Klin Padiatr 2009; 221(5): 275-277
DOI: 10.1055/s-0029-1237369
Gastkommentar

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Off-label-use und Anwendung von unlizenzierten Arzneimitteln in der neonatologischen Intensivmedizin

Off-label and Unlicenced Use of Drugs in Neonatal Intensive CareB. Roth
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Publication Date:
25 August 2009 (online)

Off-label-use und die Verordnung von unlizenzierten Arzneimitteln sind besonders häufig bei der intensivmedizinischen Versorgung von Früh- und Neugeborenen anzutreffen. Nur sehr wenige Medikamente wurden speziell für diese Altersgruppen entwickelt und zugelassen. Zu nennen sind die verschiedenen Surfactant-Präparate, Erythropoetin und Palivizumab; Ibuprofen zum Verschluss des Ductus arteriosus Botalli besitzt einen sog. Orphan-drug-status für die Anwendung bei Frühgeborenen. Erfreulicherweise steht seit Kurzem eine Paracetamol-Präparation zur intravenösen Anwendung im Neugeborenenalter zur Verfügung.

Nicht der Bestimmung gemäß ist die Anwendung eines Arzneimittels dann, wenn die Verordnung unlizenziert oder im Off-label-use erfolgt. Bei einer unlizenzierten Verordnung ist das Arzneimittel in dem betreffenden Land nicht für die Anwendung am Menschen zugelassen. Solche Medikamente werden oft aus dem Ausland bezogen oder über die Klinikapotheken hergestellt. Bei der Off-label-Anwendung ist das betreffende Arzneimittel zwar generell zugelassen, wird aber hinsichtlich Indikation, Lebensalter, Dosis oder Darreichungsform von der Zulassung abweichend eingesetzt. Beispiele sind die Anwendung von Sildenafil in der Indikation des pulmonalen Hypertonus bei Neugeborenen, die Extrapolation von Erwachsenendosen auf Früh- und Neugeborene, dies meist ohne Kenntnis pharmakokinetischer und pharmakodynamischer Besonderheiten der betreffenden Altersgruppe, oder Modifikationen der Originaldarreichungsform. Sicherheit und Wirksamkeit der Arzneimitteltherapie sind in der Neonatologie oft mit einem Fragezeichen zu versehen. Speziell im Neugeborenenalter scheinen unerwünschte Arzneimittelwirkungen beim Off-label-use und bei der unlizenzierten Anwendung relativ häufig aufzutreten [6] [7].

Prandstetter und Mitarbeiter berichten in ihrem Beitrag „Verschreibungspraxis von Arzneimitteln bei Früh- und Neugeborenen auf einer österreichischen neonatologischen Intensivstation” [13] in dieser Ausgabe der Klinischen Pädiatrie erstmals für den deutschsprachigen Raum über den Umfang nicht bestimmungsgemäßer Arzneimittelanwendung auf einer rein neonatologischen Intensivstation. Über einen Beobachtungszeitraum von 3 Monaten hinweg wurden bei 84 stationären Aufenthalten von 81 Patienten insgesamt 748 Verordnungen von 82 verschiedenen Medikamenten erfasst. Im Median kamen pro Patient und Aufenthalt 6 verschiedene Medikamente zur Anwendung. Immerhin handelte es sich bei 49% der Verordnungen um in Österreich lizenzierte Medikamente, bei 18% der Verordnungen wurden nicht in diesem EU-Land lizenzierte Medikamente eingesetzt, in 33% erfolgte die Verordnung im Off-label use. Zu den am häufigsten nicht bestimmungsgemäß verordneten Arzneimitteln zählten das Analgetikum Fentanyl (4,5% aller Verschreibungen), die Methylxanthine Theophyllin und Coffein (3,9% bzw. 2,1%), die Sedativa Chloralhydrat und Midazolam (2,8% bzw. 2,1%) und das Antibiotikum Vancomycin (2,3%), was sicher eine zentrumsspezifische Auswahl widerspiegelt. Die Anzahl nicht bestimmungsgemäßer Verordnungen war besonders hoch bei Patienten mit einem Aufenthalt auf der Intensivstation von über 14 Tagen Dauer (im Median 9 Arzneimittel), bei Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht von unter 1 000 g (10 Arzneimittel) und bei beatmeten Kindern (7 Arzneimittel). Im Vergleich mit international verfügbaren Literaturdaten aus sechs neonatologischen Studien liegen die österreichischen Zahlen zum nicht bestimmungsgemäßen Arzneimittelgebrauch in einem durchaus ähnlichen Bereich, erfreulicherweise beim Off-label-use sogar niedriger.

