Pro
Bei der Weiterentwicklung von Standards zur Operationalisierung psychischer Störungen
und einhergehender Probleme der Klassifikation und differenziellen Diagnostik wird
in jüngster Zeit wieder verstärkt die Parallelität zwischen stoffgebundenen und stoffungebundenen
Suchterkrankungen diskutiert. Dabei werden unter den stoffungebundenen „Tätigkeitssüchten”
(im Folgenden „Verhaltenssüchte” genannt) exzessive belohnungssuchende und autonom
gewordene Verhaltensweisen (z. B. Glücksspiele, Internetnutzung) verstanden, bei denen
die Betroffenen die diagnostischen Kriterien einer Abhängigkeitserkrankung erfüllen.
Die auf unterschiedlichen Untersuchungs- und Funktionsebenen gewonnenen Forschungsergebnisse
v. a. aus der Lerntheorie und Neurobiologie legen nahe, dass im Rahmen eines biopsychosozialen
Modells zur Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens gleichermaßen stoffgebundene
wie stoffungebundene Abhängigkeitserkrankungen in denselben zentralnervösen Mechanismen
verankert sind [1].
Bislang fanden „Verhaltenssüchte” noch keinen Eingang als eigenständiges Störungsbild
in die gängigen Klassifikationssysteme psychischer Störungen [2]. Derzeit kann eine „Verhaltenssucht” nur in Anlehnung an die Einordnung des „Pathologischen
Spielens” als „Störung der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert” diagnostiziert
werden. Diese Diagnose ist jedoch im Hinblick auf psychopathologisch-phänomenologische,
neurobiologische, differenzialdiagnostische, präventive und therapeutische Implikationen
völlig unzureichend.
Einige Autoren fassen pathologisches Glücksspiel als sog. „Zwangsspektrumsstörung”
auf [3], wobei in diesem Erklärungsmodell aber zwischen initial ich-syntonem verstärkenden
Belohnungsverhalten und finalem ich-dystonem „zwanghaften Sich-so-verhalten-Müssen”
zu differenzieren wäre. Offenbar kann letzteres inzwischen „impulskontrollgestört-zwanghaftes”
Verhalten durch Aktivierung derselben orbitofronto-striato-thalamischen Regelkreise
in Gang gesetzt werden, die auch an der Entstehung von „primären” Zwangssymptomen
beteiligt sind (vgl. in [1]).
Andere Autoren postulieren inzwischen wieder, dass das Erscheinungsbild der krankhaft
exzessiv durchgeführten Verhaltensweisen mit den Merkmalen von Abhängigkeitserkrankungen
vergleichbar ist und formulieren z. B. den Begriff der „Glücksspielsucht” als Prototyp
einer Verhaltenssucht [4]
[5]
[6]. Als zentrale Bestimmungsmerkmale gelten dabei ein erlernter Kontrollverlust über
das Verhalten (inkl. Toleranzentwicklung) und die Vernachlässigung anderer wichtiger
Lebensbereiche sowie psychovegetative Entzugserscheinungen. So zeigt sich ein dringender
Handlungsbedarf, um für bestimmte in der Praxis auftretende pathologische exzessive
Verhaltensweisen eine Operationalisierung im Sinne der diagnostischen Kategorienbildung
zu etablieren.
Diese Auseinandersetzung wird derzeit auch im Wissen um die kommende 11. Revision
der „Internationalen Krankheitsklassifikation” (ICD-11) und der 5. Revision des „Diagnostic
and Statistical Manuals” (DSM-V) geführt. Die dazu notwendigen wissenschaftlichen
Vorarbeiten von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und American Medical Association
(AMA) haben bereits begonnen. Zwar erfolgte unlängst eine vorläufige Ablehnung einer
eigenen Diagnosekategorie einer Form der Verhaltenssucht z. B. „Video game addiction”
im DSM-V durch die AMA. Der wissenschaftliche Beirat unterstreicht in seinem Report
zur Computerspielsucht (www.ama-assn.org) aber deutlich den Handlungsbedarf, merkt den Mangel an empirischen Studien an und
schlägt diese Kategorie immerhin als Forschungsdiagnose vor. Die Revisionen der Klassifikationssysteme
psychischer Störungen orientieren sich an einem studienbasierten Vorgehen im Sinne
der „Evidence-Based Medicine”, womit sichergestellt werden soll, dass ein methodisch
begründeter Erkenntnisgewinn (basierend auf wissenschaftlicher Methodik, kontrollierten
klinischen Studien und reproduzierbaren Ergebnissen, vgl. [7]) in den Modifikationen dieser Systeme implementiert wird.
