Zentralbl Chir 2008; 133(1): 13-14
DOI: 10.1055/s-2008-1004670
Editorial

© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Gesundheitssystem und Qualitätsmanagement - Wie viel Selbstbetrag ist erträglich?

Health-Care System and Quality Management - How Much Self-Deception is Allowed?D. Henne-Bruns1
  • 1Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie, Universität Ulm
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Publication Date:
18 February 2008 (online)

Die Zielsetzung der 15. Jahrestagung der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft für Qualitätssicherung bestand in der kritischen Betrachtung aktueller, im Gesundheitssystem relevanter Themen. Einige Tagungsbeiträge möchten wir Ihnen in diesem Heft wiedergeben.

In meinem eigenen Beitrag „Gesundheitssystem und Qualitätsmanagement: Wie viel Selbstbetrug ist erträglich?” habe ich folgende Probleme thematisiert:

Die Basis unserer Qualitätssysteme ist heutzutage die sogenannte Evidenz-basierte Medizin. Ob etwas Evidenz-basiert ist, bzw. wie stark es Evidenz-basiert ist, leiten wir von dem Evidenzgrad der zu Grunde liegenden Studien ab. Die „Königsdisziplin” ist dabei die Metaanalyse von prospektiven randomisierten Studien, die möglichst in hochrangigen Journalen (gemessen an den Impact-Punkten) publiziert wurden. Aus diesen Evidenz-basierten Publikationen leiten wir unsere Leitlinien ab, die möglicherweise zu Standards werden bzw. als Grundlage für eine Zertifizierung herangezogen werden. Bedauerlicherweise vergessen wir dabei aber allzu oft, welchen Einflussgrößen auch Publikationen in renommierten Zeitschriften unterliegen. Eine starke Einflussgröße ist der Sponsor einer Studie, dessen Interessenlage in einem für ihn positiven Ergebnis besteht.

In vier Tagungsbeiträgen wurde darauf hingewiesen, dass Mechanismen wie z. B. die Selektion der Studienpopulation, die partielle Darstellung der Daten sowie die subjektive Interpretation der Daten zu einer verzerrten Darstellung der Ergebnisse führt, welche aber ohne weiteres im Interesse des Sponsors (z. B. Pharmaindustrie) stehen kann. Von einer derartigen Beeinflussung sind selbst renommierte Publikationsorgane wie z. B. das New England Journal of Medicine nicht ausgenommen. Wie sehr Studien von kommerziellen Interessen beeinflusst sind, hat schon das Deutsche Ärzteblatt in dem Artikel „Geht es nur um die Wahrheit” (Deutsches Ärzteblatt 27, 2.7.2004) aufgezeigt, in dem der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft, Herrn Prof. Dr. med. B. Müller-Oerlinghausen mit dem Satz zitiert wird „Kenner der Szene meinen, dass ein bedeutender Prozentsatz aller Daten, die zur Registrierung eines neuen Medikamentes bei den Behörden vorgelegt werden, schöngefärbt oder gefälscht sind”.

Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund allerdings, dass wir uns bei der Leitlinienentwicklung noch immer direkt auf die sogenannten Evidenz-Grade von Studien bzw. ihren Publikationen beziehen, wohl wissend, dass die Ergebnisse aus diesem selektionierten Patientengut (Studienpopulation) ohne ergänzende Versorgungsforschung nicht ohne weiteres auf die Bevölkerung übertragbar sind (Deutsches Ärzteblatt 39, 29.9.2006).

Die Frage stellt sich daher, warum wir trotz besseren Wissens weder die Mühen noch die Kosten für immer neue Leitlinien scheuen, um Versorgungsprinzipien festzulegen, von denen wir eigentlich wissen müssten, dass sie nicht valide sind? Bezüglich der finanziellen Belastung des Gesundheitssystems entsteht somit die Situation, dass wir aus eigentlich nicht abgesicherten Studiendaten Behandlungsverpflichtungen (Behandlungsfinanzierung) für die Krankenkassen ableiten.

Die Notwendigkeiten des Überdenkens unserer aktuellen Aktivitäten bezüglich der Qualitätssicherung ergibt sich auch unter anderen Aspekten: Wir übersehen vollständig, dass die Existenz und Beschäftigung von zahlreichen Firmen oder Instituten, die sich mit Beratung, Kursen, Vergabe von Lizenzen, Nachweisen oder Zertifikaten beschäftigen, im Prinzip direkt oder indirekt aus dem Volumen der Versicherungsbeiträge aufgebracht werden müssen. Es ist verständlich, dass jeder Krankenversicherte ein „qualitätsgesichertes Behandlungsprodukt” haben möchte, ob ihm aber dabei klar ist, dass bei Untersuchungen nur die Anzahl der erbrachten Leistungen und nicht die Qualität zertifiziert wird (z. B. Sonografie - Anzahl der Sonografien vs. Anzahl der richtigen Diagnosen), ist zu bezweifeln. Überspitzt formuliert könnte man diese Praxis auch als einen Betrug am Kunden bezeichnen, da ein Patient bei dem Begriff Qualität das Ergebnis und nicht den Prozess versteht.

Ein Fragezeichen müssen wir auch bei der Effizienz unserer vielfältigen etablierten Register anbringen. Es ist sicher interessant zu wissen, welche operative Versorgung bei einer Schenkelhalsfraktur in welcher Fachabteilung in welchem Zeitrahmen in einem Bundesland durchgeführt wird. Viel interessanter jedoch wäre es zu wissen, wie das kurz- und vor allem langfristige Ergebnis dieser unterschiedlichen Versorgungsformen ist. Diese kurz- oder langfristigen Ergebnisse werden aber leider nicht registriert, sodass als Ergebnis einer umfangreichen Qualitätssicherungsmaßnahme lediglich eine Landkarte ohne definitive Aussagekraft resultiert. Aus einer derartigen Landkarte Schlüsse zu ziehen bezüglich der Versorgungsplanung, kann wohl kaum als Evidenz-basierte Medizin betrachtet werden.

Die Stichpunkte mögen zeigen, wie viele grundsätzliche Probleme unsere aktuelle Vorgehensweise beinhaltet. Sie zeigen ferner, welche finanziellen Ressourcen eingesetzt werden, die nicht den Patienten zugute kommen. In der Versorgung armer Menschen gibt es bereits heute eklatante Versorgungslücken. Menschen, die Arbeitslosengeld II beziehen, sind per se nicht mehr krankenversichert. Erschreckend in diesem Zusammenhang ist die zunehmend registrierte Abweisung dieser Patienten durch Kliniken, was meines Erachtens eine eklatante Verletzung des humanitären Behandlungsgebots darstellt. Vor dem Hintergrund dieser bereits deutlich sichtbaren Entwicklung (ca. 8 Millionen Bundesbürger sind aktuell von Armut bedroht) gibt es für mich zwei wesentliche Forderungen:

müssen wir unser gesamtes System der Qualitätssicherung überdenken und müssen wir an alle Kollegen appellieren, Patienten ohne Versicherungsnachweis nicht aus vermeintlich finanzieller Notwendigkeit aus unserem Qualitätsbestreben auszugrenzen!

Prof. Dr. D. Henne-Bruns

Universitätsklinikum Ulm · Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie

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89075 Ulm