Die von den Autoren vorgestellten Daten zeigen aber auch deutlich, dass in der Neonatologie auf nicht lizenzierte Arzneimittel und Medikamente im Off-label-use zurückgegriffen werden muss, soll eine möglichst optimale Therapie gewährleistet werden. Diese Feststellung macht die Arbeit von Prandstetter et al. besonders beachtenswert. Off-label-use und Therapie mit unlizenzierten Arzneimitteln bei Früh- und Neugeborenen ist keineswegs unverantwortlich oder gar fahrlässig. Es kommt darauf an, Arzneimittel mit bekannter und günstiger Nutzen-Risiko-Relation und Therapien mit möglichst hohem Evidenzgrad einzusetzen und wenig oder unwirksame Maßnahmen zu unterlassen. So z. B. haben verbesserte Behandlungsstandards sowie Verkürzung und Vermeidung apparativer Beatmung in den letzten Jahren zu signifikanten Veränderungen in der Arzneimitteltherapie bei sehr unreifen Frühgeborenen geführt [10]. Diese Fortschritte basieren nahezu ausschließlich auf klinischen Studien initiiert von Neonatologen, ohne Industriebeteiligung.

Off-label use und die Verordnung unlizenzierter Medikamente sollen hier nicht verharmlosend dargestellt werden oder dass gar aus der Not eine Tugend gemacht werden solle. Bei der nicht bestimmungsgemäßen Anwendung eines Arzneimittels erlischt die Haftung des Herstellers für etwaige Schäden aus dem Gebrauch des betreffenden Medikamentes. Dennoch ist der Off-label-use und die Verordnung nicht lizenzierter Arzneimittel nicht gesetzeswidrig, wenn die Sorgeberechtigten in informierter Weise diesem Vorgehen zustimmen. In besonderem Maße gilt dies für Arzneimittelanwendungen im Rahmen von sog. „Heil-Versuchen”, bei denen nahezu immer ein schriftliches Einverständnis der Sorgeberechtigten vorliegen muss, was leider allzu oft nicht bedacht wird. Der Arzt ist in kritischen Situationen sogar zur nicht bestimmungsgemäßen Anwendung von Arzneimitteln verpflichtet, wenn es darum geht, auch kranken Früh- und Neugeborenen eine Therapie auf aktuellstem Stand anzubieten, und es keine sinnvollen Alternativen dazu gibt [1].

Unabhängig von der dargestellten Problematik manifestieren sich in der Neonatologie ganz allgemeine Risiken der Arzneimitteltherapie in besonderem Maße. Hierzu zählen in erster Linie Fehler in der Arzneimittelverordnung (Verdünnungsfehler; Übergabefehler an die Apotheke oder das Pflegepersonal usw.). Durch Einführung entsprechender Qualitätsstandards (u. a. elektronische Verordnung mit Plausibilitätskontrolle und Beachtung von Interaktionen und Inkompatibilitäten) und Schulungsmaßnahmen lassen sich rasch entscheidende Verbesserungen in der Therapiesicherheit erzielen [4] [5] [12].