Nach den bisherigen Forschungsergebnissen zu den exzessiv durchgeführten Verhaltensweisen
mit pathologischem Charakter [6]
[8] zeigt sich, dass häufig die Kriterien der Substanzabhängigkeiten zur Operationalisierung
der Symptome genutzt werden, um die Symptomkomplexe empirisch bzw. phänomenologisch
trennscharf zu erfassen. Obwohl bei den derart zusammengefassten Störungsbildern dem
Organismus keine psychotrop wirksamen Substanzen von außen zugeführt werden, treten
viele Symptome mit nahezu vollständiger Übereinstimmung im Vergleich zu den stoffgebundenen
Abhängigkeitserkrankungen auf. Für die Aufrechterhaltung eines Verhaltens scheinen
körpereigene biochemische Veränderungen und neuronale Konditionierungs- und Bahnungsprozesse,
die durch die exzessiven belohnungssuchenden Verhaltensweisen ausgelöst werden, verantwortlich
zu sein. Verschiedene Studienergebnisse zeigen ebenso, dass der pathologischen exzessiven
Verhaltensausübung und der Substanzabhängigkeit vergleichbare neurobiologische Mechanismen
zugrunde liegen, wie beispielsweise bei pathologischen Glücksspielern eine veränderte
Aktivierung der Basalganglien und des frontalen und orbitofrontalen Kortex (z. B.
[6]). Gleichfalls wies man bei Betroffenen von „Verhaltenssüchten” bereits analoge psychophysiologisch
messbare Muster nach, wie sie bei Alkohol oder Cannabis bekannt sind (z. B. [9]). So scheint vergleichbar zur Substanzabhängigkeit die Funktion der Verhaltenssucht
in einer (dysfunktional) erlernten Regulationsmöglichkeit des Gehirns zu liegen, die
den Betroffenen ermöglicht, ihre „Biochemie der Gefühle” wieder ins Gleichgewicht
zu bringen und dabei effektiv Stress zu reduzieren.
Oft wird das parallele Auftreten von Symptomen des pathologischen exzessiven Verhaltens
in Verbindung mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (z. B. Depression, Angststörungen)
dahingehend kritisch gewertet, dass „Verhaltenssüchte” nur eine Begleiterscheinung
von einer anderen als Primärdiagnose gestellten psychiatrischen Erkrankung seien [10]. Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Verhältnisse bei den stoffgebundenen
Störungen, so fällt auf, dass auch diese Patienten eine hohe Komorbiditätsrate vornehmlich
aus dem Spektrum der neurotischen und Persönlichkeitsstörungen aufweisen. Die Diagnose
der Substanzabhängigkeit führt hier jedoch im Regelfall dazu, dass das klinische Gesamtbild
des Patienten durch die Vergabe mehrerer Diagnosen detailreicher beschrieben wird,
was letztlich zur Identifizierung der Grundkonflikte und Optimierung des Heilerfolges
beiträgt. In diesem Zusammenhang wird die Aufgabe der Diagnostik im Sinne einer differenzierten
und verhaltensnahen Beschreibung des gesamten Störungsbildes - auch unter Einbeziehung
der pathologisch exzessiven Verhaltensweisen - augenfällig. Die genaue Charakterisierung
der Symptome und klare diagnostische Kriterien sollten in der Praxis das gegenwärtige
Defizit bei der Diagnostik von „Verhaltenssüchten” beheben. Schließlich muss eine
zukünftig auch ätiologieorientierte psychiatrische Diagnostik in ihrem Ergebnis zu
einer möglichst detailreichen Beschreibung der pathogenen psychischen Anteile des
Patienten führen.
