Einleitung
Quecksilber und seine anorganischen und organischen Verbindungen werden nach wie vor
in größerem Maßstab für industrielle Zwecke vor allem in der Elektrotechnik (Kathodenmaterial
in der Chloralkalielektrolyse), aber auch in der Medizin z. B. für Zahnfüllungen,
Augentropfen, Antiseptika und Dermatika eingesetzt. Als weitere Quecksilberquelle
sind Umweltbelastungen durch Aufnahme organischer Quecksilberverbindungen mit der
Nahrung zu nennen. Als Pflanzenschutzmittel ist es seit 1980 nicht mehr in Verwendung.
Laut Gefahrstoffverordnung ist es auch als Holzschutzmittel, zur Imprägnierung von
industriellen Textilien und in der Wasseraufbereitung verboten [1 ]
[16 ]. Auf der japanischen Insel Kyushu kam es im kleinen Küstenort Minamata während der
50er-Jahre zu Massenvergiftungen, als eine Kunststofffabrik belastete Abfälle einleitete.
Die Bevölkerung ernährte sich vom Fischbestand aus diesen Gewässern. 1971 kam es im
Irak zu Todesfällen nach Genuss von Brot aus Weizen, das mit einem Methylquecksilber-haltigem
Fungizid gebeizt worden war.
Elementares, anorganisches Quecksilber ist bei Raumtemperatur flüssig und verdampft,
ohne farblich sichtbar zu werden oder durch den Geruch aufzufallen. Die Aufnahme von
anorganischem, metallischem Quecksilber erfolgt im Wesentlichen über 3 Wege. Eingeatmet
werden Quecksilberdämpfe zu 80 % in den Alveolen resorbiert. Bei oraler Aufnahme werden
bis zu 10 % im GI-Trakt aufgenommen. Bei Hautkontakt kommt es hingegen zu einer inkonstanten
Resorption. Aufgrund guter Membrangängigkeit sowie Lipophilität wird Quecksilber vor
allem im ZNS, Leber und Nieren eingelagert [2 ]
[11 ]
[16 ]
[18 ].
Akute Vergiftungen, vor allem bei Inhalation von Quecksilberdämpfen, sind charakterisiert
durch Fieber, Bauchschmerzen, Diarrhoe, Erbrechen, Gingivaschwellung sowie pulmonale
Toxizität, welche letztlich zu einem „acute respiratory distress syndrome” (ARDS-Syndrom)
und Tod durch progressive Hypoxie führen kann.
Chronische Quecksilberintoxikationen entstehen schleichend und führen zu einem als
Mikromerkuralismus bezeichnetem Symptomenkomplex mit Auftreten unspezifischer Symptome
wie allgemeine Schwäche, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Gewichtsverlust, gastrointestinale
Störungen, Speichelfluss, Proteinurie, Parästhesien, Ataxie, Sprachschwierigkeiten,
Hörverlusten und andere mehr. Als Tremor mercuralis wird ein Intentions-Tremor bezeichnet.
Der Begriff Erethrismus mercuralis umfasst psychische Veränderungen wie Reizbarkeit,
Schlafstörungen und Gedächtnisverlust.
Eine dermatologische Rarität ist das Selter-Swift-Feer-Syndrom (Akrodynie). Es umfasst
Micromercuralismus-Symptome, Erethrismus mercuralis, Tremor mercuralis und akral betonte
Hautveränderungen mit lividen Erythemen sowie gelegentlich Nagelveränderungen [4 ]
[5 ]
[9 ]
[11 ]
[17 ].
Mit dem Auftreten akuter Quecksilbervergiftungen muss ab einer Konzentration von 200 µg/l
24-Stunden-Sammelurin und 50 µg/l Blut gerechnet werden. In Fallbeschreibungen ist
das Auftreten von Mikromercuralismus-Symptomen, Tremor mercuralis und Erethrismus
mercuralis bei Erwachsenen bei Quecksilberkonzentrationen ab 100 µg/l Urin und 35 µg/l
Blut beschrieben. Man geht von einer 3 – 4-fach höheren Empfindlichkeit bei Kindern
aus [18 ]. In der Literatur werden unterschiedliche Empfehlungen zur Notwendigkeit einer Therapie
bei Werten ab 15 bis 30 µg/l 24-Stunden-Sammelurin angegeben. Die Referenzwerte für
nicht arbeitsplatzexponierte Personen sind < 7 µg/l 24-Stunden-Sammelurin und < 4 µg/l
Blut. Die maximal tolerierten Konzentrationen für Menschen, die am Arbeitsplatz quecksilberexponiert
sind, wurden in den letzten Jahren kontinuierlich abgesenkt und belaufen sich auf
weniger als 100 µg/l im Urin und weniger als 25 µg/l Quecksilber im Blut [2 ]
[3 ]
[9 ]
[16 ].
