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DOI: 10.1055/s-2002-34971
Off-label use in der Neurologie
Off-label Use in NeurologyPublication History
Publication Date:
23 October 2002 (online)
Am 19. März 2002 ist ein wegweisendes Urteil des Bundessozialgerichtes ergangen. Gemäß dieses Urteils ist der off-label use, d. h. die Verschreibung und Anwendung von Medikamenten, die für eine bestimmte Krankheit oder Bedingung keine Zulassung haben, zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich ausgeschlossen. Diese Regelung hat nicht nur die Gefahr eines möglichen Regresses, sondern viel weitgehendere Implikationen. Wenn beispielsweise ein Medikament, das off-label verschrieben wird, zu Nebenwirkungen führt, geht die Produkthaftung und die gesetzliche festgeschriebene Beweislastumkehr automatisch auf den Arzt über, der das Medikament verschrieben hat. Bisher war die Firma, die das Präparat hergestellt hat, haftbar. Ein besonderes Dilemma stellt dar, dass das vom Bundessozialgericht ergangene Urteil diametral einem Urteil des Oberlandesgerichtes Köln aus dem Jahr 1990 widerspricht, wo ein Kollege verurteilt wurde, weil er einen Patienten mit einer Herpesenzephalitis nicht mit Aciclovir behandelte zu einem Zeitpunkt, zu dem diese Substanz für die Behandlung der Herpesenzephalitis noch nicht zugelassen war.
Die Kommission Leitlinien der DGN und die Autoren der einzelnen Leitlinien haben eine Tabelle der von der off-label-Verordnung betroffenen Indikationen und Medikamente mit nachgewiesener Wirksamkeit auf der Basis der evidenzbasierten wissenschaftlichen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie erstellt ( Tab. [1]). Die Kommission ist dankbar, wenn Sie uns weitere Indikationen und Substanzen nennen könnten.
Tab. 1 Liste der von der off-label-Verordnung betroffenen neurologischen Indikationen und Medikamente mit nachgewiesener Wirksamkeit auf der Basis der evidenzbasierten wissenschaftlichen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (ohne Anspruch auf Vollständigkeit); Stand 17.9.2002 Indikation: neuropathische Schmerzen, Trigeminusneuralgien und andere Neuralgien betroffene Wirkstoffe: Oxcarbazepin, Valproat, Lamotrigin, Topiramat, Baclofen, Amantadin, Pimozid, Fluoxetin, Paroxetin, Capsaicin, Lidocain-Plaster betroffene Aut-idem-Präparate: Amitriptylin, Carbamazepin (zugelassen für „Schmerzanfälle”) Indikation: Restless-leg-Syndrom betroffene Wirkstoffe: Dopaminagonisten: Pergolid, Cabergolin, Ropirinol, Pramipexol, Lisurid, Dihydroergocryptin, Bromocriptin; Opioide: Tramadol, Oxycodon, Propoxyphen; Antiepileptika: Carbamazepin, betroffene Aut-idem-Präparate: sämtliche L-Dopa-Präparate außer Restex Indikation: multiple Sklerose betroffene Wirkstoffe: Mitoxantron, Immunglubuline, Cyclophosphamid, Methotrexat betroffene Aut-idem-Präparate: - Indikation: Kopfschmerzsyndrome/Migräne/Spannungskopfschmerz/atypischer Gesichtsschmerz betroffene Wirkstoffe: Imipramin, Doxepin, Clomipramin, Valproat, Topiramat, Fluoxetin, Botulinum, Indometacin betroffene Aut-idem-Präparate: Amitriptylin Indikation: Tremor betroffene Wirkstoffe: Primidon, Gabapentin, Metoprolol, Clonazepam, Clozapin, Botulinum-Toxin, betroffene Aut-idem-Präparate: Propanolol Indikation: Tic-Erkrankungen betroffene Wirkstoffe: Pimozid, Sulpirid, Risperidon, Clonidin, Tiapridex betroffene Aut-idem-Präparate: Indikation: Myasthenie betroffene Wirkstoffe: Azathioprin, Mycophenolat betroffene Aut-idem-Präparate: - Indikation: medikamenteninduzierte Psychosen bei M. Parkinson betroffene