Balint Journal 2014; 15(02): 61
DOI: 10.1055/s-0034-1383583
Buchbesprechung
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Learning about Emotions in Illness. Integrating psychotherapeutic medical education

Contributor(s):
Heide Otten
1   Wienhausen
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Publication Date:
08 July 2014 (online)

A patient-centered approach – ein Patienten-zentrierter Zugang…

Ein junger Vater, Ehemann einer Patientin mit postpartaler Depression, erzählte mir vor kurzem, wie er von einem jungen gynäkologischen Kollegen aufgeklärt wurde, als bei seiner erstgebärenden Ehefrau eine Notsectio gemacht werden musste. Der Arzt nahm ihn am Arm, schob ihn sanft aus dem Kreisssaal mit den Worten: „Vor 100 Jahren sind noch fast alle Frauen in dieser Situation gestorben, vor 50 Jahren nur noch die Hälfte, jetzt stirbt kaum noch eine Frau bei dieser OP.“ Mit dieser Information saß er dann voller Angst allein in einem kleinen Warteraum für junge Väter, der ringsum mit Bildern und Assecoires von Fußballern geschmückt war, bis schließlich die Hebamme mit seinem neugeborenen Sohn kam, ihm diesen in den Arm legte und versicherte, dass es seiner Frau gut gehe.

Ich vermute, dass der junge gynäkologische Kollege weder die Möglichkeit hatte, an einer Studenten-Balintgruppe teilzunehmen noch in ein Studenten-Psychotherapie-Konzept aufgenommen zu werden, wie es in London seit 30 Jahren angeboten wird und eine Zeit lang auch in Heidelberg praktiziert wurde.

Die Geschichte der Hinführung von Medizinstudenten von der Krankheits-zentrierten zu einer Patienten-zentrierten Medizin seit Michael Balint wird in dem vorliegenden Buch eindrucksvoll geschildert.

Begegnet bin ich selbst dem „UCL Student Psychotherapy Scheme“ in den Ascona Arbeiten und in Gesprächen mit Heather Suckling und Paul Sackin. Die Idee begeistert mich: Studenten, die durch eine einjährige Psychotherapie, die sie selbst bei Patienten in der Psychotherapeutischen Abteilung des UCL durchführen, die engmaschig von erfahrenen Therapeuten der Abteilung supervisiert werden, erleben, welche Emotionen in der Arzt Patient-Beziehung eine Rolle spielen, die des Patienten, die eigenen und die Wirkung aufeinander. Ein spannendes Projekt.

In der Einführung beschreibt Peter Schoenberg eindringlich, welchen emotionalen Herausforderungen Medizinstudenten ausgesetzt sind, wenn sie erstmals Patienten mit schweren Erkrankungen versorgen und sehr nahe Begegnungen mit Tod und Sterben haben. Wenn die starken Gefühle, die dabei entstehen, nicht bearbeitet werden können, so resultieren daraus häufig — wie Untersuchungen zeigen — Abwehrstrategien wie eine kühle Distanz zum Patienten oder gar Zynismus.

Er stellt fest, dass Medizinstudenten in diesem Stadium ihrer Ausbildung ein sicheres und haltgebendes, urteilsfreies Setting brauchen, um die Gefühle der Patienten und ihre eigenen Emotionen zu reflektieren. Und aus seiner Erfahrung heraus sagt er, dass die Begegnung mit der Psychodynamischen Psychotherapie hier eine Antwort geben kann. Aus diesem Gedanken heraus hat schon Michael Balint Gruppen mit Studenten in London geleitet, um sie — wie er es nennt — von der Krankheits-zentrierten Medizin (illnesscentered medicine) zu einer Patienten-zentrierten Medizin (patient-centered medicine) hinzuführen. In dem Londoner „UCL Student Psychotherapy Scheme“ haben Medizinstudenten die Möglichkeit, einen Patienten 1 Jahr lang psychotherapeutisch unter engmaschiger Supervision zu begleiten. Die Supervision erfolgt in kleinen Gruppen von 3–4 Studenten, die sich wöchentlich mit einem erfahrenen Therapeuten treffen.

Neben dem Einfluss auf die Studenten, die hier viel zur Arzt-Patient-Beziehung lernen, wird auch sehr deutlich, welche Verantwortung mit diesem Konzept verbunden ist: für die Patienten, für die Studenten, einzeln und in der Gruppe, für die Klinik. Bereits die Auswahl der Studenten erfordert viel Sorgfalt; pro Jahr können 10–15 Studenten an diesem Projekt teilnehmen.

Das Buch lässt alle zu Worte kommen, die sich bei diesem Konzept engagiert haben: die verantwortlichen Leiter, die Supervisoren, die Studenten, die Initiatoren eines ähnlichen Konzeptes in Bristol.

Ein zweiter Teil ist den Erfahrungen mit Studenten-Balintgruppen gewidmet, die ebenso den Gedanken verfolgen, die emotionalen Beziehungen zum Patienten zur Sprache zu bringen und zu reflektieren. Heather Suckling hat dabei 17 Themen herausgearbeitet, die in Balintgruppen mit Studenten immer wieder auftauchen, u. a. die Rolle des Studenten im klinischen Alltag, Schweigepflicht, der schwerkranke und sterbende Patient usw. Beispiele machen die Schilderungen lebendig.

Auch die Schwierigkeiten, eine solche Studentengruppe zu leiten kommt ehrlich zur Sprache: z. B. die regelmäßige Teilnahme der Studenten an der Gruppe, der Umgang mit Verletzungen in der Gruppe, oder auch die Frage, wie die Studenten mit unethischem Verhalten, das sie bei Ärzten beobachten, umgehen sollen. Sotiris Zalidis beschäftigt sich in seinem Beitrag dann zum einen damit, auf welche Weise Rollenvorbilder ihrer klinischen Lehrer auf die Identitätsfindung der Studenten Einfluss haben, im positiven wie im negativen Sinne. Zum anderen berichtet er über die Hilfe, die Balintgruppen leisten können, in Bezug auf die Einhaltung von Grenzen der emotionalen Belastbarkeit und die Möglichkeit, Beziehungen zu Patienten in einer gesunden Distanz zu halten und sich mit der affektiven Resonanz nicht zu überfordern.

Auch in diesem 2. Teil des Buches kommen Studenten zu Wort mit ihren Erfahrungen, an einer Balintgruppe teilgenommen zu haben; nicht zuletzt Paul Sackin, der sich an seine Teilnahme in der Studenten-Balintgruppe bei Michael Balint Mitte der 60er Jahre erinnert, an die „wilden Spekulationen“, die Balint ermutigte und an sein eigenes Erstaunen, wie oft sich diese Fantasien als zutreffend erwiesen, was durch die Nachberichte in der nächsten Sitzung zu Tage trat. Und schließlich stellt Jessica Yakeley als eine der Leiterinnen des Psychotherapie Schemas Evaluationsergebnisse vor und plädiert für mehr Forschung zur Wirksamkeit des Projektes dessen Ziel es ja ist, die ganzheitliche Betrachtungsweise in der Medizin zu unterstützen, die Selbstreflexion der späteren Ärzte zu fördern, sodass sie ihre Wirkung und Nebenwirkungen auf den Patienten erkennen.