An der Situation des Off-label-use und der Anwendung unlizenzierter Arzneimittel bei Früh- und Neugeborenen wird sich bei realistischer Einschätzung in den kommenden Jahren nur langsam etwas ändern. Mit der neuen Novellierung des Arzneimittelgesetzes (12. AMG-Novelle, 06.08.2004) der Bundesrepublik Deutschland wurde besonderes Augenmerk auf pädiatrische Studienbelange gelegt. Und durch die Einrichtung einer Expertenkommission Arzneimittel für Kinder- und Jugendliche (KAKJ) mit Sitz beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) am 14.12.2006 wurde erstmals ein unabhängiges und regelmäßig arbeitendes Beratungs- und Beurteilungsinstrument für Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit in Deutschland geschaffen. Eine Aufgabe der KAKJ ist die Beurteilung von „Alt-Arzneimitteln”, die u. a. auch häufig bei Früh- und Neugeborenen Anwendung finden, für die aber die Hersteller mit Gewissheit keine Zulassungserweiterung beantragen würden.

Ab Januar 2007 trat die pädiatrische Verordnung zur Zulassung von Medikamenten in der Europäischen Union [3] in Kraft und wurde in nationales Recht überführt. Diese Verordnung verfolgt das Ziel, die Entwicklung von Arzneimitteln für Kinder sowohl im Hinblick auf Neuzulassungen als auch auf Zulassungserweiterungen zu verbessern. Als wesentlicher Teil dieser Maßnahme ist die zwingend vorgeschriebene Erstellung eines pädiatrischen Entwicklungsplans bei allen pharmazeutischen Neuentwicklungen und dessen Begutachtung durch das Pädiatrische Komitee der Europäischen Arzneimittelbehörde EMEA (European Medicines Agency) zu sehen. Begleitend wurden für die Arzneimittelhersteller Anreize geschaffen, Medikamente für das Kindesalter zur Zulassung zu bringen. Dies soll z. B. über eine Verlängerung des Patentschutzes für Arzneimittel erreicht werden [3]. Ob diese Maßnahmen speziell im Hinblick auf Medikamente zur Anwendung in der Neonatologie bald Erfolg zeitigen, bleibt zukünftigen Evaluationen vorbehalten.

Ganz wesentlich hängen Maßnahmen zur Verbesserung von Wirksamkeit und Sicherheit der Arzneimitteltherapie bei Früh- und Neugeborenen von uns Neonatologen selbst ab. Es gilt, rasch Anstrengungen zu unternehmen, um multizentrisch auf höchstem Niveau Arzneimittelstudien zu therapierelevanten Fragestellungen in dieser Altersstufe planen und durchführen zu können. Es geht dabei vor allem um forschungsinitiierte Studien ohne Industrieförderung, die sich aus einer konkreten klinisch-pharmakologischen Fragestellung ergeben und deren Ergebnisse für die Neonatologie von erheblicher praktischer Konsequenz sind. Durch die Etablierung eines pädiatrischen Netzwerkes (PAED-Net) in Deutschland, das aus einer BMBF-Initiative im Jahr 2002 hervorgegangen ist, wurden in den letzten Jahren die Bedingungen für Arzneimittelstudien im Kindesalter erheblich verbessert [11]. Auch die durch Bundesförderung an mehreren Universitäten entstandenen (Koordinierungs-)Zentren für klinische Studien (KKS, ZKS) können engagierte Kinderärzte unterstützen und in die Lage versetzen, klinische Arzneimittelstudien auf höchstem Niveau durchzuführen. Als finanzielle Förderer bieten sich nationale und europäische Einrichtungen an. Hier ist vor allem das gemeinsame Förderprogramm „Klinische Studien” der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zu nennen, das seit Anfang 2004 multizentrische klinische Studien fördert. Letztlich ist aber auch eine nachhaltige und unabhängige finanzielle Unterstützung pädiatrischer Arzneimittelforschung im PAED-Net durch Industrie und öffentliche Hand, z. B. in Form einer Stiftung, dringend notwendig. Nicht umsonst spiegelt die Liste der in der Pädiatrie unverzichtbaren Medikamente (Priority List for Studies into Off-patient Paediatric Medicinal Products) der EMEA [2] exakt die Arzneimittel wider, die im Off-label-use auch in der Neonatologie von Bedeutung sind [9]. Klinisch-pharmakologische Forschung bei Früh- und Neugeborenen ist nach wie vor ein vernachlässigtes Feld [13] in der Kinderheilkunde. Diese Forschung wird aber für die Neonatologie immer wichtiger, zumal bei extrem unreifen Frühgeborenen selbst die Grundlagen für Arzneimittelwirkung und Metabolismus oft nicht bekannt sind. Planung und Durchführung exzellenter Arzneimittelstudien bei Früh- und Neugeborenen, die nahezu immer von einer hervorragenden klinischen Idee ausgehen, verlangen eine enorm hohe ethische, klinische und wissenschaftliche Expertise, die sich erfreulicherweise in den letzten Jahren auf nationaler und europäischer Ebene ausbilden konnte. Wir sollten als Kinderärzte und Neonatologen nicht ausschließlich nach der Verantwortung der Pharmaindustrie rufen, wenn es um die von Prandstetter und Mitarbeitern [13] dargestellten und diskutierten Probleme geht. Vielmehr sollten wir uns auf nationaler und europäischer Ebene stärker vernetzen und relevante klinische Forschung in der Neonatologie initiieren, denn wir wissen am ehesten, welche Fragen für unsere Patienten von Bedeutung sind und welche Probleme vorrangig gelöst werden müssen. Allerdings benötigen wir dafür auch nachhaltige Unterstützung aus der Politik und den Verbänden der Arzneimittelhersteller.

