Einleitung
In Deutschland leiden etwa 1,0 - 1,5 Millionen Menschen unter einem Ulcus cruris unterschiedlicher
Genese. Die häufigste Ursache ist die chronische venöse Insuffizienz (CVI) bei ca.
80 % der Patienten [1]. Neben beispielsweise einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK), Vaskulitiden
oder Diabetes mellitus kann auch die Einnahme verschiedener Medikamente nicht nur
die Abheilung bereits bestehender Wunden behindern, sondern auch die Entstehung eines
Ulcus cruris primär verursachen [2] ([Tab. 1]). Wir beschreiben erstmalig das Auftreten von Ulcera crurum nach Einnahme von Anagrelid.
Tab. 1 Potenzielle Ursachen von Ulcera crurum.
| Gefäßerkrankungen, z. B. CVI, pAVK |
| Vaskulitiden, z. B. leukozytoklastische Vaskulitis, Polyarteriitis nodosa |
| Neuropathische Erkrankungen, z. B. Diabetes mellitus, Alkohol |
| Metabolische Defekte, z. B. Diabetes mellitus, Kalziphylaxie |
| Medikamente, z. B. Hydroxyurea, Phenprocoumon |
| Genetische Defekte, z. B. Klinefelter-Syndrom, Faktor-V-Leiden-Mutation |
| Hämatologische Defekte, z. B. Sichelzellanämie, Dysproteinämie |
| Exogene Faktoren, z B. thermisch, mechanisch |
| Neoplasien, z. B. Basalzellkarzinom, kutanes Lymphom |
| Infektionen, z. B. Mykobacteriose, Sporotrichiose |
| Dermatosen, z. B. Pyoderma gangraenosum, Necrobiosis lipoidica |
Kasuistik
Anamnese
Ein 38-jähriger Patient, bei dem nach einem Myokardinfarkt eine essenzielle Thrombozythämie
diagnostiziert worden war, erhielt für 3 Jahre 1 × 500 mg/d Hydroxyurea. Bereits 6
Wochen nach Umstellung der Medikation auf 2 × 500 mg/d Anagrelid traten spontan äußerst
schmerzhafte Erytheme im Bereich beider Malleoli laterales auf, die im weiteren Verlauf
exulzerierten. Als weitere Medikation nahm er ASS, Allopurinol, Lisinopril und Bisoprolol
jeweils unverändert seit 3 Jahren ein.
Körperlicher Untersuchungsbefund
Bei der Erstvorstellung in unserer Klinik war der Patient in einem guten Allgemein-
und Ernährungszustand. Die Körpertemperatur war normwertig. Beidseits im Bereich der
Malleoli laterales bestanden druckdolente Ulzerationen von 2,0 cm im Durchmesser rechts
sowie 1,5 cm links. Am rechten Knöchel war das Ulcus nekrotisch belegt und hatte am
Wundrand ein ausgeprägtes livides Erythem, das bis zum distalen Unterschenkeldrittel
reichte ([Abb. 1 a]). Linksseitig sah man ein fibrinös belegtes Ulcus cruris mit erythematösem Randsaum
und Atrophie blanche in der unmittelbaren Umgebung ([Abb. 1 b]).
Abb. 1 a Ulcus cruris am rechten Malleolus lateralis nach chirurgischem Debridement. b Fibrinös belegtes Ulcus cruris am linken Malleolus lateralis. c und d Vollständig abgeheilte Ulcera crurum 8 Wochen nach Absetzen von Anagrelid.
Klinisch chemische Untersuchungen
Die serologischen Befunde zeigten keine systemischen Infektzeichen: CRP, BSG und Leukozyten
waren ebenso wie das restlich untersuchte Routinelabor inklusive Elektrolyte, Leber-
und Nierenwerte normwertig. Auch die antinukleären Antikörper, extrahierbare nukleäre
Antikörper, antinukleäre zytoplasmatische Antikörper, HbA1c, Kryoglobuline, Antiphospholipid-Antikörper
sowie die Gerinnungsparameter waren unauffällig. Die Thrombozytenzahl war unter Therapie
mit Anagrelid mit 291 × 109/l im Normbereich.
Ergänzende Untersuchungen
Die Doppler- und Duplex-Untersuchungen des oberflächlichen und tiefen Beinvenensystems
zeigten keine Mündungsklappeninsuffizienz oder Hinweise auf das Vorliegen einer chronisch-venösen
Insuffizienz. Die Pulse an den Füßen und Leisten waren gut tastbar und bei normwertigen
brachiotibialen Indizes (BTI) konnte eine pAVK ausgeschlossen werden. Eine Polyneuropathie
war klinisch nicht festzustellen. Die bakteriologische und mykologische Diagnostik
war unauffällig. Die histopathologischen Untersuchung einer aus dem Wundrand entnommenen
Biopsie zeigte eine ausgeprägte fibrosierende Dermatitis ohne Hinweis auf eine floride
Vaskulitis.
