Psychiatr Prax 2008; 35(2): 94-98
DOI: 10.1055/s-2007-986190
Kritisches Essay

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Priorität für atypische Neuroleptika

Kommentar zum Beitrag von Dose M. Priorität für Atypika? Aktuelle Studien rücken einiges zurecht. Psychiat Prax 2007; 34: 46 - 49Priority for Atypical AntipsychoticsComments on the Article by Dose M. Priority for Atypicals? Current Studies Clarify Some Aspects. Psychiat Prax 2007; 34: 46 - 49Jürgen  Fritze, Josef  Aldenhoff, Frank  Bergmann, Gabriel  Eckermann, Wolfgang  Maier, Hans-Jürgen  Möller, Wolfgang  Gaebel
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06 November 2007 (online)

Es ist zu begrüßen, dass M. Dose [1] in seinem Beitrag feststellt: „Keinem Patienten, der von herkömmlichen Antipsychotika nicht profitiert oder unter nicht therapierbaren Nebenwirkungen leidet, soll und darf aus finanziellen Gründen eine Behandlung mit besser wirksamen oder verträglichen Medikamenten vorenthalten werden”. Allerdings legt M. Dose uns - indem er unsere Stellungnahme [2] zur CATIE-Studie [3] aufgreift - Worte in den Mund, die nicht geschrieben wurden: An keiner Stelle haben wir „nahe gelegt, den Einsatz herkömmlicher Antipsychotika auf seltene Ausnahmefälle zu begrenzen”. Vielmehr haben wir ausdrücklich als Ausdruck einer differenzierten Auswahl der verschiedenen Antipsychotika gewertet, dass der Anteil der modernen Neuroleptika im Jahr 2003 in Deutschland mit 31 % (2005: 38,4 %) der verordneten Tagesdosen von Neuroleptika ungefähr halb so hoch wie in den USA lag. Allerdings haben wir keinen Anlass gesehen und sehen auch derzeit keinen, wegen der Ergebnisse von CATIE die „Priorisierung moderner Antipsychotika in Leitlinien zu modifizieren”. Priorisierung bedeutet nicht, konventionelle Antipsychotika „auf Einzelfälle zu begrenzen”. Vielmehr ist - wie dargelegt [2] - entscheidend, den Patienten über die Nutzen-Risiko-Relation zu informieren, sodass er eine autonome Entscheidung treffen kann. CATIE war und ist wegen methodischer Mängel [2] nicht geeignet, die Tatsache geringerer extrapyramidal-motorischer Nebenwirkungen und hier insbesondere der Spätdyskinesien unter modernen Antipsychotika zu falsifizieren.

M. Dose behauptet, wir hätten die metabolischen und hormonellen Risiken der modernen Antipsychotika „völlig ausgeblendet”. Ausdrücklich wurde aber erwähnt [2], dass in CATIE unter Olanzapin 30 % der Patienten mehr als 7 % Gewicht zunahmen mit Erhöhungen von HbA1C, Cholesterin und Triglyzeriden. Wenn man Gewichtszunahme und metabolisches Syndrom bzw. Hyperprolaktinämie gegen die extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen abwägen will, so spricht noch mehr für die Priorisierung der modernen Antipsychotika: alle konventionellen Neuroleptika induzieren eine Hyperprolaktinämie [4]. Die modernen Antipsychotika bilden keine einheitliche Gruppe; unter Amisulprid und Risperidon ist der Prolaktinanstieg am höchsten, während unter anderen modernen Antipsychotika (wie Aripiprazol) Prolaktin unbeeinflusst bleibt. Die Prävalenz der Hyperprolaktinämie liegt unter konventionellen Neuroleptika und Risperidon bei 60 % (Frauen) bzw. 40 % (Männer) [5].

Alle konventionellen Antipsychotika können - mit großer interindividueller Variabilität - zu Gewichtszunahme führen [6] [7] [8]. Gewichtszunahme ist Risikofaktor für das metabolische Syndrom, beide stellen bedeutsame kardiovaskuläre Risikofaktoren dar. Die modernen Antipsychotika wurden systematischer untersucht. Am größten ist hier die Gewichtszunahme unter Clozapin und Olanzapin, bei einigen fehlt sie. In der Risikoabwägung muss berücksichtigt werden, dass sich die Gewichtszunahme mit einfachsten technischen Mitteln erfassen lässt, sodass man ggf. frühzeitig durch Umstellung intervenieren kann. Gewichtszunahme (und Hyperprolaktinämie) sind reversibel, wenn das ursächliche Agens abgesetzt wird.

