Krankenhaushygiene up2date 2008; 3(2): 93-95
DOI: 10.1055/s-2008-1077423
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Befreiung der Krankenhaushygiene aus der selbstverschuldeten Unwissenschaftlichkeit

Ines  Kappstein
Further Information

Publication History

Publication Date:
19 June 2008 (online)

Table of Contents

Zu der Frage „Was ist Aufklärung?” schrieb Immanuel Kant („Berlinische Monatsschrift” vom Dezember 1784):

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. ‚sapere aude! habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!’ ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen hat […], dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, etc., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen. […]. Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. […]”

#

Kant und Krankenhaushygiene

Vor gut 200 Jahren geschrieben, sind Kants Worte heute noch generell von unverändert aktueller Bedeutung. Was aber hat diese Botschaft konkret mit dem medizinischen Fach der Krankenhaushygiene zu tun? Eine ganze Menge. Denn wenn wir Kants Worte nur ein bisschen verändern und erweitern, hören sich seine Definitionen, bezogen auf die Krankenhaushygiene, etwa so an:

Selbstverschuldete Unmündigkeit. Die nicht selten zu beobachtende Unmündigkeit in der deutschen Krankenhaushygiene besteht in Unwissenschaftlichkeit, also dem Unvermögen, sich ohne Leitung eines Anderen mit Anschauungen und Auffassungen aus der (auch internationalen) wissenschaftlichen Fachliteratur auseinanderzusetzen. Selbstverschuldet ist diese Unwissenschaftlichkeit, weil ihre Ursache nicht an einem Mangel intellektueller Fähigkeiten - alle Krankenhaushygieniker sind schließlich gut ausgebildete Akademiker - oder an fehlenden publizierten Meinungen und wissenschaftlichen Daten in der Fachliteratur liegen kann, sondern am individuellen mangelnden Willen und Mut, diese Diskussionspunkte und Daten eigenverantwortlich zur Kenntnis zu nehmen, zu durchdenken und situationsangepasst danach zu handeln.

Mangel an Mut. Bequemlichkeit und Ängstlichkeit scheinen die Ursachen zu sein, warum man sich in der Krankenhaushygiene in Deutschland so oft strikt und unkritisch an die „Richtlinie für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention” der gleichnamigen Kommission (KRINKO) beim Robert-Koch-Institut (RKI) hält. Damit wird provoziert, dass auch die fachfremden bzw. -fernen Verantwortlichen an der „Richtlinie” festhalten, von Ärztlichen Direktoren und Chefärzten über Geschäftsführer bzw. Verwaltungsleitern zu hygienebeauftragten Ärzten, außerdem nicht selten Mikrobiologen sowie insbesondere Mitarbeiter im öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD).

Vormünder. Die Krankenhaushygiene bleibt so dauerhaft unmündig und macht es dadurch Anderen leicht, die führende Rolle zu übernehmen. Diese Führungsrolle fällt in Deutschland, wenn auch in dieser Form nicht beabsichtigt, der „Richtlinie” zu. Diejenigen, die sie als unumstößlich proklamieren, nehmen mit dieser Interpretation entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Krankenhaushygiene in Deutschland und sorgen dementsprechend dafür, dass dieses Fach nur noch als der verlängerte Arm der „Richtlinie” verstanden und zum Bestandteil polizeihygienischer Maßnahmen degradiert wird. Vor diesem Hintergrund ist die Krankenhaushygiene in Deutschland als wissenschaftliches Fach sklerosiert und verkümmert. Möglich wurde diese kontraproduktive Entwicklung des ursprünglich sogar universitär angesiedelten Faches zu einer richtlinienfixierten Vorschriftensammlung also vor allem dadurch, dass sich einige namhafte Repräsentanten der Krankenhaushygiene in Deutschland nicht ausreichend mit den in der internationalen Fachliteratur zum Thema der Infektionsprävention im Krankenhaus vorliegenden Diskussionen und Fakten auseinandersetzen und sich ausschließlich auf die „Richtlinie” berufen.