Kontra
Die Diskussion, ob der Begriff „Sucht” für die Klassifikation psychischer Störungen
sinnvoll ist und ob er auf mehr Störungen anzuwenden ist als auf die Abhängigkeit
von Alkohol, Barbituraten, Opiaten u. ä., ist so alt wie die psychiatrische Krankheitslehre.
Bereits 1905 [11] publizierte der Würzburger Ordinarius Rieger den Aufsatz „Über die Trunksucht und
die ,Suchten‘ überhaupt”. Rieger unterscheidet darin drei Suchtformen, die sich jeweils
in zahlreiche Unterformen aufgliedern: 1. die „moralischen Süchte”, zu denen die Spielsucht
gehört, 2. die „pathologischen Süchte” mit Krankheiten wie Gelbsucht, und 3. die „Kontaminationen”
aus den beiden ersten, z. B. Trunksucht, Eifersucht, Verschwendungssucht. Eine Einteilung,
die sich nicht an der Stoffgebundenheit orientierte!
Die Frage der Eingrenzung oder Ausweitung des Suchtbegriffs beherrschte bei einigen
Gelegenheiten die Diskussion in Fachzeitschriften. Victor von Gebsattel gab einer
Publikation den Titel „Süchtiges Verhalten im Gebiet sexueller Verirrungen” [12]. Dies griff Giese (z. B. [13]) wieder auf, um „sexuell-süchtiges Verhalten von einer bloßen Devianz oder einem
sexuellen Fehlverhalten” abzugrenzen. Er sah folgende Analogien zu den „stoffgebundenen”
Süchten, fast identisch zu den heute diskutierten: „… die zunehmende Zentrierung der
Denk- und Vorstellungsräume in Richtung auf den angestrebten Erlebniszustand, die
zunehmende Frequenz der zugehörigen Handlungsvollzüge bei abnehmender Triebbefriedigung,
die dranghafte Unruhe und Unerwehrbarkeit in Richtung der Durchführung, das Auftreten
körperlich-vegetativer Symptome bei Ausbleiben oder Verhinderung” [14]. Bemerkenswerterweise scheint diese Diskussion um Paraphilien und ähnliche Verhaltensweisen
in Vergessenheit geraten zu sein.
Beim nächsten Anlass - Mitte der 80er-Jahre - wurde die Klassifikation pathologischen
Spielverhaltens an Spielautomaten oder in Spielcasinos diskutiert. Während einige
Autoren bei exzessiven Glücksspielern „alle Symptome einer psychischen Abhängigkeit”
sahen und ein Krankheitsbild der „Glücksspielsucht” beschrieben [15]
[16], wurde dies von anderen als „mystisch-biologisches Suchtmodell” [17] abgelehnt.
Nach unserem Eindruck kommen in dieser Diskussion zwei Grundpositionen zum Ausdruck.
Die Vertreter der „Verhaltenssüchte” gehörten oft zur psychodynamischen oder phänomenologischen
Richtung der Psychopathologie. Sie betonen bei diesen „nicht stoffgebundenen Süchten”
eine phasenhafte, irreversible Abhängigkeitsentwicklung, die in Kontrollverlust endet.
Auf der anderen Seite finden sich Vertreter eines möglichst klaren und eindeutigen
Klassifikationssystems, oft Verhaltenstherapeuten, aber auch psychiatriekritische
Gegner einer „Medizinisierung” devianten Verhaltens. Zum Teil betonen diese eher die
Ähnlichkeiten mit Impulskontrollstörungen (wie Trichotillomanie oder Pyromanie) oder
mit den Zwangsstörungen.
