Z Orthop Unfall 2007; 145(4): 408-410
DOI: 10.1055/s-2007-986517
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell

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Postoperatives Delir - Alte Patienten profitieren von intensiver Betreuung

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Publication Date:
02 October 2007 (online)

 
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Eine alte Dame, die ihren Alltag noch selbstständig organisieren kann, ist nach einem einfachen Eingriff plötzlich pflegebedürftig. Die Ursache: das postoperative Delir, das bei alten Menschen häufig auftritt. Ein Anästhesisten-Team hat nun einen Weg gefunden, die Delirrate zu senken: intensive prä- und postoperative Betreuung.

Für dieses Projekt wurden Dr. Simone Gurlit und Prof. Michael Möllmann von der Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin am St. Franziskus-Hospital Münster (SFH) ausgezeichnet mit dem "Förderpreis zur Optimierung der Pflege psychisch kranker alter Menschen" der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und -psychotherapie e. V. (DGGPP).

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Was war das Ziel Ihres Projektes?

Wir wollten die Rate des postoperativen Delirs (Tab. [1]) senken, indem wir uns intensiv um die alten Patienten kümmerten - vor, während und nach dem Eingriff.

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Tab. 1

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Was war die Motivation für dieses Projekt?

Nach der Routine-OP "hüftgelenknahe Fraktur" zum Beispiel liegt die Prävalenz des postoperativen Delirs bei über 65-jährigen Patienten bei 44-61 %. In der Folge kommt es zu einer Verlängerung des stationären Aufenthaltes - sowohl auf der Intensiv-als auch auf der Peripherstation. Poststationär findet sich eine erhöhte Institutionalisierungsrate. Ältere Patienten, die vor dem Eingriff alleine zurechtgekommen sind, können aufgrund des postoperativen Delirs zum Pflegefall werden. Am häufigsten betroffen sind Patienten mit vorbestehenden kognitiven Defiziten. Im St. Franziskus-Hospital werden pro Jahr mehr als 800 Patienten operiert, die älter als 80 Jahre alt sind. Ein Großteil dieser Patienten leidet neben multiplen organischen auch an demenziellen und/oder depressiven Erkrankungen. Dies war Grund genug für unsere Klinik, sich um eine optimierte Versorgung dieser Patientengruppe zu bemühen.

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Wie haben Sie die Delirrate gesenkt?

Im Dezember 2001 wurden auf unseren Antrag 170 000,- € vom Bundesministerium für Gesundheit bewilligt. Hiermit konnten wir zwei Vollzeit-Altenpflegestellen finanzieren. Die beiden Altenpfleger betreuten Notfallpatienten und Patienten, die vor einem großen Eingriff standen, vor, während und nach der OP.

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Wie sah diese Betreuung konkret aus?

Wurde zum Beispiel ein Patient mit hüftgelenknaher Fraktur notfallmäßig in die Ambulanz eingeliefert, stellte die Altenpflegerin sich vor und versicherte dem Patienten, dass sie bis nach der Operation an seiner Seite bleiben und für sämtliche Fragen stets ansprechbar sein würde. Gerade die Phase in der Ambulanz ist mit vielen ängstigenden Eindrücken verbunden, die für Patienten mit vorbestehenden kognitiven Defiziten kaum zu verarbeiten sind. Die Altenpflegerin nahm sich Zeit und erklärte dem Patienten, gegebenenfalls auch mehrfach, was passiert war, warum jetzt eine Operation stattfinden und wie diese ablaufen würde (Anästhesieverfahren etc.). Die Altenpflegerin begleitete den Patienten zu Voruntersuchungen wie EKG oder Röntgen und wartete mit ihm im Aufwachraum oder auf der Peripherstation auf den operativen Eingriff. Diese Zeit wurde genutzt, um eine möglichst intensive Bindung zwischen Patient und Pflegerin herzustellen. Außerdem wurde ggf. eine adäquate Schmerztherapie eingeleitet, Hilfsmittel wie Brille oder Hörgeräte wurden organisiert und Angehörigenkontakt wurde - falls gewünscht - hergestellt.

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Wie sah die Betreuung während des Eingriffs aus?

Die Altenpflegerin begleitete den Patienten in die zentrale Einleitung, wo vorzugsweise regionalanästhesiologische Verfahren zum Einsatz kamen (hier: Spinalanästhesie). In dieser Phase half die Betreuerin bei der Lagerung und dem Monitoring, und sie beruhigte den Patienten durch Gespräche und Zuwendung. Ein gut vorbereiteter Patient konnte den Stich in den Rücken besser tolerieren. Im Anschluss begleitete die Altenpflegerin Patient und Anästhesist in den Operationssaal und blieb während der gesamten Operation an der Seite des Patienten. Bedarfsabhängig wurde erklärt, zugehört, basal stimuliert o. ä. - immer individuell auf die Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten. Für den Anästhesisten ermöglichte diese intensive Betreuung den weitgehenden Verzicht auf sedierende Medikamente wie Benzodiazepine, die insbesondere bei diesem Patientenklientel vermieden werden sollten.

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Wie lange wurde postoperativ betreut?

Nach der Operation begleitete die Altenpflegerin den Patienten in den Aufwachraum bzw. auf die Intensivstation und kümmerte sich erneut um Hilfsmittel, Telefonkontakte etc. In den folgenden Tagen erfolgte eine individuelle Betreuung nach dem Prinzip "kognitives Fördern und Fordern" mit Maßnahmen wie Vorlesen, Gedächtnistraining o. ä. Schließlich wurde frühzeitig der Kontakt zum Sozialdienst hergestellt, um eine optimale Rückkehr in den Alltag zu gewährleisten.