Therapie und Verlauf
Nach initialem chirurgischen Debridement führten wir ein modernes feuchtes Wundmanagement
unter Verwendung von u. a. Hydrokolloidverbänden, Biochirurgie und Vakuumversiegelung
über 3 Wochen ohne wesentliche Befundverbesserung durch. In Absprache mit den Kollegen
aus der Hämatologie setzten wir Anagrelid ab. Unter engmaschigen Blutbildkontrollen
stieg jedoch innerhalb einer Woche die Thrombozytenzahl auf pathologische Werte, sodass
interdiszipilinär entschieden wurde, erneut eine Therapie mit Hydroxyurea zu beginnen.
Im weiteren Verlauf heilten die Ulcera crurum unter Fortführung der konservativen
Lokaltherapie mit Verwendung einer Vakuumversiegelung und modernen Wundverbänden innerhalb
von 8 Wochen vollständig ab ([Abb. 1 c, d]).
Nach Ausschluss anderer Ursachen stellten wir die Diagnose von Ulcera crurum in Zusammenhang
mit der Einnahme von Anagrelid.
Diskussion
In der Literatur wurden Ulzerationen als Nebenwirkung verschiedener Medikamente wie
beispielsweise Marcumar, Nifedipin oder Hydroxyurea bereits mehrfach beschrieben [6]
[10]
[13]. Wir konnten jedoch keine Publikation über das erstmalige Auftreten von Ulcera crurum
unter Einnahme von Anagrelid finden. Es existiert lediglich ein Fallbericht über Ulzerationen
unter Therapie mit Anagrelid, bei denen es sich um ein Rezidiv eines zuvor bereits
abgeheilten Hydroxyurea-induzierten Ulcus cruris handelte [9].
Anagrelid ist ein Imidazoquinazolin, das 2005 in Deutschland u. a. für die Behandlung
der essenziellen Thrombozythämie zugelassen wurde. Die hemmende Wirkung von Anagrelid
auf die humane Thrombozytenbildung wird über eine Verzögerung der Megakaryozyten-Reifung
durch Inhibition der zyklischen AMP-Phosphodiesterase III vermittelt. Kanzerogene,
insbesondere Leukämie-induzierende Effekte konnten bislang nicht nachgewiesen werden.
Die am häufigsten beschriebenen Nebenwirkungen sind Kopfschmerzen, Durchfall, Palpitationen,
Schwächegefühl, Schmerzen, Benommenheit, Bauchschmerzen und Übelkeit. Die überwiegende
Zahl der Nebenwirkungen bildet sich jedoch innerhalb von 2 - 3 Wochen zurück [4]
[8]. Hydroxyurea hingegen ist ein hydroxyliertes Harnstoffderivat, das für zahlreiche
kutane Nebenwirkungen wie beispielsweise Nagelverfärbungen, Dermatomyositis-artigen
Hautveränderungen, Alopezie und Ulzerationen bekannt ist [3]
[11]
[12]. Die meist äußerst schmerzhaften Ulzerationen treten nach langjähriger Einnahme
von Hydroxyurea insbesondere symmetrisch an den Malleolen, Fersen oder auch den Fußrücken
auf [7]. In der Literatur wird das Auftreten dieser Ulzerationen meist 1 - 10 Jahre nach
Beginn der Therapie beschrieben [3]
[12]. Die Pathogenese konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden. Es wurde eine Graft-versus-Host-ähnliche
Reaktion mit Degeneration der basalen Keratinozyten und einer epidermodermalen Spaltbildung
vermutet [3]. Ebenso wurde ein zytostatischer Effekt auf die basalen Keratinozyten oder eine
Störung der Mikrozirkulation durch Effekte auf Erythrozyten mit Verminderung der Anzahl,
Zunahme des mittleren Volumens und somit verminderte Verformbarkeit diskutiert [11]
[14].
In dem hier beschriebenen Fallbericht entwickelten sich die Ulcera crurum 6 Wochen
nach Absetzen von Hydroxyurea und Beginn der Therapie mit Anagrelid. Somit könnten
sie entweder als Folge der Langzeiteinnahme von Hydroxyurea oder als Ausdruck der
neu eingeleiteten Therapie mit Anagrelid gesehen werden. Aufgrund der Tatsache, dass
die Ulcera crurum trotz optimierter Lokaltherapie unter Fortführung der Behandlung
mit Anagrelid persistierten, jedoch nach Umsetzen der Therapie auf die erneute Einnahme
von Hydroxyurea bei Fortführung der konservativen Therapie vollständig abheilten,
sehen wir den kausalen Zusammenhang am ehesten durch die Einnahme von Anagrelid bedingt.
Der genaue Pathomechanismus, der letztendlich für das Entstehen der vermutlich durch
Anagrelid induzierten Ulcera crurum verantwortlich sein könnte, bleibt weiterhin unbekannt.
Konsequenz für Klinik und Praxis
-
Schmerzhafte, symmetrisch auftretende Ulcera crurum im Bereich der Malleolen sollten
differenzialdiagnostisch auch an Anagrelid als ursächlichen Faktor denken lassen.
-
Neben einer modernen feuchten Wundtherapie ist die Umsetzung der Therapie mit Anagrelid
für die Abheilung der Ulzerationen notwendig.
Autorenerklärung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen Verbindungen mit einer Firma haben,
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