen sind vom
Bundessozialgericht definiert worden: „Akutbehandlung - und dies gilt für alle Krankheitsbilder
- ist nur dann indiziert, wenn die Notwendigkeit einer fortdauernden Einwirkung des
Arztes auf den Patienten besteht, die Zuhilfenahme der technischen Apparaturen des
Krankenhauses unabdingbar ist und eine ständige Assistenz, Betreuung und Beobachtung
des Patienten durch das Pflegepersonal gewährleistet sein muss” [8]. Für kranke Menschen mit Schizophrenie gelten diese Voraussetzungen in der Akutphase
sicherlich immer, für schwerste Ausprägungen anderer Diagnosegruppen ebenso. Inwieweit
diese Voraussetzungen jedoch bei der klassischen Klientel von Psychosomatik und Rehabilitation
vorliegen, kann bezweifelt werden. Deshalb birgt der Funktionswandel der Tageskliniken
die Gefahr, dass die Kostenträger sich (wie in anderen Ländern geschehen) aus der
Finanzierung dieser Behandlungsmodalität verabschieden, und die traditionellen Patientengruppen
schlechter gestellt sind als vorher.
Kontra
Nationale Befragungen zur Situation in Tageskliniken aus den Jahren 1982 und 2001
zeigten eine Verweildauerreduktion, eine konzeptionelle Änderung von Rehabilitation
hin zur Akutbehandlung sowie eine prozentuale Zunahme von affektiven, Angst- und Anpassungs- sowie psychosomatischen und Persönlichkeitsstörungen
im behandelten Diagnosespektrum [1]. Diese Entwicklungen geben zu der Besorgnis Anlass, dass sich Tageskliniken weniger
ihrer ursprünglichen Kernklientel, den schizophren Erkrankten zuwenden, und dass dieses
Versorgungssetting die Betreuung einer Gruppe schwer chronisch psychisch Kranker vernachlässigt.
Dem sind folgende Argumente entgegenzuhalten, wobei nachfolgende Aufzählung keinen
Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.
Psychiatrische Versorgungsforschung hat jüngst für das Betreuungsangebot Sozialpsychiatrischer
Dienste, das sich dezidiert an schwer chronisch psychisch Kranke richtet, nachgewiesen,
dass sich erhebliche Varianzanteile der Inanspruchnahme auf Kontextfaktoren (z. B.
Strukturdaten der Einrichtungen und Versorgungsregionen) zurückführen lassen [9]. Jedoch verhindert die fehlende flächendeckende standardisierte Psychiatrieberichterstattung
[10], dass klientenbezogene Längsschnittroutinedaten für weitergehende Analysen in ausreichendem
Umfang zur Verfügung stehen, die dann z. B. Verschiebungen der Betreuung von Patientengruppen
in (neu entstandenen gemeinde)psychiatrischen Versorgungsangeboten aufzeigen könnten.
Mit aller Vorsicht ist deshalb festzustellen, dass die skizzierten Entwicklungen in
Tageskliniken in gleicher Weise auch im vollstationären Bereich zu verzeichnen sind,
also den gesamten in Deutschland krankenkassenfinanzierten psychiatrischen Klinikbereich
betreffen [11]. Insbesondere ist es auch im stationären Bereich zu einer Verschiebung der dort
häufig behandelten Störungsbilder in Richtung einer Zunahme von affektiven und Persönlichkeitsstörungen
gekommen.
Bei zunehmender Versorgungsorientierung an evidenzbasierten Versorgungsangeboten sind
in den letzten Jahren die eher rehabilitativ und damit auf schizophren Erkrankte ausgerichteten
tagesklinischen Behandlungsansätze zugunsten der mittlerweile auf hohem Evidenzniveau
effektivitätsbelegten akutpsychiatrischen Ausrichtung [12]
[13] (auch wissenschaftlich) ins Hintertreffen geraten. Allerdings ist die Frage der
störungsspezifischen Effektivität von allgemein- (und akut-)psychiatrischen Tageskliniken
in Anbetracht der wenigen Befunde zur Prädiktion erfolgreicher Behandlung in diesem
Setting [14] bis dato unbeantwortet.
