Psychother Psychosom Med Psychol 2008; 58(3/04): 136-145
DOI: 10.1055/s-2008-1067364
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© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Interkulturelle Aspekte in der medizinischen Versorgung nichtdokumentierter Migranten

Intercultural Aspects of Medical Care for Undocumented MigrantsPatricia  Cerda-Hegerl1
  • 1Interkulturelle Akademie
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Publication Date:
18 April 2008 (online)

Zusammenfassung

Angesichts der heutigen kulturellen Vielfalt in der deutschen Gesellschaft ist es schon lange an der Zeit, sich im Bereich der medizinischen Versorgung auf die neue Klientel einzustellen. Dieser Artikel bietet einen Überblick für Ärzte, ärztliches Personal und Psychologen über Wege, Hintergründe und Netzwerke der Migration nach Deutschland, insbesondere über die wenig bekannte nichtdokumentierte Migration. Diese hat in den letzten Jahren stets zugenommen. Die Autorin geht den Fragen nach, was macht seelisch Migranten krank und was passiert, wenn die in der Schattenwelt lebenden Migranten krank werden? Der Artikel bietet darüber hinaus Stichpunkte, um interkulturell kompetent in der Versorgung von Migranten mit und ohne Papiere zu handeln. Es werden Dimensionen der kulturellen Unterschiede wie Kollektivismus versus Individualismus (die Mehrheit der Herkunftsländer der Migranten mit und ohne Aufenthaltstitel in Deutschland sind kollektivistisch geprägt) erklärt außerdem Unterschiede in den Kommunikationsstilen. Folgende Stile samt ihren Auswirkungen in der Praxis werden u. a. analysiert: indirekte versus direkte Kommunikation; emotionale Kontrolle versus Expressivität; Sachlichkeit versus Beziehungsorientierung.

Abstract

In view of the cultural diversity in German society today, the time has long since come when medical care must adjust to its new clientele. This article provides an overview for doctors, medical personnel and psychologists of approaches, backgrounds and networks of migration to Germany, in particular over the little known undocumented migration. This migration has steadily increased in recent years. The author deals with the circumstances which create psychological problems for migrants and what happens when migrants living in this shadow world fall ill. In addition, the article offers an agenda for interculturally competent action in caring for documented and undocumented migrants. Dimensions of cultural differences such as collectivism versus individualism (most of the countries of origin of these migrants in Germany with or without documents are collectivistic) are explained along with differences in styles of communication. The following styles with their impact in actual practice are analyzed: indirect versus direct communication; emotional control versus expressiveness; functionalism versus relationship orientation.

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1 Im Anschluss an den Rechtsanwalt McHardy wird ein „illegaler Zuwanderer” als ein „Ausländer definiert, der sich ohne erforderliche Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufhält und infolgedessen ausreisepflichtig ist und/oder ohne erforderliche Arbeitserlaubnis in Deutschland einer Beschäftigung nachgeht”. Mit dem Begriff „irregulärer Zuwanderung” soll verdeutlicht werden, dass gegen Bestimmungen verstoßen wird, die ausschließlich für ZuwanderInnen gelten. Die Vereinten Nationen empfehlen, anstelle der Verwendung von Begriffen, die Vorverurteilungen und abgefasste Meinungen festschreiben, in allen offiziellen Zusammenhängen die Bezeichnung „migrant workers in an irregular situation” oder „migrant workers without documents” zu benutzen.

2 Kollektivismus wird hier als eine kulturelle Dimension verstanden, die den Grad bis zu dem die Individuen in Gruppen integriert sind, bezeichnet.

3 Ein Expatriate ist jemand, der vorübergehend oder dauerhaft, aber ohne Einbürgerung, in einem anderen Land oder Kulturkreis lebt als dem seiner Abstammung.

Dr. Patricia Cerda-Hegerl

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