Demgegenüber sind Spätdyskinesien unbehandelbar und allenfalls partiell und erst langfristig reversibel [9] [10]. Mit Spätdyskinesien ist möglicherweise eine erhöhte Mortalität assoziiert [11]. Damit kommt den Spätdyskinesien in der Risikoabwägung besonderes Gewicht zu. Die 1-Jahres-Studie von Rosenheck et al. [12] als Beleg anzuführen, Olanzapin und Haloperidol (jeweils 5 - 20 mg/Tag, in den letzten 6 Monaten der 12-monatigen Behandlung 15,8 bzw. 14,3 mg/Tag, 96 % Männer, Haloperidol in prophylaktischer Kombination mit Benztropin) seien bezüglich symptomatischer Besserung, extrapyramidaler Symtome und Lebensqualität ebenbürtig, ist kurzschlüssig und kann anderslautende Studienergebnisse nicht falsifizieren. Zwar wird die Zusammenfassung der Autoren korrekt zitiert, dennoch aber ist die Studie anfällig für Fehler 2. Art. Die Studie erreichte nicht die gemäß Power-Kalkulation angestrebte Fallzahl (309 statt 600), wobei die Power-Kalkulation allerdings den Krankheitskosten galt. 60,7 % brachen unter Haloperidol vorzeitig ab, 54,1 % unter Olanzapin (p = 0,24). 10,0 % brachen unter Haloperidol wegen unerwünschter Ereignisse vorzeitig ab gegenüber 4 % unter Olanzapin (p = 0,08). Akathisie war unter Olanzapin signifikant geringer ausgeprägt (p < 0,001). Bis zum Zeitpunkt des Abbruchs waren Spätdyskinesien unter Olanzapin signifikant geringer ausgeprägt als unter Haloperidol (p = 0,048), im Gesamtkollektiv ergab sich ein Trend (p = 0,17). Von Olanzapin kann man nicht auf alle modernen Antipsychotika generalisieren. Die Studie kann nicht den Befund anderer Langzeitstudien widerlegen, wonach die 1-Jahres-Inzidenz der Spätdyskinesie unter Olanzapin 17-fach geringer als unter Haloperidol (jeweils ca. 14 mg/Tag) war (0,5 % vs. 7,4 %) [13].

M. Dose versucht das unter modernen Antipsychotika geringere Risiko von Spätdyskinesien des Weiteren mit der Studie zur Relapseprophylaxe mit Risperidon im Vergleich zu Haloperidol [14] zu falsifizieren, indem er auf die dort gefundene jährliche Inzidenz von 2,7 % unter Haloperidol hinweist; er vernachlässigt dabei, dass in dieser Studie die Inzidenz unter Risperidon bei 0,7 % lag. Analog zitiert M. Dose die Metaanalyse von Correll et al. [15] unvollständig, wenn er nur die gewichtete mittlere jährliche Inzidenz von Spätdyskinesien unter modernen Antipsychotika mit 2,1 % angibt, die dort gefundene gewichtete mittlere jährliche Inzidenz unter Haloperidol mit 5,4 % aber unterschlägt.

Wenn M. Dose die Metaanalyse von Mishara u. Goldberg dahingehend zitiert, der neurokognitive Vorteil atypischer Neuroleptika sei womöglich nicht so groß wie ursprünglich angenommen, so versäumt er den Hinweis, dass in dieser Metaanalyse [16] nur konventionelle Neuroleptika untersucht wurden, also keine vergleichenden Studien. Eine jüngere Metaanalyse [17] bestätigt einen signifikanten Vorteil moderner Antipsychotika gegenüber konventionellen (7 Studien, n = 939), mit allerdings geringer Effektstärke (ES = 0,17).

Auf die methodischen Schwächen der Studien braucht hier nicht eingegangen zu werden. Wenn die DGPPN-Leitlinie und auch internationale Leitlinien dennoch hieraus eine Level-A-Empfehlung für den Einsatz moderner Antipsychotika ableiten, so steht dahinter ein Bewertungsprozess, der auch einem geringen Effekt klinische Relevanz beigemessen hat. Dahinter steht die letztlich auch ethische Frage, ob man (z. B. aus ökonomischen Gründen) Patienten einen Therapievorteil vorenthalten soll, nur weil er klein ist. Das wäre jedenfalls in Deutschland ein Novum (würde z. B. bedeuten, Lebensverlängerung um 1 Monat wäre das Geld nicht wert).