Vergiftungen und Nebenwirkungen von Bleichcremes werden von asiatischen und südostasiatischen
Ländern beschrieben. Meist sind es anorganische Quecksilbersalze (Quecksilberamidchlorid,
gelegentlich auch Calomel) oder metallisches Quecksilber, das sich in kosmetischen
Zubereitungen findet, typischerweise in Bleichsalben oder Schönheitscremes [6 ]
[10 ]
[12 ]
[14 ]
[15 ]. Wir berichten über Vergiftungen, die Symptome bei mehreren Familienmitgliedern
auslösten, auch bei denen, die keinen direkten Kontakt mit Bleichcremes hatten.
Fallbericht
Wir berichten über zwei Familien aus Kosovo-Albanien, die vor einigen Jahren nach
Deutschland emigriert waren. Erhöhte Quecksilberwerte im Spontanurin waren zunächst
im Rahmen einer Reihenuntersuchung an Schulkindern, die durch das Gesundheitsamt Mannheim
durchgeführt wurde, bei jeweils einem Sohn aus jeder Familie festgestellt worden.
Die hieraufhin veranlassten Spontanurin-Analysen aller Familienmitglieder ergaben
stark erhöhte Quecksilberkonzentrationen bei den Familienmüttern und älteren Töchtern
und erhöhte Wert bei allen anderen Familienmitgliedern.
Anamnestisch war bei Müttern und Töchtern die tägliche Anwendung einer grauen, auf
albanischen Märkten frei erhältlichen und von den Händlern selbst zubereiteten Bleichcreme
für kosmetische Zwecke eruierbar. Eine Analyse der Creme ergab einen Gehalt von 12 %
anorganischem Quecksilber, wie mit Massenspektroskopie gemessen wurde. Die Familien
bewahrten die Cremedose ([Abb. 1 ]) im Kühlschrank auf. Die Mahlzeiten wurden von den Müttern zubreitet, die hierzu
keine Handschuhe trugen.
Abb. 1 Zwei Familien aus Kosovo-Albanien wendeten täglich die Haut-Bleichcreme an, bei der
eine Konzentration von 12 % elementarem Quecksilber gemessen wurde.
Während die weitere Anamnese bei Familie A keine Auffälligkeiten erbrachte, waren
in Familie B Micromercuralismus-Symptome wie chronische Kopfschmerzen (Tochter, 17
Jahre), Bluthochdruck und Gewichtsverlust (Mutter), Konzentrationsstörungen, myozervikale
Automatismen, rezidivierende Bauchschmerzen (Sohn 15 Jahre) zu verzeichnen. Bei beiden
Familien waren keine Hautveränderungen im Sinne eines Selter-Swift-Feer-Syndroms vorhanden.
Die durchgeführten Laboruntersuchungen mit Blutbild und Nierenwerten sowie die körperliche
und neurologische Untersuchung einschließlich EEG waren ebenfalls bei beiden Familien
unauffällig. Die [Abb. 2 a, b ] zeigen die Quecksilberwerte beider Familien, als die Symptomatik auffiel.
Abb. 2 a, b Die Abbildungen zeigen die Ausgangs-Quecksilberwerte beider Familien (Familie A und
Familie B). Die vom Gesundheitsamt mitgeteilten, teils stark erhöhten Spontanurin-Werte
wurden durch eine 24-Stunden-Sammelurin-Analyse sowie eine Bestimmung von Quecksilber
im Blut ergänzt. Hierbei waren die höchsten Werte bei Müttern und Töchtern zu verzeichnen,
die die Bleichcreme täglich angewendet hatten.
Die vom Gesundheitsamt mitgeteilten, teils stark erhöhten Spontanurin-Werte wurden
durch eine 24-Stunden-Sammelurin-Analyse sowie eine Bestimmung von Quecksilber im
Blut ergänzt. Hierbei waren die höchsten Werte bei Müttern und Töchtern zu verzeichnen,
die die Bleichreme täglich angewendet hatten. Die Blutanalyse auf Quecksilber überschritt
die Referenzwerte bei einer Person. Die Analyse des 24-Stunden-Sammelurins brachte
Quecksilberspiegel, die über den Referenzwerten lagen, und in einer Höhe, bei der
eine Therapie dringend angezeigt ist ([Abb. 3 ]).
