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DOI: 10.1055/s-2008-1075868
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York
Medizinische Versorgungszentren: Konkurrenz oder Ergänzung zum Krankenhaus? - Qualität muss gewährleistet sein
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
15. April 2008 (online)
- Eine Klinik im Kleinen?
- Weniger Schnittstellen für höhere Qualität
- Qualitäts- und Effizienzsteigerung
- Fachliches und wirtschaftliches Interesse ist die Grundlage
- Beispiele aus der Integrations-Praxis
- Entwicklung von Indikatoren
Die Dynamik im Gesundheitswesen ist nicht zu übersehen: Nicht nur die Strukturen in den Kliniken wandeln sich stetig, auf dem Sektor der niedergelassenen Ärzte tut sich ebenfall viel. Immer mehr Niedergelassene beteiligen sich zum Beispiel über die Gründung medizinischer Versorgungszentren an der integrierten Versorgung. Dabei sind solche Versorgungszentren mit eigener ärztlicher Leitung und einem übergreifenden Management häufig fast eine „kleine Klinik”. Über eine Steigerung von Effizienz und Qualität hofft man so, bessere Versorgungsstrukturen bereitstellen zu können - einmal natürlich für die Patienten, aber sicherlich auch für die Kooperation mit Kliniken der Region. Ein Blick auf den aktuellen Stand lohnt sich also auch für Kliniker.
Im Gesundheitswesen hat sich in den vergangenen Jahren eine große Dynamik entfaltet: Praxisnetze, Ärztegenossenschaften und medizinische Versorgungszentren (MVZ) sprießen nur so aus dem Boden. Besonders rasant ist dabei die Entwicklung bei den medizinischen Versorgungszentren. Bis heute gibt es bereits über 900 solcher Kooperationen und pro Quartal kommen 60-80 neue hinzu. Doch was zeichnet ein „gutes” medizinisches Versorgungszentrum aus?
#Eine Klinik im Kleinen?
Medizinische Versorgungszentren (MVZ) unterscheiden sich als neue Versorgungsformen von den bisher üblichen Einzelpraxen. Die Ärzte arbeiten nicht mehr isoliert, sondern fachübergreifend in Teams unter einem Dach zusammen. So können sie sich besser über die jeweiligen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden für einen Patienten abstimmen. Zugleich treten medizinische Versorgungszentren nach außen durch die ärztliche Leitung und das übergreifende Management als eine Versorgungseinheit auf.
Aufgrund ihrer komplexeren Strukturen und Abläufe ist ein gelebtes Qualitätsmanagement (QM) für solche Zentren mindestens so bedeutsam wie für einzelne Arztpraxen oder Kliniken. Bislang fehlt es allerdings an praxisnahen Lösungen, welche die Besonderheiten medizinischer Versorgungszentren berücksichtigen.
#Weniger Schnittstellen für höhere Qualität
Die Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Helga Kühn-Mengel, beklagte die mangelnde Qualität in unserem Gesundheitswesen. Die Auswertung von 75000 Patientenanfragen an ihr Büro habe ergeben, dass die am häufigsten genannten Defizite fehlende Patienteninformationen, mangelnde Aufklärung über Behandlungsalternativen bzw. über Nebenwirkungen von Medikamenten seien. Häufig wird ein Behandlungsziel überhaupt nicht genannt, Doppelbehandlungen sind immer noch an der Tagesordnung.
„An allen Schnittstellen geht Qualität, Information und Geld verloren”, kritisierte Kühn-Mengel. Sie ist überzeugt, dass integrierte Versorgungsstrukturen diese Defizite beseitigen könnten. „Die integrierte Versorgung ermöglicht eine höhere Qualität, die Ärzte stimmen sich besser ab, die Behandlung ist koordiniert, der Informationsfluss besser.”
Der Vorsitzende der Stiftung Praxissiegel, Prof. Dr. Eckart Fiedler, meinte dazu: „Der schärfer werdende Wettbewerb erfordert mehr Professionalität in der medizinischen Versorgung”, das bedeute: Steigerung der Betreuungsqualität bei gleichzeitigem Effizienzgewinn. Fiedler bezeichnete die sich im Moment entwickelnden medizinischen Versorgungszentren als die Versorgungsform der Zukunft. Denn hier finde eine fachübergreifende vernetzte Behandlung statt. Nun gelte es, Qualitätsstandards für diese Form der integrierten Versorgung zu finden.