Die modernen Antipsychotika stellen keine homogene Gruppe dar. Das haben wir auch nie behauptet, im Gegenteil die Notwendigkeit der Individualisierung betont. Wenn M. Dose mit [18] betont, in der Mehrzahl der Studien zum Vergleich moderner Antipsychotika mit Haloperidol habe die Dosis von Haloperidol oberhalb der empfohlenen Dosis gelegen, so hat er - aus heutiger Sicht - recht. Diese Erkenntnis und Kritik ist nicht neu [19]. Wir haben nicht zu vertreten, warum zurzeit der Durchführung dieser Studien diese hohen Haloperidoldosen verwendet wurden. Tatsächlich überhöhte Haloperidoldosen beweisen aber nicht, dass bei geringerer Dosis die Vorteile moderner Antipsychotika bezüglich des Risikos von Spätdyskinesien nicht bestehen würden. Das lässt sich ausschließlich durch methodisch adäquate, neue Studien mit adäquater Dosierung beweisen. Solche Studien sind durchgeführt worden, wenn auch in bisher geringerer Zahl, und haben auch bei adäquater Dosierung die Vorteile bestätigt ([20]; z. B. modellhaft für Sertindole [21]). Die Metaanalyse von Davis et al. [22] hat das Dosierungsproblem berücksichtigt, ohne dass die Vorteile moderner Antipsychotika dabei falsifiziert worden wären.

M. Dose führt als weiteren vermeintlichen Beweis für die fehlende Überlegenheit moderner Antipsychotika bezüglich Wirksamkeit und Verträglichkeit die Studie von Tiihonen et al. [23] an. Hierbei handelt es sich um die Auswertung einer Datenbank über Routinebehandlungsfälle mit den zweifellos bedeutsamen Zielvariablen Behandlungsabbruch, Rehospitalisierung und Mortalität. Die geringste Rate an Behandlungsabbrüchen und Rehospitalisierungen hatte Perphenazindepot gefolgt von Clozapin und Olanzapin, während Risperidon nicht signifikant besser als Haloperidol abschnitt. Die Autoren selbst betonen, dass dieses Ergebnis der Schwäche jeder Anwendungsbeobachtung zuzuschreiben sein könnte, nämlich der Selection bias. Da nur die genannten drei modernen Antipsychotika untersucht wurden, wird kaum auf alle modernen Antipsychotika generalisiert werden können. Der Vergleich eines Depotpräparates mit oralen Medikationen ist kaum fair, da die Möglichkeit nicht auszuschließen ist, dass Depotneuroleptika in der Langzeittherapie wirksamer als oral eingenommene Neuroleptika sind [24] [25]. Die Ergebnisse können sehr wohl als unterstützende Evidenz gewertet werden, dass jedenfalls Olanzapin (und Clozapin) in der Routineanwendung dem Haloperidol zu bevorzugen ist. Einem ähnlichen Ansatz folgte die Studie von Ascher-Svanum et al. [26] unter Einschluss auch von Quetiapin und Ziprasidon, allerdings mit dem abweichenden Ergebnis, dass die Zeit bis zum Therapieabbruch unter modernen Antipsychotika (bis auf Ziprasidon) signifikant länger als unter hochpotenten konventionellen Neuroleptika war, im Vergleich zu schwach- und mittelpotenten konventionellen Neuroleptika nur unter Clozapin, Olanzapin und Risperidon. Aber diese Studie war industrieabhängig.

Die von M. Dose ins Feld geführte CUtLASS (Cost Utility of the Latest Antipsychotic Drugs in Schizophrenia Study; [27]) entspricht von Ziel und Ansatz CATIE mit aber neuen methodischen Schwächen, die eine schlüssige Interpretation der Ergebnisse unmöglich machen. Die Patienten wurden entweder auf irgendein konventionelles oder irgendein modernes Antipsychotikum randomisiert. 60 % der Patienten in der „konventionellen” Gruppe erhielten Sulpirid, also eines der „atypischsten” unter den sog. konventionellen Neuroleptika. Im Behandlungsverlauf über 52 Wochen wechselten fast 50 % vom konventionellen auf ein modernes Antipsychotikum, umgekehrt 33 %. Wenn CUtLASS 1 irgendetwas beweist, so ist es die Notwendigkeit der Individualisierung in der Praxis. Die unterschiedliche Häufigkeit der Umstellung legt gerade nahe, dass es rationaler ist, zunächst mit einem modernen Antipsychotikum zu beginnen. Die offene, randomisierte Studie CUtLASS 2 [28] beweist im gegebenen Zusammenhang gar nichts, sondern bestätigt, dass Clozapin bei therapieresistenten Patienten den anderen modernen (und konventionellen) Antipsychotika überlegen ist, was bereits in der Vergangenheit nicht ernsthaft bezweifelt wurde [29].