Wirkstoffe: atypische Neuroleptika: Quetiapin, Clozapin betroffene Aut-idem-Präparate: - Indikation: Pseudotumor cerebri betroffene Wirkstoffe: Acetazolamid betroffene Aut-idem-Präparate: - Indikation: Hirntumoren (Metastasen, Gliome, seltene Tumoren) betroffene Wirkstoffe: Procarbazin, Etoposid/VP16, Teniposid/VM26, Vincristin, Carboplatin, Cisplatin, Methotrexat Indikation: Stiff-man-Syndrom betroffene Wirkstoffe: Immunglobuline, Methylprednisolon, intrathekales Baclofen betroffene Aut-idem-Präparate: Indikation: motorische Neurorehabilitation, Dysexekutivsyndrome betroffene Wirkstoffe: L-Dopa, Reboxetin betroffene Aut-idem-Präparate: - Indikation: kongenitale Myotnie vom Typ Becker, Paramyotonia congenita betroffene Wirkstoffe: Mexiletin betroffene Aut-idem-Präparate: - Indikation: HIV-1-assoziierte Enzephalopathie betroffene Wirkstoffe: Foscarnet, Cidofovir Indikation: zerebrale Toxoplasmose bei HIV betroffene Wirkstoffe: Atovaquone Indikation: PML bei AIDS betroffene Wirkstoffe: Cidofovir, Topotecan Indikation: PZNS-Lymphom bei AIDS betroffene Wirkstoffe: Ganciclovir, Hydroxyurea Indikation: Myositis betroffene Wirkstoffe: IVIG, Cyclophosphamid, Methotrexat, Ciclosporin Indikation: Myoklonusepilepsie betroffene Wirkstoffe: Piracetam Indikation: neurogene Synkopen betroffene Wirkstoffe: Serotoninwiederaufnahmehemmer, Betablocker, Barbiturate, Clonidin, Indomethacin, Ibuprofen Indikation: Narkolepsie betroffene Wirkstoffe: Stimulanzien: Ephedrin, Pemolin, Mazindol, Selegelin; Diethylproprionhydrochlorid, Dextroamphetamin; antikataplektisch wirksam: trizyklische Antidepressiva außer Clomipramin Indikation: Lambert-Eaton-Syndrom betroffene Wirkstoffe: IVIG
Aus dem Urteil des Bundessozialgerichtes geht aber hervor, dass in Ausnahmefällen eine Verordnung außerhalb zugelassener Indikationen möglich ist.
„Andererseits besteht im medizinischen Alltag offenkundig ein dringendes Bedürfnis nach einem zulassungsüberschreitenden Einsatz von Arzneimitteln, was zeigt, dass das geltende Arzneimittelrecht seiner Aufgabenstellung teilweise nicht gerecht wird. Es bleibt dann dem einzelnen Arzt überlassen, das Medikament - oftmals ohne ausreichende pharmakologische Kenntnis - in eigener Verantwortung und mit dem Risiko der Haftung für daraus entstehende Gesundheitsschäden außerhalb der Zulassung anzuwenden.”
Weiterhin führt das Bundessozialgericht aus: „Die aufgezeigten Defizite des Arzneimittelrechts dürfen nicht dazu führen, dass mit dem Versicherten unverzichtbare und erwiesenermaßen wirksame Therapien vorenthalten bleiben. Solange gesetzliche Regelungen fehlen, die eine Zulassung für weitere Anwendungsgebiete erleichtern und ggf. einen kontrollierten off-label-Gebrauch ermöglichen, kann die Leistungspflicht der Krankenkassen für eine Arzneitherapie außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes deshalb nicht von vornherein verneint werden. Sie kommt jedoch aus den dargestellten Gründen nur ausnahmsweise unter engen Voraussetzungen in Betracht.
Nachstehende Bedingungen müssen erfüllt sein:
Es handelt sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer beeinträchtigende) Erkrankung, bei der keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) zu erzielen ist.
Diese Bedingungen wären erfüllt, wenn außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.”
Hier sind die Neurologen in der glücklichen Situation, dass wir im Moment über 68 Leitlinien verfügen, die am 25. September 2002 beim Neurologen-Kongress in Mannheim in Buchform publiziert wurden (Tab. [2]).