#Qualitäts- und Effizienzsteigerung
Die neuen Versorgungsformen bergen immense Potenziale, meinte Hans-Dieter Nolting vom IGES Institut in Berlin. Er hat die Studienlage untersucht und festgestellt, dass „Reviews zu den Effekten von integrierten Versorgungsformen zwar durchaus verfügbar sind, sich die meisten Studien aber auf Formen der Integrationsversorgung beziehen, die man auch als verbesserte intra- und intersektorale Kooperation bezeichnen könnte.”
Es gibt allerdings keine detaillierte Übersicht zur Wirksamkeit einzelner Maßnahmen zur Steigerung von Qualität und Effizienz in der integrierten Versorgung. Um die wichtigsten „Treiber” für die Realisierung der unbestreitbaren Potenziale der integrierten Versorgung herauszufinden, verglich Nolting das englische Gesundheitssystem NHS mit der privaten Krankenversicherung „Kaiser Permanente” (KP) aus Kalifornien. Er kam zu dem Schluss, dass die Kaiser Permanente für das gleiche Geld mehr leiste.
#Fachliches und wirtschaftliches Interesse ist die Grundlage
Was macht die KP aber anders als das NHS? Und warum investiert Kaiser Permanente die Effizienzgewinne in die Steigerung der Qualität? Nolting resümierte, nachdem er sorgfältig alle Einzelfaktoren analysierte hatte (unter www.praxissiegel.de nachzulesen), dass die Überlegenheit der kalifornischen Krankenversicherung in Sachen Effizienz und Qualität mit zwei grundlegenden Dingen zusammenhängen müsse:
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mit der finanziellen Verantwortung, die ausschließlich bei den Ärzten liegt, und
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der alleinigen medizinischen Führung durch die Ärzte.
Die Ärzte steuern und verantworten also den Einsatz der verfügbaren Finanzen und profitieren von einem möglichst effizienten Einsatz der Mittel. Außerdem legen die Ärzte nicht nur die Behandlungspfade fest, sondern beeinflussen auch die Strukturen selbst: Welche Fachabteilungen und diagnostischen Einrichtungen wollen wir zum Beispiel im Krankenhaus haben, welche halten wir andernorts vor? „Das KP-System macht die Ärzte mit ihren fachlichen und wirtschaftlichen Interessen zu Treibern von Qualität und Effizienz”, so Nolting.
Dieser Sichtweise kann Dr. Christoph Straub von der Techniker Krankenkasse (TK) durchaus einiges abgewinnen. Als stellvertretender Vorstandsvorsitzender kritisierte er, dass in Deutschland das Gesundheitswesen immer nur im Zusammenhang mit Lohnnebenkosten diskutiert werde. Der Begriff „Qualität” beinhalte aber neben einer hochwertigen Versorgung auch mehr Transparenz über Qualitätsdaten, eine verbesserte Abstimmung der Leistungserbringer untereinander, eine größere Einbeziehung der Patienten und mehr Sicherheit für diese. Er halte es da mit Reinhard Mohn, der gesagt haben soll: „Mache die Ergebnisse transparent und du erhältst einen Wettlauf der Systeme.”
#Beispiele aus der Integrations-Praxis
Dass die Vernetzung ihrer Strukturen die Kommunikation untereinander enorm verbessert habe und sich durch den Einsatz von netzbasierter elektronischer Dokumentation die Transparenz und Effizienz gesteigert habe, darüber waren sich alle eingeladenen Experten mit eigener Erfahrung aus einem medizinischen Versorgungszentrum einig. Eine standardisierte Dokumentation, die auf eine einheitliche oder die „eine” digitale Patientenakte zuläuft, sind für sie unerlässlich.
Im Zürcher Hausärztenetz mediX, das schon seit zehn Jahren funktioniert, haben sich Gruppen- und Einzelpraxen zu einer Betriebs-Aktiengesellschaft zusammengefunden und das volle finanzielle Risiko für sämtliche Kosten ihrer Versicherten übernommen. mediX ist ein Einschreibmodell mit Prämienrabatt mit striktem Gatekeeping.