M. Dose versäumt, in seine Überlegungen zur Wirksamkeit und Verträglichkeit die Relapseprophylaxe einzubeziehen, die eigentlich relevanter als die Akuttherapie ist. Nicht nur Clozapin war dem Haloperidol in randomisierten, doppelblinden Studien überlegen, sondern auch Risperidon (3 Studien) und Olanzapin (2 Studien), Sertindol (1 Studie), Amisulprid (1 Studie), Ziprasidon (1 Studie), Aripiprazole (1 Studie). Für Quetiapin liegt keine derartige Studie vor [30] [31]. Diese Studien haben allerdings nur die orale Applikation geprüft, methodisch aussagefähige Vergleichsstudien zu Depotformulierungen fehlen.

M. Dose argumentiert, die sorgfältige Analyse von Heres et al. [32] beweise, dass die Vorteile moderner Antipsychotika aus „Bewertungs-Bias” resultierten. Heres et al. berücksichtigten aber nur Studien, die moderne Antipsychotika untereinander verglichen (und nicht gegen konventionelle). Daraus lassen sich allenfalls implizit hypothetische Rückschlüsse ziehen, dass die von Heres et al. identifizierten Quellen für Bias auch die Ergebnisse von Studien zum Vergleich moderner gegen konventionelle Antipsychotika beeinflusst haben könnten. Einflüsse auf die Ergebnisse in Abhängigkeit vom Sponsor sind auch aus anderen Indikationsgebieten bekannt [33]. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, den von der Industrie gesponsorten Studien sei spezifisch zu misstrauen. Vielmehr bedarf jede Studie einer kritischen Analyse ihrer Methodik und Präsentation. Wie Heres et al. sehr zutreffend ausführen, sind auch industrieunabhängige Studien anfällig für Bias und insbesondere methodische Schwächen.

Mit Rosenheck et al. [12] argumentiert M. Dose, wenn denn moderne gegenüber konventionellen Antipsychotika Vorteile in der extrapyramidalmotorischen Verträglichkeit böten, dann ließe sich dies durch Kombination des konventionellen Antipsychotikums mit einem Anticholinergikum bei geringeren Kosten ebenso erzielen. Das könnte für die akuten extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen zutreffen [12]. Zwar erhöhen Anticholinergika nicht das Risiko von Spätdyskinesien (wenn sie diese auch demaskieren und verstärken), aber sie mindern dieses Risiko auch nicht, weshalb der geringeren Inzidenz unter modernen Antipsychotika besondere Bedeutung zukommt.

Gardner et al. führen die Abwägung gegen die Kosten ein. M. Dose suggeriert dies aufgreifend letztlich eine ökonomisch motivierte Priorisierung konventioneller Antipsychotika. Eine ökonomisch begründete Priorisierung muss aber auf konkreten pharmakoökonomischen Daten basieren, die von M. Dose nicht einmal erwogen werden. Eine ökonomisch motivierte Priorisierung entspricht aber auch nicht der deutschen Rechtslage: „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen haben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen „Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen” (§ 2 SGB V). Erst nachrangig gilt das Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V): „Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten”. Um die Abwägung zu objektivieren, hat der Gesetzgeber mit dem GKV-WSG die Kosten-Nutzen-Bewertung eingeführt (§ 35b SGB V). Sie kann nicht dem subjektiven Ermessen von Vertragsparteien (in Zielvereinbarungen gemäß § 84 [7a] SGB V) oder einzelner Meinungsbildner oder gar des einzelnen Arztes überlassen bleiben. Bis dahin darf nur die medizinische Evidenz entscheiden.

Bei aller wissenschaftlichen Divergenz wissen wir abweichende Meinungen wie die von M. Dose sehr zu schätzen, weil dies unser aller Bemühungen um eine bessere Behandlung unserer Patienten letztlich positiv beeinflusst.

Literatur

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Prof. Dr. med. Jürgen Fritze

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