Tab. 2 Leitlinien der DGN, die in Buchform zum Neurologenkongress 2002 vorliegen (ein Teil der Autoren war erst später zur Erstellung einer Leitlinie aufgefordert worden); Stand 17.9.2002 Thema der Leitlinie verantwortlicher Erstautor im Buch abgedruckt ADEM Schwarz, Mannheim + Alkoholdelir Schuchardt, Lahr + Alzheimer, Demenz und Lewy Bodies Wallesch, Magdeburg + Angiome, zerebrale Zeumer, Hamburg Aneurysma, nichtrupturiert Steinmetz, Frankfurt + Aphasie Ziegler, München Armplexusläsion Reiners, Würzburg Arteriitis temporalis Hetzel, Freiburg Ataxien Klockgether, Bonn + Augenmuskelläsion, peripher Hopf, Mainz + Blutung, zerebrale (außer Angiom) Schwab, Heidelberg + Carpaltunnelsyndrom Stöhr, Augsburg + Chorea Töpper, Aachen + Cluster-Kopfschmerz May, Regensburg + Crampi Lindemuth, Homburg + Creutzfeldt-Jakob Zerr, Göttingen + Demenz, vaskuläre Hamann, München + Demenz, frontotemporale (Pickkomplex) Sliwka, Hamburg + Dissektion Sitzer, Frankfurt Dystonie Volkmann, Kiel + Dystrophie, myotone Schneider, Würzburg + erstmaliger epileptischer Anfall/ Hufnagel, Essen + Epilepsie, Status Kurthen, Bonn + Epilepsie Elger, Bonn + Fazialislähmung Hopf, Mainz + FSME Kaiser, Pforzheim + Gefäßmissbildung, spinale Thron, Aachen Gesichtsschmerz, atypischer Sommer, Würzburg + HIV-Neuro Frau Arendt, Düsseldorf + Insomnie Mayer, Treysa + Ischämie, akute zerebrale Hacke, Heidelberg + Ischämie, zerebrale Prävention Diener, Essen + Lagerungsschwindel Dieterich, Mainz Lateralsklerose, amyotrophe Ludolph, Ulm + Liquorunterdrucksyndrom Strupp, München Lymphom, zerebrales Schlegel, Bonn + Meningoenzephalitis, eitrige Pfister, München Meningoenzephalitis virale Prange, Göttingen Meningoenzephalitis, nicht eitrig oder viral Schmutzhard, Innsbruck + Meningeosis, carcinomatosa Weller, Tübingen + Metastasen, zerebrale Weller, Tübingen + Migräne Diener, Essen + mitochondriale Erkrankungen Schröder, Bonn + multiple Sklerose ohne RBN und ADEM Rieckmann, Würzburg + Myalgie + Polymyalgia rheu. Pongratz, München + Myasthenia gravis Melms, Tübingen Myelopathie, zervikale Bengel, Ulm + Myoklonien Topka, München + Myositis Goebels, München + Narkolepsie Gerloff, Tübingen + Neuroborreliose Rauer, Freiburg + Neurolues Prange, Göttingen Neuralgie, postzosterische Baron, Kiel + Neuritis, AIDP, CIDP Koeppen, Essen + PNP, Diagnostik bei Neundörfer, Heuss, Erlangen + PNP bei Kollagenosen und Vaskulitiden Sommer, Würzburg + Neuritis vestibularis Strupp, München Normaldruckhydrozephalus Paulus, Göttingen paraneoplastische Syndrome Voltz, München + Parkinson-Syndrom Oertel, Marburg Peronaeuslähmung Gerwig, Essen + Pseudotumor cerebri Villringer, Berlin Querschnittlähmung Dietz, Zürich + Rehabilitation, motorische nach Schlaganfall Nelles, Essen + Restless legs Trenkwalder, Göttingen + Retrobulbärneuritis Rieckmann, Würzburg SHT leichtes Keidel, Bayreuth + Schädel-Hirn-Trauma Kampfl, Innsbruck + Schlaf-Apnoe-Syndrom Gerloff, Tübingen + Schleudertrauma Kügelgen, Koblenz Schwindel außer Lagerung und Neuritis Brandt, München Sinus-Venenthrombose Busse, Minden Stiff-person-Syndrom Meinck, Heidelberg Spannungskopfschmerz Straube, München + Spastik Noth, Aachen + Subarachnoidalblutung Haberl, Harlaching + SAB ohne Aneurysmanachweis Haberl, München + Synkope Hilz, Erlangen + globale Amnesie, transiente (TGA) Klötzsch, Aachen + Tics Topka + Tremor Deuschl, Kiel + Trigeminusneuralgie Förderreuther, München + Tumoren, hirneigene Bogdahn, Regensburg Ulnarisneuropathie Stöhr, Augsburg + Vaskulitis, zerebrale Berlit, Essen + Wilson, Morbus Hefter, Düsseldorf Wurzelkompressionssyndron, zervikal Bischoff, München + Wurzelkompressionssyndrom, lumbosakral Bischoff, München +
Diener HC, Hacke W für die Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie: Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie, Georg Thieme Verlag, Stuttgart.
Seit Anfang Oktober stehen die fertiggestellten Leitlinien auch auf der Webpage der Deutschen Gesellschaft für Neurologie unter www.dgn.org und auf der Webpage der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften unter der Internet-Adresse www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF/ zum Herunterladen und Ausdrucken zur Verfügung. Ich bin zuversichtlich, dass die noch fehlenden 22 Leitlinien bis zum Jahresende ebenfalls zur Verfügung stehen werden.
Prof. Dr. H. C. Diener
Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Essen
Hufelandstraße 55
45147 Essen