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Wie verlief die Betreuung bei geplanten Eingriffen?

Patienten, die sich einem geplanten größeren Eingriff unterziehen mussten, konnten schon deutlich früher, im Rahmen der prästationären Voruntersuchungen, vom Team betreut werden. Bei dieser Patientengruppe erfolgte zur groben Einschätzung der prä­operativen kognitiven Ausgangssituation ein "Mini-Mental-Test", der postoperativ wiederholt wurde. Dies war ein Versuch, auch unter den Bedingungen der klinischen Routine, mögliche kognitive Defizite des Patienten besser einschätzen zu können. Die postoperative Wiederholung ergab nicht selten eine Verschlechterung der Situation, die im kurzen Visitengespräch für den betreuenden Arzt nicht erkennbar gewesen wäre.

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Wie wurden die Altenpflegerinnen auf ihre Aufgabe vorbereitet?

Die Altenpflegerinnen (heute ergänzt durch eine Sozialarbeiterin) wurden durch uns Anästhesisten auf die Arbeitsabläufe im OP vorbereitet. Wir erklärten ihnen anästhesiologische und operative Aspekte klassischer Eingriffe sowie mögliche Komplikationen. Außerdem machten wir das Team im Haus bekannt und warben immer wieder für unsere Arbeit.

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Abb. Im St. Franziskus-Hospital Münster steht den alten Patienten  prä-, peri- und postoperativ eine Altenpflegerin zur Seite. Die Folge: Es kommt seltener zum postoperativen Delir.

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Wie wurde die Arbeit des Geriatrie-Teams im Haus aufgenommen?

Zunächst wurde das Geriatrie-Team als "Tüdel-Truppe" belächelt. In den Augen eines operativ orientierten Kollegen war "Händchenhalten" im OP keine Arbeit, sondern allenfalls Verbesserung des Patientenkomforts. Wir mussten die Kollegen für das Thema "perioperative Verwirrtheit" erst sensibilisieren. Im Laufe der Zeit erlebte das Team eine ständig wachsende Akzeptanz. Und inzwischen haben die meisten Operateure unmittelbar erleben können, dass ihre Patienten von unserer Arbeit profitierten (und sei es durch verkürzte Verweildauern). Heute fordern sie sogar selbst die Unterstützung durch das Team an.

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Lässt sich der Erfolg dieses Projektes in Zahlen fassen?

In der Zeit von Mai 2003 bis November 2006 wurden 1 930 Patienten behandelt, die Delirrate lag bei 5,4 % (Tab. [2]). Für alle eingeschlossenen Diagnosen war die Delirrate der betreuten Patienten signifikant geringer als in der vergleichbaren Literatur (Tab. [3]). So waren beispielsweise 4,8 % unserer Patienten, die sich dem Einsatz einer Total-Endoprothese der Hüfte unterziehen mussten, von einem postoperativen Delir betroffen. In der Literatur liegt Delirrate für diese Diagnose bei 40 %. Der reine Betreuungsaufwand lag durchschnittlich präoperativ bei 46,8 Minuten und postoperativ bei 68,1 Minuten. Zu addieren sind beachtliche Wegezeiten durch das Krankenhaus.

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Tab. 2

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Tab. 3

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Haben Sie Ihre Ergebnisse schon publiziert?

Wir werden die Ergebnisse in nächster Zeit publizieren, insbesondere weil nach der Preisvergabe viele interessierte Anfragen gekommen sind - sowohl aus der Altenpflege (Erweiterung des Berufsbildes!) als auch von anderen Krankenhäusern, die auch nach Wegen suchen, die wachsende Gruppe der älteren Patienten optimal zu versorgen.

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Konnten Sie durch die Verringerung der Delirrate Kosten sparen?

Eine betriebswirtschaftliche Analyse kam nach Berücksichtigung aller entstehenden Kosten zu dem Ergebnis, dass der Einsatz des Teams zu Einsparungen führt. Auf der einen Seite fallen zwar zusätzliche Personalkosten an. Auf der anderen Seite konnten jedoch durch die kürzere Liegedauer Kosten gespart werden. Bereits ab einer Delirrate von 11,99 % ist der Break-Even-Punkt erreicht, bei dem die zusätzlichen Kosten des Geriatrie-Teams in erster Linie durch Verkürzung der Verweildauer kompensiert werden. Die erreichte Delirrate von rund 5,4 % führt zu verbesserten Deckungsbeiträgen. In diesem Ansatz sind noch keine Opportunitätskosten in Form von entgehenden Erlösen enthalten, die durch verlängerte Verweildauern entstehen, wenn keine freien Kapazitäten für Neuaufnahmen zeitnah zur Verfügung stehen.

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Wird das Projekt fortgesetzt?

Als Konsequenz unserer Kosten-Nutzen-Rechnung führt das St. Franziskus-Hospital die Arbeit des Geriatrie-Teams auch nach Ablauf der Förderung durch das Bundesministeriums weiter. Die Altenpflegerinnen sind jetzt feste Mitarbeiter des Hauses - diese Entwicklung spricht in Zeiten knapper Kassen wohl für sich.

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Dr. med. Simone Gurlit

Dr. med. Simone Gurlit

Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin St. Franziskus-Hospital Münster

Quelle: AINS 2007; 6: 406-407

 
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Tab. 1

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Abb. Im St. Franziskus-Hospital Münster steht den alten Patienten  prä-, peri- und postoperativ eine Altenpflegerin zur Seite. Die Folge: Es kommt seltener zum postoperativen Delir.

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Tab. 2

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Tab. 3

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Dr. med. Simone Gurlit