Im Zuge gesundheitsökonomischer Diskussionen scheinen die Kostenvorteile akutpsychiatrischer
tagesklinischer gegenüber vollstationärer Behandlung mittlerweile gut belegt. Vorliegende
Studien ergaben bis dato keinen prädiktiven Beitrag der diagnostischen Zuordnung für
die Entstehung direkter tagesklinischer Behandlungskosten [15]. Allerdings zeigt die bislang einzige randomisierte kontrollierte Studie, die affektive
und schizophrene Störungen gegenüberstellend analysiert hat, in einem zweijährigen
Untersuchungszeitraum eine höhere Zahl von Behandlungstagen und Wiederaufnahmen bei
schizophrenen Störungen [16]. Dies kann als ein Indiz dafür gelten, dass schizophren Erkrankte möglicherweise
nicht als eine im tagesklinischen Setting kostengünstig zu behandelnde Diagnosegruppe
angesehen werden.
Bei wachsender konzeptioneller und therapeutischer Vielfalt scheint die einzelne Tagesklinikeinrichtung
- insbesondere aus räumlichen und personellen Kapazitätsgründen - damit überfordert,
parallel komplextherapeutische Angebote vorzuhalten, die sich den inhaltlichen Schwerpunkten
Akutpsychiatrie, Psychotherapie und Rehabilitation insbesondere kognitiver und sozialer
Fertigkeiten - und damit auch einem breiten Spektrum psychischer Störungen mit unterschiedlichen
Behandlungsanforderungen - zuwenden.
Zudem sind in den letzten Jahren verschiedene Versorgungsstrukturen aufgebaut worden,
die prinzipiell geeignet scheinen frühere rehabilitativ orientierte tagesklinische
Angebote zu substituieren und gleichzeitig geringere Anforderungen an die Verbindlichkeit,
das Setting aufzusuchen, stellen: Hier ist das multimodale und insbesondere auf chronische
Erkrankungsprozesse indikationslimitierte Angebot psychiatrischer Institutsambulanzen
ebenso zu nennen wie ausdifferenzierte gemeindepsychiatrische Verbundsysteme, die
gerade in der klinischen Langzeitbetreuung schizophren Erkrankter weitestgehend bedarfs-
und bedürfnisdeckend agieren (können) [17]. Allerdings stehen - als Zeichen sozialer Exklusion? - insbesondere Leistungen der
berufsbezogenen Rehabilitation für schizophren Erkrankte nicht im benötigten Umfang
zur Verfügung, was sich auch in konzeptionellen und institutionellen Defiziten entsprechender
Angebote äußert [18].
In den letzten Jahren sind mehrere einflussreiche (Forschungs-)Initiativen durchgeführt
und daraus resultierende Publikationen (z. B. [19]) vorgelegt worden, die nicht nur gerade die Häufigkeit affektiver Störungen ins
Licht der (Fach-)Öffentlichkeit gestellt haben, sondern vor allem auch deren Dauer
und die damit assoziierte individuell biografische wie volkswirtschaftliche Bedeutsamkeit
verdeutlicht haben. Zudem lassen Hochrechnungen einen weiteren diesbezüglichen Häufigkeitsanstieg
erwarten.
Schließlich zeigen jüngst etablierte therapieinhaltliche Vorgehensweisen eine deutlich
höhere Innovation (und auch Inanspruchnahme) bezogen auf die (v. a. psychotherapeutische)
Behandlung depressiver und Persönlichkeitsstörungen, denn bezogen auf schizophrene
Störungen [20].
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass viele Argumente darauf hinweisen, dass die
„Verdrängung schizophren Erkrankter” aus Tageskliniken wesentlich auf Entwicklungen
beruht, die nur sehr begrenzt durch eine konzeptionelle Restrukturierung des hoch
heterogenen Settings „Tagesklinik” erklärt werden kann. Eine präzise Bestimmung von
Effekten und ihrer Stärke ist bei der Komplexität der beschriebenen Prozesse nicht
möglich; insofern verbietet sich auch die Betonung einzelner Entwicklungen.