Eine Richtlinie, die für uns Verstand hat. Zugegeben, es ist sehr bequem, bei der Umsetzung krankenhaushygienischer Maßnahmen unmündig zu sein. Man hat ja die „Richtlinie”, und wenn man sich daran orientiert, kann schon das Gesundheitsamt nichts auszusetzen haben. Oder anders ausgedrückt: Wenn man nach den Vorgaben der „Richtlinie” arbeitet, ist man auf der gerne zitierten „sicheren Seite”, denn schließlich macht man ja alles, was die Experten der KRINKO festgelegt haben. Darüber nachzudenken, ob diese Empfehlungen in der gegebenen Situation wirklich begründet und sinnvoll sind, braucht man dann nicht mehr.

#

Beispiel „MRSA”: Ein Dogma wird fallen

Isolierungsvorgabe unreflektiert. Diese Haltung wird besonders beim Thema „MRSA” erkennbar, wo der vorauseilende Gehorsam auf Seiten der Kliniken sogar so weit geht, dass in Entlassungsberichten bei der Schilderung des stationären Verlaufs aufgeführt wird, dass der Patient nach Feststellung des MRSA „isoliert” wurde, wie wenn es sich dabei um eine sich auf diesen Patienten auswirkende präventive Maßnahme handeln würde. Was hat die „Isolierung” eines Patienten, die ja nach der durch die MRSA-Empfehlung der „Richtlinie” seit etwa 10 Jahren zementierten Meinung zum Schutz vor Übertragung des MRSA auf andere Patienten durchgeführt werden soll, was also hat diese Maßnahme mit dem Schutz dieses Patienten zu tun, der den MRSA schon hat und für den der Arztbericht geschrieben wird? Gar nichts. Er leidet vermutlich psychisch unter der Isolierung mit der Vermummung des Personals, nutzen tut sie ihm aber nicht, denn er hat den unerwünschten Erreger bereits erworben. Nur, wie ist es geschehen, dass er zu einem Träger von MRSA geworden ist? Die meisten würden wohl sagen: weil der MRSA von einem anderen Patienten übertragen wurde. Dies wird stillschweigend immer noch als erstes unterstellt, obwohl wir inzwischen wissen, dass viele Patienten bereits mit MRSA besiedelt in die Klinik kommen und dieser erst nach einer Behandlung mit Antibiotika nachgewiesen wird.

„Search-and-destroy”. Deshalb soll man ja ein Aufnahme-Screening durchführen, sagen die Befürworter der holländischen „search-and-destroy”-Strategie. Klingt plausibel, allerdings ergeben sich daraus auch Fragen: Angenommen, man findet auf diesem Weg wirklich die Mehrzahl der mit MRSA besiedelten Patienten und kann danach durch Isolierung dieser Pa-tienten ihre Mit-Patienten vor einer Übertragung schützen, was aber geschieht derweil mit all den Patienten, bei denen kein MRSA nachgewiesen wurde? Sie werden natürlich nicht isoliert, sind aber doch sehr häufig mit Methicillin-sensiblen S. aureus (MSSA) besiedelt (die weltweit immer noch für die meisten - auch lebensbedrohlichen - S. aureus-Infektionen ver-antwortlich sind). Außerdem beherbergen sie sämtlich in ihrer Körperflora eine Vielzahl potenziell pathogener Bakterien, die häufig Erreger von Krankenhausinfektionen und häufig auch multiresistent sind und natürlich ebenfalls übertragen werden können. Gibt es unterschiedliche Übertragungswege bei empfindlichen und bei resistenten Bakterien? Warum soll es also erforderlich sein, die einen Patienten - nämlich die mit MRSA - zu isolieren, die anderen - die ohne MRSA, aber mit MSSA, E. coli, P. aeruginosa etc. - jedoch nicht? Muss man nicht bei letzteren Patienten ebenfalls die Übertragung von Vertretern ihrer Körperflora auf andere Patienten verhüten? Ja natürlich, aber es sei doch wichtiger, die Übertragung von resistenten Erregern zu verhüten, weil man bei diesen im Falle einer Infektion nur wenige Antibiotika für eine Therapie zur Verfügung hat.