Literatur

  • 1 American Academy of Pediatrics . Committee of Drugs: Uses of drugs not described in the package insert (off-label uses).  Pediatrics. 2002;  110 181-183
  • 2 Priority List for Studies into Off-patient Paediatric Medicinal Products: Doc . , Ref. EMEA/414936/2009
  • 3 Verordnung (EG) Nr . 1901/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.  Dezember 2006 über Kinderarzneimittel.
  • 4 Campino A, Lopez-Herrera MC, Lopez-de-Heredia I. Vall-i-Soler A: Medication errors in a neonatal intensive care unit. Influence of observation on the error rate.  Acta Paediatr. 2008;  97 1591-1594
  • 5 Campino A, Lopez-Herrera MC, Lopez-de-Heredia I. Valls-i-Soler A: Educational strategy to reduce medication errors in a neonatal intensive care unit.  Acta Paediatr. 2009;  98 782-785
  • 6 Choonara I, Conroy S. Unlicensed and off-label drug use in children: Implications for safety.  Drug Saf. 2002;  25 1-5
  • 7 Cuzzolin L. et al . Off-label and unlicensed prescribing for newborns and children in different settings: A review of the literature and a consideration about drug safety.  Expert Opin Drug Saf. 2006;  5 703-718
  • 8 Gortner L. Drug utilisation in preterm and term neonates: A neglected research area?.  Klin Padiatr. 2008;  220 219-220
  • 9 Hsien L, Breddemann A, Frobel AK. et al . Off-label use among hospitalised children: Identifying areas with the highest need for research.  Pharm World Sci. 2008;  30 497-502
  • 10 Lindner U, Hilgendorff A, Frey G. et al . Drug utilisation in very preterm infants: Any changes during the past decade?.  Klin Padiatr. 2008;  220 238-242
  • 11 Ohmann C. Clinical studies in pediatrics: Challenges and actual developments.  Klin Padiatr. 2008;  220 221-223
  • 12 Pallás CR, De-la-Cruz J, Del-Moral MT. et al . Improving the quality of medical prescriptions in neonatal units.  Neonatology. 2008;  93 251-256
  • 13 Prandstetter C, Tamesberger M, Wagner O. et al . Verschreibepraxis von Arzneimitteln bei Früh- und Neugeborenen auf einer österreichischen neonatologischen Intensivstation.  Klin Padiatr. 2009;  221 312-317

Korrespondenzadresse

Univ.-Prof. Dr. Bernhard Roth

Bereich Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin

Kinderklinik des Klinikums der Universität zu Köln

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50937 Köln

Email: Bernhard.Roth@uk-koeln.de