Das einzige neue Argument, das - diesmal von den Vertretern der Verhaltenssuchtposition
- angeführt wird, ist das der „Parallelität zwischen zugrunde liegenden psychophysiologischen
Mechanismen bei der „Substanzabhängigkeit” und z. B. dem pathologischen Glücksspiel
[18]. Aber differenzieren die ähnlichen Aktivierungsmuster in striatalen und präfrontalen
Bereichen bei Darbietung relevanter Reize beide Störungen von anderen Zustandsbildern,
in denen bestimmte Umweltreize Signale für Annäherungsverhalten sind? Hier ist doch
nach der Spezifität solcher Befunde zu fragen. Auch fehlt der Nachweis der bei beiden
Störungen gleichartigen Kovariation solcher Auffälligkeiten mit klinisch wichtigen
Abstufungen beider Störungen. Nach unserer Meinung werden auf absehbare Zeit diese
psychophysiologischen Mechanismen keinerlei spezifische diagnostische, geschweige
denn therapeutische Hilfen bieten können.
Damit bleiben die klassischen Kriterien für die Definition von Krankheitseinheiten:
Phänomenologie und Symptombild (Verhalten und Erleben), Verlauf, Behandlung. Die Unterschiede
zwischen einer Alkoholabhängigkeit und einer „Kaufsucht” erscheinen uns dabei eklatant.
Die zentralen Punkte bilden dabei die unmittelbaren Effekte des Alkohols und die direkten
körperlichen Folgen lang anhaltenden exzessiven Alkoholkonsums. Weder führt die „Kaufsucht”
bei ihrer Ausübung zu vergleichbaren Effekten auf Stimmung, kognitive Fähigkeiten
und Bewusstsein, noch hat langjährige „Kaufsucht” ähnliche organische, zentralnervöse
und psychische Veränderungen zur Folge. Zweifellos gibt es daneben auch Gemeinsamkeiten
in Erleben, Verlauf und sozialen Folgen, wie sie im o. a. Zitat von Giese (1962) deutlich
werden. Solche Gemeinsamkeiten bestehen allerdings auch zwischen „Kaufsucht” und Zwangsverhalten.
Auf zwei weitere Argumente von Grüsser et al. [18] soll hier wenigstens kurz eingegangen werden:
-
Es „lassen sich klare … Kriterien für die Diagnostik einer Verhaltenssucht formulieren”.
Zweifellos finden sich in der Literatur eindrucksvolle Fallbeispiele. Wir halten dennoch
die dort in Tab. 1 aufgeführten Kriterien für kaum geeignet, anderes nicht suchthaftes,
sehr häufiges und selbstschädigendes Verhalten davon abzugrenzen. Zum einen ergeben
sich dabei ähnliche definitorische Probleme wie bei der wenig reliablen Diagnose des
„Substanzmissbrauchs”, der kaum von einem als „kritisch” angesehenen Konsummuster
zu unterscheiden ist. Zum anderen beziehen sich diese Kriterien ausschließlich auf
subjektives Erleben, d. h. Selbstberichten der Betroffenen, was für forensische Fragestellungen
problematisch sein kann. Auf „die Gefahr eines inflationären Gebrauchs des Begriffes”
weisen Grüsser et al. [18] selbst hin.
-
„Die Einordnung … der Verhaltenssucht unter die Störungen der Impulskontrolle … kann
verhindern, dass geeignete Behandlungsmaßnahmen aus dem Bereich suchtkranker Patienten
angewendet werden.” Betrachtet man aber die in der Literatur beschrieben Therapieverfahren
für exzessives Glücksspiel oder Einkaufen, so wird meist die diagnostische Klassifikation
für therapeutisch nicht entscheidend gehalten [19] oder sie orientieren sich explizit nicht an einem Suchtmodell [20]
[21].
Die Frage, ob hochfrequentes und selbstschädigendes Verhalten in diagnostischer, ätiologischer
und therapeutischer Hinsicht den stoffgebundenen Abhängigkeiten entspricht, ist wichtig
für die Nosologie psychischer Störungen. Aber nicht, weil durch eine solche Gleichsetzung
die Krankheitslehre vereinfacht würde, sondern weil sie uns anhält, Konstrukte wie
Abhängigkeit, Verlangen oder Kontrollverlust präzise zu operationalisieren und auf
ihren pathognomonischen Wert zu prüfen.