Ist „Standardhygiene” wirklich „Nichts-Tun”? Und was ist dann mit multiresistenten Pseudomonas- oder Acinetobacter-Stämmen? Solche Stämme scheinen gemessen an MRSA nicht von Bedeutung zu sein. Man sieht sich vielmehr dem Vorwurf ausgesetzt, dass man „nichts tut”, wenn man sich nicht an die „Richtlinie” hält und die Patienten mit MRSA nicht isoliert. Tun dann also alle Kliniken auch „nichts”, wenn sie die Patienten ohne MRSA, aber mit empfindlichen und resistenten gramnegativen Enterobakteriazeen in ihrem riesigen Erregerreservoir der Darmflora nicht isolieren? Wie erreicht man denn, dass diese potenziellen Infektionserreger nicht übertragen werden? Mit den Maßnahmen der Standardhygiene.

Was das ist? Man fasst darunter alle Maßnahmen zusammen, die bei jedem Patienten nach klinischen Kriterien ungeachtet der Kenntnis etwaiger mikrobiologischer Nachweise angewendet werden müssen, um potenzielle Erregerübertragungen zu verhindern. Das bedeutet beispielsweise, dass man bei Kontakt mit sezernierenden Wunden primär auf die Händehygiene achtet, also auch Schutzhandschuhe trägt, die man anschließend sofort ablegen muss, und sich danach die Hände desinfiziert, weil jedes Sekret - auch das makroskopisch klare - besiedelt sein kann. Auf diese Weise kann man für die verschiedenen denkbaren klinischen Situationen bei der Patientenversorgung (z. B. Gastroenteritis, Infektionen der oberen Atemwege, potenzieller Blutkontakt) die standardmäßig erforderlichen Schutzmaßnahmen ableiten, und das ohne jede Kenntnis eines Erregernachweises. Das Konzept der Standardhygiene ist also im Gegensatz zur Isolierung nach einem Erregernachweis umfassend, weil bei jedem Patienten gültig. Wozu brauchen wir dann die Isolierung nach MRSA-Nachweis? Weil es so in der „Richtlinie” steht? Ob die Isolierung eines Patienten mit MRSA seine Mit-Patienten vor einer Übertragung schützt, ist aber trotz aller gegenteiligen Beteuerungen nur eine Behauptung. Gerade die inzwischen zehn Jahre alte MRSA-Empfehlung der „Richtlinie” ist für einen solchen Beleg ungeeignet, denn es fehlen ihr die relevanten Literaturverweise.

Vorbild „holländisches Modell”. Die Empfehlungen des MRSA-Papiers sind auch nicht etwa durch die Erfahrungen in den Niederlanden wissenschaftlich bestätigt worden. Die KRINKO hat sich vor ca. zehn Jahren, als die MRSA-Empfehlung erstellt wurde, offenbar dem holländischen Modell angeschlossen, für dessen tatsächliche Wirksamkeit die Holländer keine wirklichen Belege haben. Das behaupten sie selbst auch nicht. Behauptet wird aber in Deutschland, dass das holländische Modell wirkt, allen voran von Mitarbeitern des RKI.

#

Fazit

Zeitalter der Aufklärung. Leben wir also, was die deutsche Krankenhaushygiene angeht, bereits in einem aufgeklärten Zeitalter? Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Dafür sorgen kritische Stimmen in der KRINKO, aus dem ÖGD, aus den Reihen von Klinikern und administrativen Leitern von Krankenhäusern sowie in Zeitschriften wie dieser. Es müssten jedoch mehr werden, die sich gegen eine Bevormundung mit Hilfe der „Richtlinie” oder andere sachlich ungerechtfertigte „Expertenempfehlungen” zur Wehr setzen. Das gilt durchaus auch für die weit reichenden, das Leben der Patienten und ihrer Angehörigen massiv beeinträchtigenden „Hygienemaßnahmen” bei MRSA entsprechend der „Richtlinie”, für deren Wirksamkeit die Belege fehlen. Insbesondere die klinisch tätigen Ärzte möchte ich deshalb - zugegeben etwas pathetisch - in Anlehnung an einen berühmten Aufruf aus der neueren Geschichte ermuntern:

Ärzte aller Kliniken, vereinigt Euch! Wehrt Euch gegen nicht belegte Empfehlungen oder gar „Vorschriften”, auch wenn sie von Aufsichtsbehörden vorgetragen werden! Seid skeptisch gegenüber dem für sicher gehaltenen Wissen, fragt nach und fordert Belege! Lasst Euch nicht durch „Richtlinien” entmündigen! Stellt die Versorgung der Patienten, für die immer nur Ihr verantwortlich seid, auf eine rationale Grundlage!