Abb. 3 Quecksilberwerte und behandlungsbedürftige Werte im 24-Stunden-Sammelurin und im Vollblut.
In der Literatur werden unterschiedliche Empfehlungen zur Therapie bei Werten ab 15
bis 30 µg/l im 24-Stunden-Sammelurin angegeben.
Aufgrund der hohen Werte bei Müttern und Töchtern und Bestehen von Symptomen vor allem
bei den schulpflichtigen Kindern wurde eine komplexierende Therapie mit dem Chelatbildner
Dimaval® eingeleitet ([Abb. 4 a, b ]).
Abb. 4 a ,b Der Chelatbildner Dimaval® (DMPS) bindet Quecksilber, das in der Folge renal ausgeschieden
wird.
Nach den Empfehlungen wurde die DMPS-Therapie mit 5 mg/kg/KG begonnen und 7 Tage lang
oral gegeben. Die DMPS-Therapie brachte ein deutliches Absinken sowohl der Quecksilberwerte
im Urin als auch der Blutwerte bis in den Referenzbereich ([Abb. 5 a, b ]). Anamnestisch waren einige der zuvor bestehenden klinischen Symptome zu diesem
Zeitpunkt bereits gebessert. Unter der DMPS-Therapie zeigten sich keine Nebenwirkungen
oder Laborauffälligkeiten.
Abb. 5 a ,b Vergleich der im 24-Stunden-Sammelurin und Blut bestimmten Quecksilberwerte vor Therapiebeginn
und 4 Wochen nach Abschluss einer 14-tägigen Dimaval®-Therapie bei Familie A und Familie
B.
Diskussion
In beiden Familien zeigten sich im Urin erhöhte Quecksilberwerte, obwohl nur die Mütter
die Creme aufgetragen hatten. Ein möglicher Weg der Vergiftung für die Familienmitglieder,
die keine Bleichcreme verwendet hatten, kann das Verdampfen des Quecksilbers aus der
Creme und die Aufnahme über den Gastrointestinaltrakt sein, da die Mütter die Mahlzeiten
für die ganze Familie vorbereitet hatten und die Creme im Kühlschrank zusammen mit
Nahrungsmitteln aufbewahrt wurde. Da die Symptome einer chronischen Quecksilberintoxikation
oft unspezifisch sind, sollte bei unklaren Beschwerden vor allem bei Patienten aus
dieser geografischen Region an die Verdachtsdiagnose Quecksilberintoxikation gedacht
werden. Auch in Mexiko und in den Südstaaten der USA ist eine „Creme de Belleza-Manning”
auf dem Markt, die 8 % Quecksilber als Calomel enthält. Darüber hinaus muss beachtet
werden, dass nicht-medizinische, kosmetische Produkte eine Quelle für elementares
Quecksilber darstellen, auch wenn kein direkter Kontakt mit dem Produkt besteht [1 ]
[4 ]
[6 ]
[10 ]
[12 ]
[14 ]
[15 ].
Für das Screening im Verdachtsfall ist die Spontanurin-Analyse ausreichend, bei auffälligen
Werten und zur Therapieentscheidung muss eine Bestätigung über 24-Stunden-Sammelurin
erfolgen. Der Quecksilberwert im Urin spiegelt nicht die Höhe des mit der Nahrung
aufgenommenen Quecksilbers wider, z. B. in Fisch. Für die Messung niedriger Konzentrationen
anorganischen Quecksilbers ist der 24-Stunden-Sammelurin eine praktikable und sensitive
Methode des Biomonitoring [13 ].
DMPS ist ein Komplexbildner zur Behandlung akuter und chronischer Intoxikationen mit
Quecksilber, Blei, Arsen und Kupfer. Es findet dann eine chemische Bindung zwischen
DMPS und Quecksilber über Sulfurgruppen statt und dieser Komplex wird über den Urin
ausgeschieden [7 ]
[8 ]. Eine Kontrolle der Quecksilberwerte 24 Stunden nach der DMPS-Therapie im Urin und
im Blut zeigte deutlich reduzierte Quecksilberspiegel, die im Referenzbereich lagen.
Auch die klinischen Beschwerden bei Familie B endeten nach der ausleitenden Therapie.
Die Behandlung mit DMPS in der Therapie chronischer Quecksilberintoxikationen war
bei den von uns behandelten Fällen effektiv und wurde ohne Nebenwirkungen auch von
Kindern gut vertragen.