„Alltagstaugliches” Qualitätsmanagement
Das europäische Praxisassessment (EPA) ist ein wissenschaftlich fundiertes, alltagsnahes Qualitätsmanagementsystem für die Arztpraxis. Es beruht auf Qualitätsindikatoren, verschiedenen Assessmentverfahren und einem anonymen, internetbasierten Benchmarking. EPA wurde ursprünglich von internationalen Experten in sechs europäischen Ländern für Hausärzte entwickelt. Es ist mittlerweile an den Bedarf von Kinder- und Jugendmedizinern, Fach- und Zahnärzten angepasst worden.
Das Budget wird gemeinsam verwaltet, der einzelne Arzt berechnet seiner Gesellschaft den Einzelleistungstarif. Mit der Übernahme der Budgetverantwortung wird eine Qualitätsdokumentation zwingend, so Felix Huber, Zürich. Beschränkte Ressourcen verpflichten zur Nutzenoptimierung. Da alle Praxen QM-zertifiziert sind, wird auch die Arbeit in den wöchentlichen Qualitätszirkeln belohnt, „das geht nur in Budgetmodellen”, betonte Huber.
Das seit fünf Jahren bestehende Mannheimer Ärztenetz „Qu@linet” hatte besonders mit Kommunikationsproblemen zu kämpfen, berichtete Dr. Manfred Mayer, Mannheim. Seine Netzärzte hatten anfangs 20 verschiedene Praxis-EDV-Systeme mit zwölf Softwareanbietern aufzuweisen, es gab keine gemeinsame Schnittstelle, um die Daten zusammenzuführen. Er sieht die elektronische Patientenakte als Zukunftsmodell.
Dr. Matthias Last vom Polikum Berlin, einem großen medizinischen Versorgungszentrum, hat diese schon. Alle Geräte sind in die digitale Akte eingebunden - für ihn neben der modernsten Medizintechnik das zentrale Element für ein medizinisches Versorgungszentrum. Um Doppeluntersuchungen zu vermeiden, Verordnungskosten zu senken, den Grundsatz „ambulant vor stationär” umzusetzen oder um Behandlungspfade zu implementieren seien sowohl der Datenaustausch als auch die Koordination durch ein Qualitätsmanagement vonnöten.
Prof. Michael Hallek, Centrum für Integrierte Onkologie Köln-Bonn, demonstrierte an der Diagnose 'Krebs', dass nicht nur aufgrund der medizinischen Forschung, sondern auch zum Beispiel durch die strukturierten Behandlungspfade, welche die Patienten mithilfe von Lotsen (einer spezialisierten Krankenschwester) passieren, die größten Kommunikationsdefizite beseitigt werden konnten. Die Aufklärung der Patienten, das Gespräch mit ihnen und die mitmenschliche Führung konnten so verbessert wurden. So sei „Krebs” dabei, von einer akut lebensbedrohlichen Indikation zu einem chronischen Leiden zu werden. Eine wirkliche Qualitätssteigerung.
#Entwicklung von Indikatoren
Die Bertelsmann-Stiftung startet ein neues Projekt zum Qualitätsmanagement in der integrierten Versorgung. Ziel der ersten Projektphase ist es, Qualitätsindikatoren für medizinische Versorgungszentren zu entwickeln. Diese sollen damit ihre internen Prozesse besser steuern und die Qualität für Patienten langfristig sichtbar machen. Basis des Projekts sind die Qualitätsindikatoren des europäischen Praxisassessments (EPA) für Einzelpraxen, die nun an die besonderen Strukturen in den Versorgungszentren angepasst werden.
„Mit diesen neuen Indikatoren unterstützen wir die medizinischen Versorgungszentren bei ihrem internen Qualitätsmanagement”, so Marion Grote Westrick von Praxissiegel e. V. Die Pilotstudie umfasst die Entwicklung der Indikatoren im Rahmen eines Delphi-Ratings, die Pilotierung der „EPA-MVZ”-Indikatoren, eine schriftliche Evaluation und einen abschließenden Konsentierungsworkshop. An der Entwicklung der Indikatoren für „EPA MVZ” beteiligen sich zehn Versorgungszentren unterschiedlicher Größe. Sie bringen ihren Bedarf und ihre Erfahrung in das Entwicklungsprojekt ein und prüfen die Indikatoren auf Praxisrelevanz. Die endgültigen Indikatoren werden von der Bertelsmann Stiftung veröffentlicht. Stiftung Praxissiegel e. V. wird ab 2009 Qualitätszertifikate „EPA MVZ” verleihen.
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